Читать книгу Die Horst Bieber Krimi Sammlung 2021: Krimi Paket 8 Romane auf 1500 Seiten - Horst Bieber - Страница 12

Erster Mittwoch

Оглавление

Der Brief war eingetroffen, ein dicker Umschlag, den er hastig aufschlitzte. Vier Seiten, eine schwer zu entziffernde Handschrift, durch das Kopieren nicht eben lesbarer geworden.

Kassel, den 10. Oktober 1986.

Liebe Sonja,

nach mehr als zehn Jahren schreibe ich Dir wieder einmal und kann nur hoffen, dass Du diesen Brief auch erhältst. Deine jetzige Anschrift kenne ich nicht, ich habe es über die 'Kerze' versucht, aber da erinnerte sich niemand an Dich, und der Mann, der in Deiner alten Wohnung lebt, hatte den Namen Sonja Wachsmann noch nie gehört. Nun probiere ich es über die Firma, der die 'Kerze' gehört, und der Inhaber sagte mir am Telefon, er werde sein Bestes versuchen. Wenn jeder es tut und den Brief weiterschickt, habe ich vielleicht Glück.

Liebe Sonja, mir geht es nicht gut. Vor vier Monaten habe ich einen schweren Autounfall gehabt, mein linkes Bein wird, wie die Ärzte sagen, steif bleiben, und die Schmerzen beim Laufen wollen auch nicht aufhören. Ich bin ein Krüppel geworden, so muss man es wohl sagen, dem das Schicksal nicht nur zwölf Jahre, sondern nun auch die Bewegungsfreiheit gestohlen hat.

Beides werde ich nicht wiederbekommen, und die Wochen im Krankenhaus, dann im Sanatorium habe ich dazu benutzt, über mein Leben nachzudenken. Meinen Herzenswunsch, diesen verfluchten deutschen Unrechtsstaat umzukrempeln, zu revolutionieren, zur Gerechtigkeit zu zwingen, habe ich begraben, schweren Herzens, wie ich gestehe, und voller Wut über das Schicksal, das ausgerechnet mich zu seinem doppelten Opfer ausgesucht hat. Das heißt: Ich nehme Abschied von der Politik, wie ich sie verstehe, und versuche, ein normales Leben zu führen. Mit all dem kleinen, privaten Glück, über das ich früher nur gelacht und gehöhnt habe.

Und dieses Leben möchte ich nicht allein führen. Du bist die einzige Frau, die ich nach Edith geliebt habe, und wenn Du den Mut fändest, unsere gemeinsamen Wochen und das hässliche Ende zu vergessen, mir die Chance zu geben, noch einmal mit Dir zu beginnen, dann wäre ich glücklich und zufriedener als in all den vergangenen Jahren. Ich möchte Dich wiedersehen und bitte Dich herzlich: Gib mir eine Chance, etwas wiedergutzumachen.

Viele herzliche Grüße, Dein Ludwig."

Unschlüssig drehte er die Blätter hin und her. Nicht gerade ein überströmender Liebesbrief, aber das besagte wenig. Was er wollte, hatte er klar ausgedrückt.

Sie hatte ihren Maschine geschriebenen Antwortbrief ebenfalls in einer Kopie beigelegt, die er kaum entziffern konnte.

Hamburg, den 2. September 1987

Lieber Ludwig,

Dein Brief ist nach einem langen Irrweg und vielen Stationen erst vorgestern bei mir eingetroffen. Einen Tag lang habe ich nicht gewagt, ihn zu öffnen, aber jetzt möchte, nein, muss ich Dir sofort antworten.

Zuerst: Ich danke Dir vielmals. Für den Brief und Dein Vertrauen. Ich habe Dich auch nicht vergessen, aber ich müsste lügen, wenn ich schriebe, dass ich Dich noch liebe. Unser Abschied hat mir damals sehr wehgetan, ich bin in eine andere Stadt gezogen, habe dort einen Mann kennengelernt, mit dem ich seit 1980 verheiratet bin. Wir haben zwei Kinder, einen sechsjährigen Jungen und ein vierjähriges Mädchen, an denen mein Mann und ich sehr hängen. Ich liebe meinen Mann, Ludwig, und das ist der Hauptgrund, warum ich Dich nicht mehr treffen möchte. Was war, ist verziehen, das musst Du mir glauben, aber es ist auch abgeschlossen. Es gibt keinen neuen Anfang zwischen uns.

Sei mir nicht böse, dass ich es so hart ausdrücke! Dein Hass auf alles hat mich lange Zeit verfolgt, Du hast mir damals Angst eingejagt, die schließlich meine Zuneigung erstickt hat. Dein Unfall und die Folgen tun mir aufrichtig leid, aber ich will mit diesem Teil meiner Vergangenheit nichts mehr zu tun haben.

Wir werden uns nicht mehr sehen.

Leb' wohl, Ludwig, und alles Gute.

Das war deutlich. Aber es fehlte noch etwas, und deswegen faltete er neugierig die beiden mit der Hand geschriebenen Blätter auf. Ein teures, festes Briefpapier, mit aufgedrucktem Absender einschließlich Telefonnummer.

Sehr geehrter Herr Kramer,

anbei schicke ich Ihnen also, wie versprochen, die Briefe resp. Durchschläge. Baldurs Brief ist lange unterwegs gewesen. Ich habe bei meinem Antwortschreiben meine Adresse nicht angegeben, weil ich nicht wollte, dass er eines Tages unerwartet vor meiner Haustür steht, und ich bitte Sie eindringlich, Baldur meine Anschrift zu verschweigen, sollten Sie ihn finden.

Meine Antwort habe ich an die Adresse geschickt, die auf dem Briefumschlag stand: Ludwig Baldur, Laufferhöhe 22, 3500 Kassel 16. Ludwig hat nicht mehr geantwortet, seitdem habe ich nichts mehr von ihm und nichts mehr über ihn gehört.

Ich hoffe, Sie verstehen es richtig, wenn ich hinzufüge: Ich möchte auch von Ihnen nichts mehr hören.

Ihre Sonja Markowski."

Auch das war deutlich; nachdenklich heftete er die Briefe in die Akte ein und saß eine ganze Weile stumm an seinem Schreibtisch. Das Fenster zum Lichtschacht stand weit offen, überall rasselten Schreibmaschinen oder Drucker, summten, flöteten oder schrillten Telefone, selbst einzelne Satzfetzen waren zu verstehen. Pünktlich zu Wochenbeginn hatten die Kaninchen im Bau begonnen, die Pfennige für die Karotten zusammenzukratzen.

Leise seufzend stand er auf und schloss das Büro ab.

Bis nach Kassel brauchte er viereinhalb Stunden, das Fahren machte keinen Spaß mehr, schonte allenfalls den vierten Gang. Dann brauchte er eine Stunde, bis er in Wilhelmshöhe ein kleines Hotel fand, noch einmal dreißig Minuten, ein Geschäft aufzustöbern, in dem er einen Stadtplan kaufen konnte, und ziemlich genau um 18 Uhr stand er vor dem dreistöckigen Haus Laufferhöhe 22. Die gelben Klinker waren grau angelaufen, und die losen, zum Teil gesprungenen Platten des Zugangs schwankten unter seinem Gewicht.

Die Namen auf den vier Klingelschildchen lauteten von unten nach oben Ritter, Drebusch, Ohkamp und Schliebeck. Auf gut Glück klingelte er im Parterre.

Der junge Mann sah ihn freundlich an, machte aber keine Anstalten, ihn in die Wohnung zu lassen.

"Guten Abend, mein Name ist Kramer, Rolf Kramer. Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber ich suche einen Herrn Baldur, Ludwig Baldur, der 1986 hier gewohnt hat."

"Tut mir leid, aber wir wohnen erst seit acht Monaten hier."

Auch Drebusch, Oskar Drebusch, wie er den Gruß erwiderte, musste passen: "Den Namen habe ich noch nie gehört, Herr...wie war doch gleich...?"

"Kramer. Vielen Dank, Herr Drebusch."

Dritter Stock, Hans-Werner Ohkamp, Ende fünfzig, etwas dicklich, gerötete Nase, mit einer pfiffigen Miene, die auch hinter der Ratlosigkeit durchschimmerte: "Baldur? Tut mir Leid, nie gehört...und 1986? Tja, da habe ich hier schon gewohnt."

"Merkwürdig."

"Finde ich auch. Ludwig Baldur?"

"Ja. Damals war er 54 Jahre alt, ach ja, und er hatte nach einem Unfall ein steifes Bein. Links, ja, ein steifes linkes Bein."

"Mich laust der Affe! Sie meinen Herrn Lambert?"

"Lambert?"

"Ja, sicher, Sie müssen Lambert meinen - richtig, der hieß Ludwig mit Vornamen, Ludwig Lambert, also, ich fand, da hatten seine Eltern nicht viel...na, wie auch immer, der war so alt und hatte einen Autounfall und danach ein steifes Bein."

"Das wäre - hören Sie, Herr Ohkamp, hätten Sie ein paar Minuten Zeit für mich?"

Der Pfiffikus zog eine überschlaue Grimasse, warf einen Blick über die Schulter in die Wohnung und senkte die Stimme: "Nicht hier, Herr Kramer. Wenn Sie aus dem Haus kommen, nach rechts, an der nächsten Ecke ist eine Kneipe, der Landgraf, da sind wir ungestörter als hier..."

Wie zur Bestätigung nörgelte in der Küche eine Frauenstimme los: "HaWe, wo bleibst du denn?"

Der "Landgraf" war eine gemütliche und gut besuchte Nachbarschaftskneipe; Kramer wartete geduldig, bis sich HaWe bei seiner besseren, jedenfalls tonangebenden Hälfte einen kleinen Ausgang erschwindelt hatte. Weil er kein Bier trinken wollte, bestellte er Wasser und etwas zu Essen, sein Magen knurrte nach einem langen Tag und forderte sein Recht.

Ohkamp grüßte jovial in die Runde, er war hier Stammgast, die Bedienung brachte ohne Aufforderung ein großes Bier und einen doppelten Schnaps, und damit war die Frage geklärt, wie er zu seiner rötlichen Nase gekommen war.

"Meine Frau... verstehen Sie... manchmal stören die Frauen einfach."

Kramer grunzte unverbindlich. Ohkamp würde viel reden, wenig sagen und eine Menge Tratsch und Klatsch erzählen.

"Danke, Marlies... so, dann mal zum Wohl, Herr Kramer."

Die Schnelligkeit, mit der er beide Gläser leerte, verdiente Bewunderung für seine Leber.

Ja, ja, das war Lambert, obwohl - der hatte sich mächtig verändert; Kramer steckte das Jugendbild von Ludwig Baldur unauffällig wieder ein und ließ Ohkamp quatschen. Lambert war Ende 1980 in das Haus eingezogen, in die Parterre-Wohnung, ein schweigsamer, nicht sehr umgänglicher Mann, der keinen Wert auf Bekanntschaften oder gemeinsame Kneipengänge legte. Was er beruflich so trieb, wurde nicht ganz klar, er hatte mal angedeutet, er sei Gebietsrepräsentant einer Agentur, die mehrere Firmen vertrat, und was darunter genau zu verstehen war, hatte sich keiner der Mieter vorstellen können. Aber Lambert ging morgens so gegen neun Uhr aus dem Haus, kam abends zu unregelmäßigen Zeiten zurück, fuhr immer ein großes Auto und schien keine Geldsorgen zu kennen. Richtig, er war auch viel unterwegs, und sie hatten sich alle gewundert, dass er weder den Drebuschs noch ihnen seine Wohnungsschlüssel gab, nur so für alle Fälle. Ab und zu bekam er Besuch von mehreren Männern, für eine Stunde oder so, und die kamen, nach den Kennzeichen ihrer Wagen zu schließen, aus der ganzen Bundesrepublik.

'Sieh mal an', dachte Kramer belustigt und wollte Ohkamps demonstrativen Blick auf seine leeren Gläser nicht länger ignorieren. Marlies war schon unterwegs. Neugierige Nachbarn wie Ohkamp verabscheute er einerseits und brauchte sie andererseits für seine Arbeit.

Frauen tauchten ganz selten auf, und wenn, dann benahmen sie sich ganz so wie Klinkenputzerinnen, alte und junge, meist junge, nun ja, er würde sagen, etwas aufgedonnert. Ganz anders als Lambert, der immer sehr solide aussah, Anzug, weißes Hemd, Krawatte. Erfolgreicher Geschäftsmann eben - einen Moment stierte Ohkamp verbittert in sein Bierglas.

Also, er würde nicht darauf wetten, dass in den ganzen Jahren eine Frau über Nacht in der Parterre-Wohnung geblieben war. Nein, keine. Was ja nichts heißen musste, Lambert reiste viel, und was in den Hotel-Nächten geschah - na schön. Wie auch immer.

Seine Stimme wurde leiser, sein Grinsen schmieriger, und Kramer begriff, dass HaWe so gut wie nichts vertrug. Hoffentlich hatte er seine Geschichte beendet, bevor der Alkohol sein Gedächtnis abschaltete.

Ja, und dann dieser Unfall. Das war schon seltsam - also, eines Abends klingelte eine junge Frau bei ihnen. Ein hübsches Ding, ein bisschen winzig für seinen Geschmack, aber sehr energisch und verdammt kurz angebunden. Sie heiße Silke Glas, sei die Sekretärin von Ludwig Lambert, der vor zwei Tagen einen schweren Verkehrsunfall gehabt habe und nun im Elisabeth-Krankenhaus liege, sie müsse einige Sachen aus Lamberts Wohnung holen und würde sich hier jetzt häufiger herumtreiben, weshalb sie sich vorstellen wolle. Sprach's, lehnte ein Bier ab und sauste davon.

"Den Namen haben Sie richtig behalten?"

Über die Fähigkeit, zweifelnde Untertöne zu verstehen, war HaWe auf Bier und Schnaps bereits hinweggeschwommen.

"Na sicher doch. 'Glas', sagte das Luder, 'wie durchsichtig.' Und das war sie nun wirklich nicht. Und Silke hieß meine damalige Freu...hm, eine gute Bekannte."

Weil Kramer so verständnisvoll zwinkerte, wie sich das unter Männern gehörte, fuhr HaWe freudig fort. Silke Glas kam tatsächlich häufiger in die Parterre-Wohnung, immer in Eile. Zwei- oder dreimal brachte sie einen Mann mit, der vor der Tür im Auto auf sie wartete, einmal auch mit ihr in die Wohnung ging. Ein komischer Typ, Ohkamp verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Martin hieß er, Martin Wolter oder so ähnlich, Ohkamps bessere Hälfte hatte die beiden einmal gesprochen, als der junge Mann zu ihr in den zweiten Stock hochkam, höflich nach Werkzeug fragte und sich dabei vorstellte.

Eines Sonntags siegte die Neugier über seine Bequemlichkeit - so übersetzte sich Kramer das Hin- und Hergequatsche -, er dackelte ins Elisabeth-Krankenhaus und traf einen noch schlechter als üblich gelaunten Lambert im Gipsverband an, der ihn nach fünf Minuten vor die Tür setzte.

Dann erzählte die Hübsche, dass Lambert in ein Sanatorium gefahren sei. Zwei Monate? Oder drei?

Als er in die Wohnung zurückkehrte, hatte er ein steifes Bein. Zuerst benutzte er eine Krücke, später einen Gehstock, Schmerzen schien er immer noch zu haben, und seine Laune - ohje, Ohkamp stöhnte noch in der Erinnerung und musste ganz schnell zum Klaren greifen. Alle zwei Tage kam die hübsche Silke, um nach ihm zu sehen. Ab und zu in Begleitung dieses Playboys Martin Sowieso. Dann war er plötzlich wieder weg.

"Wer? Der Playboy?"

"Nee. Lambert."

"Wissen Sie noch, wann das war?"

Ohkamp sinnierte lange vor sich hin. Das musste 1987 gewesen sein, aber wann in diesem Jahr? Im Sommer? Kramer seufzte heimlich. Natürlich würde er den Teufel tun, diesem Säufer etwas von Sonja Markowski zu erzählen, aber er hätte schon gern gewusst, ob Baldur/Lambert ausgezogen war, bevor er den Absagebrief aus Hamburg bekam, oder hinterher. Vielleicht half das Einwohnermeldeamt.

Nee, da musste Ohkamp passen. 1987, das stand fest. Aber wann...?

"Es ist auch nicht so wichtig, Herr Ohkamp. Wissen Sie zufällig, wohin Herr Lambert gezogen ist?"

Hoffentlich verstieg sich HaWe Ohkamp nie zu einer Pokerpartie. Denn wenn er glaubte, er könne einen Treffer landen, glänzte er geradezu aufdringlich über alle Backen vor Pfiffigkeit.

"Nein, wohin, das kann ich nicht sagen. Aber die Hübsche...na ja, die Wohnung musste ja ausgeräumt werden, und eines Tages, ich hatte gerade etwas Zeit, bin ich runtergegangen und hab' sie gefragt, ob ich helfen sollte."

Das Strahlen erlosch wie eine ausgeknipste Lampe, HaWe erinnerte sich gerade an ihre Antwort, man konnte in seinem Gesicht wie in einem Buch lesen, aber weil Kramer in dieser Sekunde betont auffällig der Bedienung winkte, beschloss Ohkamp, dass er noch ein Bier und einen Klaren brauchte.

"Sie war unfreundlich wie - wie - sie brauchte keine Hilfe, nein, auch nicht wegen der Post, Herr Lambert hätte einen Nachsendeantrag gestellt, ich sollte mir keine Sorgen machen, keine Sorgen, dieses Aas - Herr Lambert sei reich genug, sich jede Hilfe leisten zu können, die er benötigte, ja, das sagte sie, er würde in seine Heimatstadt zurückziehen, in Frankfurt hätte er genug Freunde und alte Schulkameraden." Unvermittelt schüttelte er ärgerlich den Kopf. "Versteh' heute noch nicht, warum sie so wütend wurde."

"Haben Sie diese Silke Glas später noch einmal getroffen?"

"Nei-ein. Woll - te ich auch ga' nich'."

Kramer musterte ihn unauffällig. Nach vier Bier und vier Klaren hatte Ohkamp bereits Mühe mit seiner Aussprache. Wieso hatte er diese Szene so gut behalten? War da mehr vorgefallen, als er jetzt erzählen würde?

Auch Ohkamp grübelte und schwieg. Irgendetwas beschäftigte ihn, aber Kramer hatte ein ungutes Gefühl. Bis jetzt hatte der Pantoffelheld ihn nicht einmal gefragt, warum er den früheren Mieter suche, und das gefiel ihm nicht. Doch in der Sekunde wurde er abgelenkt, das Telefon klingelte, und die Bedienung nahm ab: "Landgraf, Guten Abend...ja, Frau Ohkamp, der ist da...gut, ich werd's ihm ausrichten...natürlich...keine Ursache, tschüss."

Schadenfroh grienend kam sie hüfteschwenkend an ihren Tisch, und Ohkamp blickte beunruhigt auf.

"He, HaWe, das war deine Frau, sie erwartet dich. Und zwar schnell."

"Was soll das heißen?" In dem vergeblichen Versuch, seinen Willen zu beweisen, pumpte er sich auf, doch die Bedienung lachte nur, und Ohkamp sank zusammen wie ein angepiekster Luftballon.

"Ja, dann muss ich wohl... es hat mich sehr gefreut... bis bald mal."

"Auf Wiederseh'n, Herr Ohkamp", verabschiedete er ihn freundlich, reichte ihm die Hand, stand aber nicht auf.

Geschlagen, mit hängenden Schultern, schlurfte der Pantoffelheld zum Ausgang; die Bedienung sah ihm spöttisch nach, HaWe mochte ein guter Kunde sein, aber niemand weinte ihm eine Träne nach. Selbst der Wirt erwiderte Ohkamps klägliches "Tschüss" nur mit einer ungeduldigen Handbewegung.

"Nach der nächsten Runde hätt' ich ihm nichts mehr gebracht", erklärte sie schadenfroh.

"Verträgt er so wenig?", Kramer fragte nur aus Höflichkeit, für seinen Geschmack war sie etwas drall, doch für Männer, die es handfest liebten, wahrscheinlich sogar attraktiv.

"Das auch. Vor allem kann er nicht aufhören." Seine Abwehr störte sie nicht oder sie bemerkte sie gar nicht. "Ich heiße Marlies. Sie hab' ich hier noch nicht gesehen."

"Kramer, Rolf Kramer", erwiderte er notgedrungen. "Nein, ich bin zum ersten Mal hier."

"Und sind gleich an den größten Schnorrer geraten", stellte sie fest und stützte sich mit einer Hand auf den Tisch. Ach nein, sie hatte Lust auf ein Schwätzchen, so leicht würde er sie jetzt nicht los, und deshalb versuchte er es mit einer leichten Schockmethode: "Ich bin Privatdetektiv und habe mich bei Ohkamp nach einem früheren Mieter des Hauses erkundigt, in dem er wohnt."

Schon nach dem dritten Wort erkannte er, dass er einen Fehler begangen hatte. Sie riss die Augen weit auf, der Mund öffnete sich, es sollte verheißungsvoll wirken, erinnerte ihn aber eher an einen Fisch auf dem Trockenen, und als sie dann blinzelte, hatte er ihre Neugier endgültig geweckt.

"Ich werd' verrückt. Ein Privatdetektiv, das ist ja - wen suchen Sie denn?"

"Einen gewissen Lambert."

"Den lahmen Ludwig?"

"Kennen Sie ihn?"

"Na, und ob. Das is' ja 'nen Ding." Ihr Staunen hielt nicht lange vor, unvermutet zwinkerte sie listig. "Von dem könnt' ich Ihnen eine Menge erzählen."

"Wirklich?" Mein Gott, was hatte er da angerichtet?

"Doch, ja, natürlich." Etwas an ihrem Ton irritierte ihn, es klang nicht so, als wolle sie sich nur wichtigmachen oder einen neuen Gast einseifen.

"Können wir uns über Lambert unterhalten?" Wenn er hier schon einmal hockte...

"Klar doch. Aber nicht hier. In einer Stunde hab' ich frei."

Mahlzeit! Gequält erwiderte er ihr vielversprechendes Lächeln und stöhnte heimlich, als sie davonschoss. Sich in seinen eigenen Schlingen zu fangen schmerzte besonders.

Der Wirt griente anzüglich, als sie eine Stunde später den Landgrafen verließen, und Kramer hatte Mühe, mehr als einsilbige Wörter auszusprechen. Doch sie merkte nichts, und als sie ihn auf der Straße unbefangen duzte, ahnte er, worauf sie spekulierte. "Hast du was dagegen, wenn wir zu mir gehen?"

"Nein. Gar nicht."

Ihre Wohnung war klein und lag unter dem Dach, aber bei einem schnellen Rundblick überzeugte er sich, dass sie nicht so geschmacklos eingerichtet war, wie er befürchtet hatte. Sie verschwand in einem Nebenzimmer und rief von dort laut: "Musst du noch Auto fahren?"

"Nein."

"Dann lade ich zu einem Wein ein, einverstanden?"

"Ja, gerne", log er. Den Wein konnte er sich vorstellen! "Hast du zufällig eine Flasche Sprudel? Ich bin eigentlich Schorle-Trinker."

"Na klar doch!"

Als sie zurückkam, hatte sie den schwarzen Rock und die weiße Bluse gegen einen weiten Kittel getauscht, der nur lässig zugeknotet war und bei jeder ihrer Bewegungen einen Blick auf den knappen BH erlaubte. Einen schönen vollen Busen hatte sie, das wollte er nicht leugnen, und ihr war sein Blick nicht entgangen.

"Ausgerechnet Lula", sagte sie heiter und stellte das Tablett mit den Flaschen, Gläsern und dem Korkenzieher dicht vor ihm ab; eine Wolke eines gar nicht mal unangenehmen Parfüms streifte ihn.

"Lula?", fragte er wenig geistreich zurück; er mochte es nicht, wenn man ihm so dicht auf die Pelle rückte.

"Ludwig Lambert." Sie kicherte vergnügt und ohne Verlegenheit. "Er hat ab und zu ein Bier im 'Landgraf' getrunken, na ja, und so hab' ich ihn kennengelernt."

Weil sie sich bei diesen Worten setzte und es fertigbrachte, dass der Kittel sich über ihren Beinen bis obenhin öffnete, lächelte er schmal.

"Nur kennengelernt?"

"Nein, er war auch hier. In der Wohnung. Ein netter Mann, wirklich, ich meine, bevor er den Unfall hatte und das steife Bein bekam."

"Ich kenne ihn nicht."

"Warum suchst du ihn denn?"

Das würde er ihr nun nicht auf die Nase binden, erstens aus Prinzip nicht und zweitens müsste er vorher erfahren, wie sie heute zu ihm stand. "Ich arbeite für einen Rechtsanwalt. Genauer gesagt, der sitzt in Stuttgart und arbeitet wiederum für einen Rechtsanwalt in Bern. Lambert hat nämlich geerbt, die alte Dame war über neunzig, und nun soll er in der Schweiz antreten und den Scheck abholen."

"Warum passiert mir so was nie?", seufzte sie. "Erben! Ich muss immer nur löhnen."

"Prost auf deine unbekannte Erbtante!"

"Zum Wohl!"

Der Wein war eine Überraschung, viel besser, als er befürchtet hatte, und sie rutschte jetzt freiwillig ein Stück zur Seite und schlug den Kittel über die Oberschenkel.

"Hast du eine Ahnung, wo ich ihn finden kann?"

Nachdenklich schüttelte sie den Kopf. "Nein, nach dem Unfall wurde er komisch - also, dann ging es mit uns auseinander, weißt du, er hat sein Geschäft aufgelöst und ist nach Frankfurt gezogen."

"Nach Frankfurt?"

"Ja, da war er geboren und zur Schule gegangen."

"Er wollte also in seine Heimatstadt zurück?"

"Ja. Warum, das weiß ich auch nicht so genau."

"Hat er dir noch mal geschrieben oder dich angerufen?"

"Nee, hat er nicht, dieser Schlaffi. Versprochen hatte er's hoch und heilig, und wenn ich ehrlich sein soll - bei ihm hatte ich gehofft, dass er's nicht nur so daher gesagt hätte. Aber es täuscht sich der Mensch, so lang er lebt." Einen Moment irrte ihr Blick ab, dann pochte sie mit den Knöcheln hart auf die Tischplatte und erläuterte ohne Übergang: "Er hatte auch Last mit den vielen Stufen hierherauf."

Langsam trank er und beobachtete sie unauffällig. An Lambert hatte ihr mehr gelegen, als sie gestehen wollte.

"Ohkamp hat mir eben erzählt, dass sich zum Schluss eine junge Frau darum gekümmert hat, die Wohnung in der Laufferhöhe aufzulösen."

"Die kalte Silke." Sie spitzte wehmütig die Lippen. "Ich bin ihr ein paar Mal im Krankenhaus begegnet, und das Biest hat mich an Lulas Bett abgefertigt wie ein Stück Dreck."

"Weißt du, wie sie mit Nachnamen heißt?" Weil sie die Brauen zusammenzog, fügte er schnell hinzu: "Ich bin für jeden Menschen dankbar, der mir sagen kann, wo ich Lambert suchen soll."

"Wie sie hieß? - hm, das war...ein kurzes einsilbiges Wort, ich fand', es klang genau so, wie sie war - irgendwie kalt und herzlos oder..."

"Eis?"

"Nei - ein, nicht Eis. Aber so ähnlich." Sie runzelte die Stirn und überlegte scharf.

"Stein?"

"Auch nicht, aber- ich hab's, Glas. Silke Glas." Danach strahlte sie so begeistert, dass er sein Glas hob: "Auf dein Gedächtnis."

"Krieg' ich Prozente von deinem Honorar?"

"Darüber lässt sich reden. Weißt du zufällig noch, woher sie kam? Oder was sie beruflich machte?"

"Woher? - auch aus Frankfurt. Ja, richtig, ich erinnere mich, dass sie mich so richtig höhnisch abbürstete, nein, danke, meine Hilfe wär' nicht erwünscht, sie würde auch in Frankfurt arbeiten und für Lula alles Nötige erledigen." Ihre fröhliche Stimmung verflüchtigte sich schnell. "Außerdem würde sie nur zwei Straßen weiter wohnen und Ludwig schon so lange kennen..."

Sie brach ab und starrte in ihr Glas, mit traurigen Erinnerungen beschäftigt, und er trank vorsichtig. Nach einer Weile fuhr er ausdruckslos fort: "Lambert soll 1987 von hier fortgezogen sein."

Geistesabwesend nickte sie.

"Hast du eine Ahnung, womit er seine Brötchen verdient hat?"

Es brauchte eine Weile, bis die Frage durch ihre Gedanken drang. "Nein", murmelte sie, "er war Gebiets-Vertreter einer großen Agentur, den Namen hat er mal genannt, aber den hab' ich vergessen."

"Macht nichts", tröstete er sie heiter, "Frankfurt ist schon ein guter Tipp."

Zaghaft begann sie ebenfalls zu lächeln. "Du kommst weit rum, wie?"

"Ja, kann man sagen, und überall trifft man nette Leute."

Sie beugte sich vor, um nach seinem Zigarettenpäckchen zu greifen, dabei öffnete sich wieder der Kittel oben und rutschte unten zur Seite. Er schaute ihr betont auf den Busen, zehn lange Sekunden knisterte es zwischen ihnen, dann lehnte sie sich zurück, schüttelte unmerklich den Kopf und knotete den Gürtel fester. Heimlich atmete er auf. Was immer sie beabsichtigt hatte - sie hatte sich anders entschieden.

"Hat Lula mal was aus seinem Leben erzählt? Was er früher gemacht hat oder so?"

"Nein", entgegnete sie erstaunt, "kaum. Er war nicht sehr - gesprächig. Und ich bin nicht neugierig, weißt du."

'Und schließlich hattet ihr in diesen vier Wänden anderes zu tun', ergänzte er stumm.

"Außerdem war er - wie soll ich es beschreiben? - na ja, ein ziemlicher Geheimniskrämer. Der traute nicht einmal sich selbst. Das ist mir schon aufgefallen, und eines Abends hat's deswegen zwischen uns Krach gegeben. Knochentrocken war er. Wenn's mir nicht gefallen würde, sollt' ich's nur sagen, er könnt' jederzeit gehen. Einmal hätt' er einer Frau vertraut, und die hat ihn dann so in die Pfanne gehauen, dass er seine Lektion gelernt hatte."

"Und du wolltest nicht, dass er ging."

"Nein. Ich mochte ihn. Obwohl er..."

"Obwohl was?"

Ärgerlich fuchtelte sie mit beiden Händen. "Obwohl er kein Vertrauen zu mir hatte. Nein, überhaupt kein Vertrauen. Weißt du, das hat mich in Wahrheit an dieser Silke so geärgert, zu diesem eiskalten Biest hatte er Vertrauen, zu mir nicht."

"Haben die beiden miteinander geschlafen?"

Ihr Gesicht verschloss sich, zuerst las er Verbitterung, dann Traurigkeit in ihrer Miene. Endlich flüsterte sie: "Sicher!", und er wagte nicht zu fragen, woher sie das wissen wollte. Nach einer unbehaglichen Minute richtete sie sich auf: "Manchmal hab' ich mir schon meine Gedanken gemacht...ab und zu erschien so ein Mann, so ein Großer, Kräftiger, Lula nannte ihn Martin, und die beiden hatten immer ungeheuer wichtig und geheimnisvoll zu verhandeln...nein, nein, ich durfte nie ein Wort hören. Diese Silke war vielleicht eiskalt, aber der Martin, der war so aalglatt, dass ich immer eine Gänsehaut gekriegt habe. Und die beiden hatten was miteinander, ich kenn' diese Blicke, und einmal, im Krankenhaus, bin ich geplatzt und hab' Lula angebrüllt, ob er nicht wüsste, dass sein Freund Martin mit der Silke ins Bett steige. Aber Lula blieb ganz cool: Ich wär' ihm ja auch nicht treu geblieben, jeder könne machen, was er wolle, bei dem Wort 'Treue' müsse er immer würgen. Na ja, ich kannte seine Meinung..." Rasch, als müsse sie etwas Unangenehmes hinunterspülen, griff sie nach ihrem Glas.

Aus Höflichkeit blieb er noch eine halbe Stunde, sie achtete darauf, dass ihr Kittel züchtig geschlossen blieb, und sie verabschiedeten sich wie gute alte Freunde.

Die Horst Bieber Krimi Sammlung 2021: Krimi Paket 8 Romane auf 1500 Seiten

Подняться наверх