Читать книгу Die Horst Bieber Krimi Sammlung 2021: Krimi Paket 8 Romane auf 1500 Seiten - Horst Bieber - Страница 19

Zweiter Mittwoch

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"Du bist verrückt!" Gina sprühte vor Zorn, was sie ausgesprochen verschönerte, ihn aber beunruhigte und zugleich ärgerte. So hatte er seinen blonden Engel noch nie erlebt; selbst die Lehrmädchen waren beängstigend folgsam aus dem Zimmer gezischt, als sie die Stimme erhob: "Lasst uns allein!"

"Nein, ich bin nicht verrückt, ich habe um deine Hilfe gebeten. Oder Bülows. Ich bin zu dir gekommen, weil es mir der schnellste Weg zu sein schien, ich kann auch die Zulassungsstelle direkt anrufen und mir eine Lüge einfallen lassen. Den Namen und die Anschrift dieses Kfz-Halters bekomme ich so oder so."

"Warum willst du uns dann in deine dubiosen Ermittlungen und halbseidenen Geschäfte hereinziehen?"

Nach diesem Tiefschlag hielt er die Luft an. Die Zeit blieb stehen. Als er ausatmen musste, drehte er auf dem Absatz um und verließ wortlos die Kanzlei Bülow & Delius. Wahrscheinlich hatte er gerade einen guten Auftraggeber verloren, aber das war ihm seine Selbstachtung wert. Den Zettel mit dem Kennzeichen WP 511 schenkte er ihr gerne. Die Tür knallte ins Schloss, und wenn ihn jetzt einer dumm anquatschte, würde er zuschlagen.

Der Fußmarsch half, bis zu seinem Büro hatte er sich so weit beruhigt, dass er den mürrischen Pförtner gleichmütig nach seiner Post fragen konnte, ohne dieser Ausgeburt von Wichtigtuerei die Nase zu verbeulen. Der Paternoster knarrte, selbst am Schmieröl sparte die Hausverwaltungsfirma. Er bog in den Flur ein - erster Stock, hinterer Flügel - und stockte.

Vor seinem Büro lehnte eine Frau an der Wand, die ihm seltsam bekannt vorkam. Eine hübsche, zierliche Brünette in einem kurzen, weiten Swinger-Kleidchen, das ihre sehenswerten Beine dezent enthüllte. Wo hatte er nur - dann lächelte er dümmlich und bemühte sich, seine Fassung wiederzugewinnen. Gestern hatte sie neben einem großen Mann hier schon einmal gestanden, da mühte sich ihr Begleiter in offenkundig illegaler Absicht mit dem Schloss seiner Bürotür ab, bis Anielda sie störte und in die Flucht trieb.

Sie richtete sich auf, als er näherkam.

"Hei", grüßte er forsch, "warten Sie auf mich?"

"Wenn Sie Rolf Kramer sind - ja."

"Bin ich." Umständlich zerrte er seinen Schlüsselbund hervor, um Zeit zu gewinnen.

"Fein. Ich heiße Glas, Silke Glas."

Sein Kopf ruckte hoch, er wusste, dass er in diesem Moment so intelligent aussah wie ein Fisch mit offenem Maul auf dem Trockenen, aber sie missverstand seine Miene.

"Glas, wie durchsichtig", wiederholte sie etwas ungeduldig. "Ich bin Reporterin beim Stadtradio und hätte Sie gern gesprochen. Wegen dieser Anzeige." Dabei hielt sie ihm die Seite des Tageblatts mit dem auffälligen eingerahmten Inserat hin. "Haben Sie einen Moment Zeit?"

"Warum nicht!", stotterte er, und seine Hände zitterten so, dass er das Schlüsselloch im ersten Anlauf verfehlte. Das geringschätzige Lächeln, das über ihr Gesicht flog, ernüchterte ihn so weit, dass er sich fing. "Aber erst, wenn ich Kaffee gekocht habe."

"Gerne, aber nur, wenn Sie mir eine Tasse anbieten."

Während er die Kaffeemaschine anwarf, musterte sie ungeniert sein Büro. Nach Reichtümern sah der nüchterne Raum in der Tat nicht aus, und der Blick in den Lichtschacht, "Innenhof" nach der Definition der Hausverwaltung, enttäuschte ästhetische Gemüter. Auch ihn hatte sie mit abschätziger Routine eingeordnet: weder groß noch klein, weder dick noch dünn, weder schön noch hässlich, der Durchschnittsmann, den man auf der Straße ansah, aber nicht wahrnahm. Bei Observationen war diese Unauffälligkeit hilfreich, aber das würde sie wohl kaum verstehen. Und das nicht nur, weil sie sich zu jugendlich kleidete und frisierte. Die kleinen Fältchen in den Augenwinkeln waren ihm nicht entgangen, die Mitte des dritten Jahrzehnts hatte sie deutlich überschritten, und offenbar traute sie ihrem Aussehen nicht, wollte von ihrem Gesicht ablenken und ihre Figur darbieten. Keine Frau, die mit sich im Reinen schien und Vertrauen verdiente.

"Nehmen Sie Zucker und Milch?"

"Weder - noch. Schwarz, bitte."

Nach dem ersten Schluck schob er beiläufig die Karte, die sie ihm gegeben hatte, in eine Schublade. "Silke Glas", die Anschrift des Stadtradios und ihre private Adresse.

"Ein Kollege ist über Ihre Anzeige gestolpert, Herr Kramer, ein älterer Kollege, der sein ganzes Leben hier in der Stadt gewohnt hat, ein Glöckchen bimmelte hartnäckig in seinem Hinterkopf, und als es endlich bei ihm funkte, hat er mich losgeschickt. Ludwig Baldur. Zwölf Jahre wegen Totschlags."

"Ja." Er seufzte komisch. "Und Sie erwarten nun von mir eine tolle Story, alle Enthüllungen über den geheimnisvollen Tod der Edith Troy."

"Und das exklusiv!" Wenn sie so angestrengt strahlte, hatte sie etwas von einem aufdringlichen Kobold.

"Ja, das verlangt Holger Weisbart vom Tageblatt auch immer von mir."

"Oh!" Ihr langes Gesicht ermunterte ihn.

"Ja. Aber ich muss Holger und Sie leider enttäuschen. In der Schweiz ist eine alte Dame gestorben, fast 100 Jahre alt. Ein Schweizer Rechtsanwalt, zum Testamentsvollstrecker eingesetzt, hat daraufhin einen Stuttgarter Kollegen gebeten, zum - hm - Zwecke der Abwicklung des Testaments einen gewissen Ludwig Baldur aufzustöbern."

"Der sicherlich einen riesigen Batzen erben soll."

"Erstens weiß ich es nicht, Frau Glas, und zweitens würde ich es Ihnen nicht verraten."

Sie schmollte routinemäßig. "Da würden Sie auch bei mir keine Ausnahme machen?"

"Nein - es sei denn, Sie oder das Stadtradio zahlen mein vereinbartes Honorar. Plus einer kleinen Zulage."

"Ach Gott, wir sind ein armer Sender, und arme Menschen können sich keinen Privatdetektiv leisten."

"So ist es."

"Wären Sie denn zu einem kleinen Interview bereit? Heute im Mittagsmagazin?"

Das Angebot überlegte er sich reiflich. Wenn Baldur/Lambert die Anzeige übersehen haben sollte, ergab sich so vielleicht eine andere Chance, ihn zu erreichen. Andererseits - viel, fast alles sprach dafür, dass die Hübsche, die gerade die Beine übereinanderschlug und nicht zu bemerken schien, dass dabei ihr Rock sehr weit hochrutschte, jene Silke Glas - "Glas, wie durchsichtig" - war, die Ludwig Baldur/Lambert nach dem Krankenhaus in Kassel geholfen hatte, seine Zelte abzubrechen und eine falsche Spur in seine "Heimatstadt Frankfurt" zu legen. Manche dummen Angewohnheiten behielt der Mensch sein Leben lang bei, auch er erläuterte am Telefon, wenn sein Name nicht verstanden worden war, "Kramer, wie Kramladen". Glas, wie durchsichtig. Und auf die winzige Wahrscheinlichkeit hin, dass sie nicht - nein, das Risiko war in jedem Fall zu groß.

"Nein, lieber nicht", entschied er unsicher. "Mehr kann und darf ich Ihnen nicht erzählen."

"Aber Sie haben doch gehört, dass Baldur wegen Totschlags im Gefängnis gesessen hat?"

"Natürlich. Ich - frequentiere das Archiv des Tageblatts regelmäßig. Aber dieser - Fall - mein jetziger Auftrag - hat damit nichts zu tun. Auch Verurteilte besitzen Erbansprüche."

Wenn sie die Lider vorher nicht halb gesenkt hätte, wäre er von ihrer nächsten Frage vielleicht überrumpelt worden. "Vermuten Sie denn, dass Ludwig Baldur hier in der Stadt lebt?"

"Nein", erwiderte er gleichmütig und sah sie offen an. "Gemeldet ist er hier oder in der Umgebung nicht. Aber weil er hier geboren und aufgewachsen ist, dachte ich, es könnte Freunde oder Bekannte oder Verwandte geben, die wissen, wo er jetzt steckt."

"Und? Haben sich welche gemeldet?"

Mit der Antwort ließ er sich Zeit und lächelte endlich etwas gequält und zugleich gutmütig. "Zahlen Sie oder Stadtradio mein Honorar?"

Offenbar wusste sie, wann sie eine Schlacht verloren hatte. "Okay, okay, die Botschaft ist angekommen, Sie müssen erst Ihrem Anwalt berichten."

"Richtig. Aber eine sensationelle Neuigkeit habe ich für Sie: Ich habe noch nichts zu berichten."

"Sie sind ein alter Fiesling", stichelte sie und stand auf. "Melden Sie sich bei mir, wenn Sie nach Stuttgart berichtet haben?"

"Meinen Sie, diese Meldung könnte ich bei einem Essen oder einem Glas Wein erstatten?"

"Das entscheide ich, wenn's so weit ist, Herr Kramer." War das nun eine angedeutete Kusshand oder musste sie sich die Hand vor den Mund halten, damit er nicht sah, wie sie über ihn lachte? Nachdem sie mit schwingendem Kleidchen aus dem Büro getänzelt war, starrte er lange vor sich hin, sinnierte über ihre Dreistigkeit und spürte endlich das so lang vermisste leise Triumphgefühl.

Es sollte noch größer werden, das Telefon bimmelte, und eine zerknirschte Gina bettelte: "Es tut mir leid, Rolf, ich wollte dich nicht beleidigen, wirklich nicht. WP 511 ist auf einen Martin Wolzek, Bredener Straße 81, zugelassen."

"Das ist - ach, Gina, ich freue mich..."

Das Klicken schnitt sein Gestammel ab, doch er hatte noch nie einen so melodischen Abbruch eines Telefonats genossen.

Deswegen wählte er freudig die Nummer von Stadtradio, die auf ihrer Karte stand, legte ein Taschentuch über das Mikrophon und nölte in seinem besten proletarischen Tonfall: "Tach, ich will d'e Silke sprechen."

"Wen? - ach, Sie meinen Silke Glas?"

"Sach ich doch, d'e Silke."

"Moment." Diese Pausenmusik hasste er von ganzem Herzen. "Hören Sie bitte? - Frau Glas ist nicht im Haus, wird aber in einer Stunde wieder da sein."

"Jau, dann meld' ich mich w'eder. Mahlzeit."

Sie arbeitete also wirklich bei Stadtradio. Bildete er sich das ein oder war der Tag in den letzten Minuten wirklich heller, das Mobiliar weniger schäbig und das ganze Büro eine Spur imposanter geworden?

Der Simmersweg lag im sogenannten Brunnenviertel und hatte seine besten Zeiten sichtlich hinter sich. Die drei- und vierstöckigen Altbauten zu renovieren lohnte wohl nicht mehr; bevor der Stadt das Geld ausging, sollte hier gründlich saniert, also mit der Abrissbirne Platz geschaffen werden. Seit den ersten Ankündigungen verließ das Brunnenviertel, wer es sich leisten konnte; der Simmersweg war noch nicht verslumt, stand aber kurz davor, und das Haus Nummer 14 machte keine Ausnahme. Ursprünglich hatten hier acht Parteien gewohnt; jetzt klebte neben dem Klingelbrett eine ganze Galerie von Papierstreifen mit dem Hinweis: "Bei Sowieso 2x, 3x läuten". "Fröhling" besaß eine eigene Klingel.

Er musste vier Mal auf den Knopf drücken, bis der Öffner hässlich schnarrte, und im Treppenhaus schlängelte er sich zwischen abgestellten Fahrrädern, Pappkartons und Kisten hindurch.

In der Tür stand eine junge Frau, erste Hälfte oder Mitte zwanzig, die ihn mürrisch beobachtete, als er die Treppe hinaufstieg, und dabei den Gürtel eines Bademantels zuknotete. Ausgeschlafen war sie nicht, darauf verwettete er jeden Betrag, und für ihre gute Laune würde er keinen Heller bieten.

"Guten Tag", grüßte er deswegen betont höflich, "mein Name ist Kramer, Rolf Kramer, entschuldigen Sie bitte die Störung, ich hätte gern mit Kurt Fröhling gesprochen."

Zu seinem Erstaunen verzog sie das Gesicht, als habe sie auf eine Zitrone gebissen, seufzte vernehmlich und krächzte mit belegter Stimme: "Was hat er denn jetzt schon wieder angestellt?"

"Wie bitte? Ich verstehe nicht, was..."

"Sie haben doch sicherlich Geld von Kurt zu kriegen."

"Nein", entgegnete er verblüfft.

Ihr Gesicht hellte sich auf, das war offenbar ihre größte Sorge gewesen. Nach langem Räuspern erkundigte sie sich sehr viel entgegenkommender: "Was wollen Sie denn dann von Kurt?"

"Ich muss mit ihm reden. Wegen eines Mannes, den er sucht. Gestern ist er bei mir..."

Er brach ab; sie schnitt eine so ungläubige Grimasse, dass es ihn verwirrte. "Mich laust der Affe", platzte sie unvermutet heraus. "Kurt sucht tatsächlich?"

"Ja, deswegen war..."

"Das müssen Sie mir erzählen! Kommen Sie herein!" Sie trat zur Seite und kollerte vor Vergnügen. "Das darf nicht wahr sein."

Das Zimmer, in das sie ihn wies, war mehr als spärlich möbliert. Während sie das Fenster aufriss, was dringend notwendig war, erklärte sie über die Schulter: "Ich arbeite im Rosa Ferkel und hab' erst nach Mitternacht Schluss."

"Ah ja", erwiderte er ausdruckslos. Das Rosa Ferkel kannte er, ein Spielautomaten-Schuppen in der Innenstadt. Auf einem Sessel lag eine schwarze Corsage; also war sie eine der Frauen, die dort die Wechselgeldkasse verwalteten und durstige Spieler mit Getränken versorgten. Hochhackige Schuhe, Netzstrümpfe, Corsagen - es war die reinste Fehlinvestition: Denn wer dort auf den Jackpot hoffte und dafür seine letzten Münzen opferte, hatte nicht einmal einen Blick für eine Frau mit zwei Köpfen übrig.

Einen Moment musterten sie sich gegenseitig, als müssten sie sich abschätzen. Mit etwas mehr Farbe würde sie sogar recht hübsch sein, aber sie war bleich und hatte tiefe Ringe unter den Augen, und weil sie zu ahnen schien, welchen Eindruck sie auf ihn machte, wurde ihre Miene unfreundlich.

"Darf ich fragen, wer Sie sind?"

"Wer ich - ach richtig, ja." Sie lachte humorlos. "Ich heiße Elke Fröhling."

"Sind Sie Kurts...?"

"Nein, nicht seine Frau und nur zur Hälfte seine Tochter." Über sein dummes Gesicht amüsierte sie sich. "Gedulden Sie sich ein paar Minuten." Nach einer Pause, die ihnen beiden auffiel, setzte sie hinzu: "Bitte!"

Als sie zurückkam, trug sie einen bunten Hausanzug. Frisiert und etwas zurechtgemacht, die fehlende Bräune aus dem Döschen oder der Tube ersetzt, gefiel sie ihm sogar.

"So, was wollen Sie von mir wissen?" Ziemlich burschikos schob sie ihm einen Becher mit Kaffee hin und umklammerte ihren, als fröre sie und müsste sich die Hände wärmen.

"Ich bin Privatdetektiv, Frau Fröhling." Ihr Gesicht vereiste, das hatte er schon befürchtet, und deshalb holte er heimlich seufzend eine Karte heraus und hielt sie ihr hin. "Ich habe den Auftrag, einen bestimmten Mann zu suchen. Durch Zufall habe ich nun erfahren, dass Kurt Fröhling diesen Mann ebenfalls sucht."

Fast angewidert studierte sie die Karte und steckte sie dann achtlos in eine Brusttasche.

"Kurt Fröhling ist doch ihr Vater?"

Ihr bitteres Auflachen verstand er nicht, sie wollte aber immer noch keine Erklärung abgeben.

"Mit Ihrem Vater - mit Kurt konnte ich gestern nicht sprechen, weil er plötzlich ohne Grund aus meinem Büro sauste."

"Kurt hat sich wirklich nach dem Mann erkundigt?"

"Ja." Noch dachte er nicht daran, alle Karten auf den Tisch zu legen, und sie schien seine Zurückhaltung nicht zu bemerken.

"Das hätte ich - da hab' ich ihm ja doch Unrecht getan."

"Ich verstehe nicht", sagte er langsam.

Sie schüttelte erst unwillig den Kopf und schaute ihn dann nachdenklich an. Weil sie die Augen dabei halb geschlossen hatte, ahnte er, dass sie noch überlegte, was sie ihm sagen sollte, ob sie ihm trauen durfte. Diese Entscheidung konnte er ihr nicht abnehmen, deswegen gab er ihren jetzt prüfenden Blick gelassen zurück, bis sie endlich tief durchatmete.

"Sie sind wirklich Privatdetektiv?"

"Ja."

"Und suchen einen Mann, nach dem sich auch Kurt erkundigt?"

"Ja."

"Das ist ja seltsam - ich weiß nicht..."

"Ich habe viel Zeit, wenn Sie mir etwas erzählen wollen."

"Ja, warum eigentlich nicht." Ihre plötzliche Heiterkeit erreichte ihre Augen nicht. "Bis jetzt hab' ich's noch keinem Fremden gebeichtet, und auf Kurt - na, wirklich, warum nicht."

Wenn sie ernst wurde, sah sie älter aus. Etwa 170 Zentimeter groß, 60 bis 62 Kilo, hellbraune, kurze Haare, braune Augen, erschöpft und auch jetzt noch übermüdet. Er hatte sich angewöhnt, solche Daten automatisch im Hinterkopf zu speichern. Und ihr Gesicht erschien ihm irgendwie vertraut.

"Ich versuche - oder habe versucht, einen Mann zu finden, von dem ich vermutet, dass er hier in der Stadt lebt."

"In solchen Fällen hilft das Einwohnermeldeamt."

"Das geht leider nicht, ich kenne seinen richtigen Namen nicht."

"Oh!" Damit hatte sie ihn wirklich überrascht.

Sie mied seinen Blick: "Ich suche einen Mann, von dem ich vermute, er könnte mein Vater sein. Mein leiblicher Vater."

"Den Sie nicht kennen?"

"Nein. Das alles ist - also doch der Reihe nach. Ich bin 1966 in Magdeburg geboren. Meine Mutter war damals ledig, sie hat erst zwei Jahre später geheiratet, als meine Schwester Jutta unterwegs war. Einen gewissen Kurt Fröhling, den ich immer für meinen leiblichen Vater - meinen Erzeuger gehalten habe."

"Das hat auch Ihre Mutter behauptet?"

"Ja. Nun hat sich Kurt nicht als das Ideal eines Vaters entpuppt. Regelmäßiger Arbeit ging er sorgfältig aus dem Wege, er soff, er machte Schulden, klaute und organisierte, na schön, erst Verwarnungen, dann Strafen durch das Kollektiv, schließlich Gefängnis."

"So dass Ihre Mutter Sie und Ihre Schwester groß gezogen hat."

"Natürlich, es ging uns auch besser, wenn Kurt mal wieder - abwesend war." Wenn sie offen lächelte und den melancholischen Zug verlor, entwickelte sie sogar Charme. "Dann fiel die Mauer, und Kurt sauste sofort los, sein Glück im goldenen Westen zu machen."

"Sie waren schon berufstätig?"

"Ja, als Chemisch-Technische Assistentin. Und weil es anfangs so aussah, als würde mein Betrieb nicht abgewickelt, hatte ich gar kein Interesse, den Westen kennenzulernen."

"Hat Ihr Vater - äh - Kurt denn sein Glück gemacht?"

Zu seiner Überraschung versetzte sie boshaft: "Das einzige Glück, auf das Kurt hoffte, waren ein paar neue Sorten Alkohol, die er noch nicht kannte. Nein, er ist hier wohl ziemlich unter die Räder geraten. Uns - also meine Mutter, meine Schwester und mich - hat es nicht gestört. Und sein Gehalt - na ja, auf Nichts kann man auch verzichten."

Einen Teil ihrer Gefühle für Kurt hatte sie damit geklärt.

"Dann ist meine Mutter im vorigen Jahr bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt worden, und im Krankenhaus hat sie mir gestanden, dass nicht Kurt mein - Vater ist, sondern ein Wolfgang Hellweg. Ihre große Liebe."

"Die Sie jetzt suchen?"

"Ja." Sie hob entschuldigend eine Hand. "Es kommt noch - Mutter sagte, Wolfgang wäre noch vor meiner Geburt in den Westen abgehauen. Warum, das wusste sie nicht. Oder wollte es mir nicht erzählen. Mir ist nicht einmal klar, ob er überhaupt gewusst hat, dass sie von ihm schwanger - gut. Drei Tage später ist sie gestorben, und wer taucht aus heiterem Himmel zu ihrer Beerdigung auf? Kurt Fröhling. Keine sehr freudige Überraschung, das dürfen Sie mir glauben. Natürlich war er völlig pleite und brachte einen entsetzlichen Durst mit. Den hat er nach dem Friedhof auch gelöscht, und als er kurz vor dem Krakeelen seine weinerliche Phase hatte, bin ich wütend geworden und hab' ihm verklickert, was Mutter mir auf dem Sterbebett gestanden hatte: Dass nicht er, sondern ein Wolfgang Hellweg mein Vater sei. Komischerweise hat ihn das gar nicht aufgeregt, so was habe er immer schon vermutet, die Marga wär' früher ein ziemlicher Wonneproppen gewesen, um den sich manche bemüht hätten. Aber an einen Wolfgang Hellweg, ne, an den könne er sich nicht erinnern."

"Konnte er nicht oder wollte er nicht?"

"Wahrscheinlich beides, wenigstens in dem Moment."

"Hat Ihre Mutter kein Bild von ihrer großen Liebe aufbewahrt?"

"Nein, wir haben nichts gefunden."

"Wer ist wir?"

"Meine Schwester Jutta und ich."

"Keine Briefe? Hinweise? Bücher mit Widmungen?"

Mutlos schüttelte sie den Kopf. "Nein, nichts."

"Und warum suchen Sie dann ausgerechnet hier Ihren Vater?"

"Ich habe Kurt erzählt, dass dieser Wolfgang Hellweg noch vor meiner Geburt in den Westen geflohen sei. Und da wurde er hellhörig. An so einen könne er sich erinnern, so ein schräger Vogel, der um die Marga herumgetanzt war - und zeitlich käme es auch hin. Ich meine, dass er mein - Vater war. Aber Kurt behauptete, an den Namen dieses Mannes könne er sich nicht erinnern, und das wäre auch ziemlich sinnlos. Denn er rühre keinen Tropfen Alkohol mehr an, wenn dieser Schönling nicht ein MfS-Mensch gewesen wär'."

"MfS ist..."

"...war das Ministerium für Staatssicherheit."

Jetzt spitzte er die Ohren. "Ich habe vor kurzem gelesen, dass es MfS-Mitglieder gab, die mehrere Identitäten besaßen. Und deswegen zum Beispiel an Wahltagen quer durch die DDR fahren mussten, um überall dort, wo sie angeblich wohnten, auch ihre Stimmzettel abzugeben."

"Ja, so was gab's." Sie hörte sich jetzt wieder müde an. "Wir haben überall nachgefragt, aber einen Wolfgang Hellweg kennt niemand."

"Aber wie hat es Sie dann hierhin verschlagen?"

"Das war Kurt. Er zog nach der Beerdigung ab, ziemlich verkatert und noch mehr beleidigt, hat mit alten Kumpels alle erreichbaren Flaschen geleert, und kreuzte zwei Wochen später mit einer halben Alkoholvergiftung bei Jutta und mir wieder auf. Er hätt' eine tolle Überraschung für uns. Großes Drumherumgelabere, Kurt macht's gern spannend, und der langen Rede kurzer Sinn: Er hat hier, in der Stadt, den früheren Schönling wiedergesehen. Ganz sicher dieser komische, schräge Vogel, der mit der Marga, meiner Mutter, herumgeturtelt hat."

"Und wann soll diese Begegnung gewesen sein?"

"Im Sommer nach dem Fall der Mauer. Also 1990."

Ob sie daran noch glaubte? Seinem Blick wich sie aus und hielt dann den Kopf gesenkt. "Na ja, inzwischen war mein Institut abgewickelt, ich hatte nichts zu tun - also bin ich hierhergekommen, um meinen - Vater zu suchen."

Endlich schaltete er. "Wobei Sie kaum etwas tun können, weil Sie ihn gar nicht kennen."

"Sicher. Kurt müsste durch die Stadt laufen und die Augen aufsperren, aber Kurt ist morgens so erschöpft von der Sauferei abends und nachts, dass er bis in die Puppen pennen muss, und wenn er sich wieder auf die Füße stellen kann, schwindelt es ihm so, dass er unbedingt was zu trinken braucht. Aber auf einem Bein steht's sich schlecht - und so weiter."

Mitfühlend nickte er. Sie finanzierte einen Schnorrer, der sie mit einem hässlichen Trick hierher gelockt hatte und sie nun ausnutzte.

"Haben Sie sich auf dem Einwohnermeldeamt die Anschriften aller Hellwegs besorgt?"

"Ja. Zwei Wochen hab' ich Klinken geputzt."

"Ohne Erfolg?"

"Ohne Ergebnis, die meisten Hellwegs waren nett, einige haben mich ausgelacht, einige reagierten sehr sauer."

"Und was wollen Sie jetzt tun?"

"Nichts mehr." Sinnlos drehte sie ihren Becher hin und her. "Ich kann mich nur noch nicht entschließen, meine Klamotten zu packen und nach Magdeburg zurückzufahren. Obwohl - da finde ich wahrscheinlich auch keinen Job."

"Erzählen Sie mir etwas mehr über Kurt Fröhling." Ganz wohl fühlte er sich dabei nicht in seiner Haut; er hätte schon früher das Gespräch abbrechen müssen. Wenn sie 1966 in der DDR geboren war, konnte Ludwig Baldur, nach dem sich Kurt Fröhling erkundigt hatte, nicht ihr Vater sein. Aber was zum Teufel brachte den Säufer Kurt dazu, Ludwig Baldur zu suchen? Das wollte er doch noch erfahren, bevor er sie enttäuschte.

Dafür, dass sie ihn viele Jahre lang als ihren Vater betrachtet hatte, wusste sie verflixt wenig über ihn. Geboren 1933 in Magdeburg, Volksschule, Mittelschule, Lehre als technischer Zeichner, drei oder vier Jahre in seinem Beruf gearbeitet, dann Aufbaulehrgänge zum Konstrukteur, fünf Jahre in Dessau gearbeitet, Übertritt in die Volksarmee, Beförderung zum Offizier. Damals traten die ersten Alkoholprobleme auf, so hatte er es immer umschrieben.

"Aber da muss noch mehr gewesen sein", sagte sie nachdenklich. "Zwei Jahre später ist er schon aus der NVA geflogen. Warum, weshalb - Fehlanzeige, darüber hat er immer eisern geschwiegen. Überhaupt über seine Vergangenheit, wenn man ihn danach fragt, geht ein Vorhang runter. Er kam dann nach Bitterfeld, war zuerst als Konstrukteur angestellt, na ja, ich hab' Ihnen ja schon erzählt, dass er regelmäßiger Arbeit aus dem Weg ging."

"In Bitterfeld hat er Ihre Mutter kennengelernt?"

Sie nickte, mit den Gedanken weit weg. Gut möglich, dass sie nicht gerade in Liebe an ihn dachte, aber dieses arbeitsscheue Männlein hatte über viele Jahre die Vaterstelle vertreten, und der leibliche Vater Wolfgang Hellweg - wenn es ihn denn gab - war weit weg, zu weit, um Träume zu erfüllen oder sich die Vorwürfe anzuhören, dass er seine Tochter vernachlässigt, vergessen, abgeschoben, verleugnet hatte.

Unschlüssig drückte er seine Zigarette aus. Helfen konnte und wollte er nicht, solche Suchaktionen kosteten Zeit und Geld, und mit beidem musste er sparen. Wobei er genau wusste, dass sie ihm nur in der Hoffnung, er könne etwas für sie tun, so viel erzählt hatte.

"Ich werde mal mit Kurt reden", rang er sich endlich durch. "Nein, nein, ich verspreche nichts, aber vielleicht kann ich ihn so weit einschüchtern, dass er mir mehr erzählt als Ihnen."

"Sie meinen, er verschweigt mir etwas?"

"Vermutlich. Sie haben ja selbst gesagt, dass er nicht gerne über seine Vergangenheit redet."

Versonnen nickte sie.

"Ja, wissen Sie, die Sache mit Kurt und meinem - Vater..."

Er hatte mit sich gewettet, dass sie freiwillig darauf zurückkommen würde. Vielleicht machte sie sich falsche Vorstellungen von dem, was ein Privatdetektiv leistete, vielleicht brauchte sie nur jemanden, mit dem sie einmal reden durfte. Oder einen, der auch nur zuhörte. Die Selbstsicherheit hatte sie nicht erfunden, die Schnoddrigkeit war nur ein Schutzschild, und einem Fremden, der nachher seines Weges ging, ließ sich mehr anvertrauen als einem guten Bekannten.

Über einen Teil ihrer Motive konnte sie sich Rechenschaft ablegen. Wahrscheinlich wäre sie nicht so verrückt, dem Phantom ihres - wirklichen Vaters nachzujagen, wenn sich Kurt einmal etwas um "seine" Kinder gekümmert hätte. Aber er war selbst in den Phasen, in denen er arbeitete, herzlos, gleichgültig und abweisend, so, als störten Jutta und sie ihn nur. Und im Tran tat er manchmal so, als kenne er sie gar nicht.

"Verstehen Sie? Ich habe das Gefühl, als habe man mir..." Sie suchte nach dem richtigen Wort, und er ergänzte: "Etwas vorenthalten."

"Ja, genau. Nicht Geld oder so, obwohl das immer so knapp war, dass wir...nein, etwas anderes." Noch brachte sie das Wort nicht über die Lippen, und diesmal half er ihr nicht.

Kurt hatte nie verraten wollen, wo ihm "der Schönling" begegnet war; sobald sie das Thema anschnitt, zog er ein pfiffiges Gesicht und wimmelte sie ab: "Das würdest du mir doch nie glauben." Deshalb weigerte er sich auch konsequent, sie auf seinen "Suchgängen", wie er es nannte, mitzunehmen. Als ihr gespartes Geld zur Neige ging, war sie ihm einen Tages heimlich gefolgt, wobei sich ihr dumpfer Verdacht bestätigte: Kurt suchte in Kneipen, in jeder brauchte er gerade so lange, wie er ein Bier kippte.

"Wohnt er bei Ihnen?"

"Um Himmels willen, nein. Er ist jetzt in diesen Abbruch-Häusern an der Kanalbrücke untergekrochen."

Ursprünglich besaß er sogar eine winzige Einraum-Wohnung in der Rheinstraße; dann war ihr Geld verbraucht, sie fand mit viel Glück den Job im Rosa Ferkel und musste ihren Zuschuss an Kurt reduzieren. Daraufhin zahlte Kurt seine Miete nicht mehr und flog drei Monate später aus dem Apartment; seitdem hauste er in den Abbruchhäusern.

"Wissen Sie, wo genau?"

"Das Haus ganz links, zweiter Stock, mittlere Tür. Wenn's die noch gibt." Einen Moment starrte sie auf seinen Notizblock. "Und jetzt sieht es so aus, als hätte ich ihm doch Unrecht getan."

Er drückte sich die Daumen. Bis jetzt hatte sie noch nicht gefragt, weshalb er Wolfgang Hellweg suchte, und er schwankte, ob er sie dann belügen oder die Antwort verweigern sollte. Mit der Wahrheit würde er nicht herausrücken, solche Vorsicht war ihm in Fleisch und Blut übergegangen.

"Das verstehe, wer will", murmelte sie, noch immer entgeistert bei dem Gedanken, sie habe Kurt fälschlich verdächtigt, aber zu seiner Erleichterung bohrte sie nicht weiter.

"Fein, vielen Dank, Frau Fröhling. Ich melde mich wieder bei Ihnen - und dann erscheine ich etwas später als heute."

"Ach, das macht nichts, eine halbe Stunde später hätte mich der Wecker aus dem Bett geschmissen."

"Wissen Sie, wo ich Kurt jetzt aufgabele?"

"Nein, wo er seine Tage versäu...verbringt, weiß ich nicht. Aber abends, so nach 22 Uhr, treffen Sie ihn mit Sicherheit in Pauls Pinte - kennen Sie die Kneipe?"

"Oh ja", seufzte er mitfühlend, und als sie lachte, hatte er das Gefühl, dass sie Vertrauen zu ihm gefasst hatte.

Vom Simmersweg zur Bredener Straße musste er die ganze Stadt durchqueren. Obwohl er viel fuhr, hatte er den Eindruck, dass die Straßen von Tag zu Tag voller wurden. Solange die "Objekte", die er beschattete, auch hinter einem Steuer saßen und fluchend in Schlangen dahinkrochen, behinderte es seine Arbeit nicht sehr, aber er fürchtete den Tag, an dem er mit seinem Auto zu einem Ort gefahren war und der Mann, der er beobachten sollte, mit einem Fahrrad vor der Tür erschien. Dann sah er sehr alt aus.

Die Bredener Straße führte am Nordrand von Mingenbach in das Breckerfeld; am Wochenende bildeten sich regelmäßig Staus, wenn alle Städter ins Grüne flüchteten. Unter der Woche war es eine angenehme Wohngegend, etwas einsam und abgelegen, ohne Auto war man aufgeworfen, aber recht ruhig und mit viel Grün. Im Norden und im Süden senkten sich die Höhen des Flusstales und verkümmerten zu sanften Hügeln, die sich in der Ebene im Westen verloren. Alles, was Krach verursachte, Eisenbahn, Kanal und Autobahn, wich nach Norden aus.

Das Haus Nummer 81 gehörte zu einer älteren Siedlung. Zweistöckige Klinkerbauten mit jeweils zwei Eingängen standen quer zur Straße, zwischen den Zeilen gab es viel Rasen und Gebüsch, außerdem Stellplätze für Wagen und Müllcontainer; Garagen entdeckte er nicht. Und auch keine Leuchten außer den Lampen direkt neben den Hauseingängen. Er schlich mit Tempo 30, bis er rechts einen gepflasterten Weg entdeckte, der nach Norden führte und vor einem Betriebshof des Städtischen Grün- und Friedhofamtes endete. Hundert Meter vor dem Tor fand sich ein sicheres Plätzchen für seinen Wagen; er schloss ab und nahm nur das Fernglas mit.

Die Siedlung lag jetzt rechts von ihm, er stapfte auf einem Feldweg durch lichten Krüppelwald, unterbrochen von Wiesen mit Büschen und einzelnen Baumgruppen. Um diese Zeit hatte er das ganze Gelände für sich. Bei nächster Gelegenheit hielt er sich rechts, vor ihm tauchten die Schmalseiten der Häuserzeilen auf, und wenn er richtig gezählt hatte, lief er genau auf das Doppelhaus mit den Nummern 79 und 81 zu. Zehn Minuten später machte er es sich hinter einem Gebüsch bequem, das ihn davor schützte, von den Häusern aus bemerkt zu werden, aber den freien Blick per Fernglas auf den Hauseingang Nummer 81 nicht behinderte. Fliegen, Käfer, Wespen und Mücken schienen sich über den Neuzugang zu freuen und begrüßten ihn intensiv.

Vor den beiden Häusern parkte jetzt kein Auto. Die meisten Bewohner waren wohl berufstätig, eine Stunde später hörte er, dass Kinder mit dem Bus, der auf der Bredener Straße hielt, nach Hause kamen. Hoffentlich mussten sie Schularbeiten machen und deswegen drin bleiben!

Der Sekundenzeiger log, hüpfte zwar in unverändertem Rhythmus, aber die Minuten dehnten sich immer länger. Wenn er eines Tages mal viel Zeit und Geld haben sollte, würde er ein Buch schreiben, Die Technik des Wartens, oder: Wie ich meine Ungeduld meistere, auf diesem Gebiet deuchte er sich mittlerweile als Experte. Etwa ab der dritten Stunde wurde es gefährlich; dann hatte er durch eine Art autogener Selbstkontrolle Unruhe und Blutdruck so weit abgesenkt, dass er einzuschlafen drohte.

So weit kam es nicht. Gegen 16 Uhr rangierte ein blauer Wagen auf einen Stellplatz, er setzte das Glas an und richtete es auf den Mann, der ausstieg, abschloss und zur Haustür schlenderte. Ja, das war der Knabe, den er vor seiner Bürotür gesehen hatte. Recht groß, fast 1,90 Meter, und kräftig, sportlich. Dunkle, glatt nach hinten zurückgekämmte Haare. Eine Minute später wurden im ersten Stock rechts zwei Fenster geöffnet. Der ordentliche Mieter lüftete.

Bis 17 Uhr waren viele Bewohner heimgekehrt, die Stellplätze füllten sich. Auf der Straße, die er von seiner Position aus nicht sehen konnte, herrschte hörbar mehr Verkehr. Der große Mann hatte inzwischen die Fenster wieder geschlossen.

Gegen 17.25 Uhr zahlte sich seine Geduld aus. Neben den Wagen in Blaumetallic rangierte ein knallgelber Zweisitzer, einer dieser Minijapaner. Den Fahrer konnte er erst sehen, als er hinter den Autos hervorkam und auf die Haustür Nummer 81 zuging. Eine Frau, er grinste zufrieden, unverkennbar seine Besucherin von heute morgen, die flotte Reporterin vom Stadtradio, Silke Glas. Der Saum des kurzen Kleidchens wippte sehr verführerisch, aber er richtete das Glas doch etwas höher aus und stellte fest, dass sie die Haustür mit einem Schlüssel öffnete. Na, das war doch was! Auf ihrer Visitenkarte stand als Privatadresse Rauchstraße 114.

Eine halbe Stunde tat sich nichts, dann traten der große Mann und Silke Glas zusammen aus dem Haus. Beide trugen sie graue Jogginganzüge und Turnschuhe; er hatte eine anscheinend recht schwere lederne Tragetasche über die Schultern geschwungen, sie schlenkerte eine weiße Tennistasche.

Er wartete, bis sie in dem blauen Auto davongefahren waren, und machte sich auf den Rückweg. Sein Glück blieb ihm gewogen, keine Minute, nachdem er aufgestanden war, begegnete ihm ein alter Mann, der ihn zuerst misstrauisch musterte. Das große Fernglas war auch recht auffällig, aber Kramer grüßte leutselig und bemerkte im Vorbeigehen: "Es gibt wieder Neuntöter."

"Ach wirklich?"

"Das Nest hab' ich noch nicht entdeckt."

Der Alte grinste und entblößte dabei ein schadhaftes Gebiss mit großen Lücken, Kramer wedelte freundlich mit einer Hand und stiefelte weiter. Vogelnarren genossen Narrenfreiheit.

Weisbart - umgeben von Zetteln, Notizblocks und aufgeschlagenen Lose-Blatt-Gesetzessammlungen - malträtierte seine Tastatur, und Kramer hockte sich still in ein Eckchen. Die Redaktion befand sich im Endspurt, überall klickten die Tasten, für jemanden, der noch nie miterlebt hatte, wie eine Zeitung entstand, herrschte eine irritierende Stille. Selbst die Telefone waren leise gestellt, und laute Gespräche waren in diesen Minuten verpönt. Ab und zu quäkte ein Kassettengerät, bis der Lautstärkeregler sofort heruntergedreht wurde. Mit Großraumbüros hatte er sich nie anfreunden können, aber die Mannschaft besaß die nötige Disziplin, darin arbeiten zu können. Sogar Weisbart flüsterte: "Komm, wir verziehen uns in die Kantine."

Dort fanden sie noch einen kleinen Tisch, legten ihre Sachen ab und bedienten sich an der langen Theke.

"Ein Informant", brummte Weisbart an der Kasse, auf ihn deutend, und die Frau lachte breit: "Über was informiert er dich denn? Über die neueste Biermarke?"

"Na klar doch. Alkoholfrei, mit viel Vitaminen und Malz für stillende Mütter."

"Ich möcht' schon mal wissen, womit man dich gestillt hat", murmelte sie, während sie die Preise eintastete.

"Bei uns auf dem Lande wurden die Kühe mit Treber gefüttert, und das ist halt bis in die Milch durchgeschlagen."

Für eine Kantine war das Essen recht ordentlich, fand er, und Weisbart stimmte brummig zu.

"Sag mal, kennst du eine Silke Glas, die beim Stadtradio arbeitet?"

"Ja, leider. Warum fragst du?"

"Sie war heute bei mir im Büro, weil ein älterer Kollege meine Anzeige gesehen hatte und sich an den Fall Edith Troy erinnerte."

"He, Exklusivnachrichten gehören vertraglich mir, vergiss das nicht! Schließlich bezahlen wir für dich unser teures Archiv."

"Keine Sorge, ich hab' ihr nichts verraten. Was ist sie so für ein Typ?"

Eine ganze Weile kaute Weisbart stumm. "Also, ein großes Kirchenlicht ist sie nicht. Aber das ist ja bei denen auch nicht gefragt, wenn du ein Mikrophon hinhalten und nett aussehen kannst, ist deine Karriere gesichert."

Nun ja, diese Boshaftigkeit ging auf das Konto gegenseitiger Abneigung zwischen Funkleuten und Schreiberlingen.

"Ich mag sie nicht, um ehrlich zu sein - nein, nein, frag' mich nicht nach einem Grund, den hab' ich nämlich nicht. Ich trau' ihr bloß nicht."

"Etwas deutlicher hätt' ich's schon gerne, Holger."

"Tja, deutlicher...also, erstens ist sie älter, als sie so tut. Mindestens zehn Jahre älter als das Junggemüse, das da rumkreucht und -fleucht und sich in die Tasche lügt, es würde Journalismus treiben."

"Und zweitens?"

"Sie ist nicht ganz bei der Sache."

"Du meinst, sie säuft abends nicht in der Handschelle."

"Nein, das tut sie auch nicht." Holger hatte seinen Spott glatt überhört. "Ich weiß nicht, wie ich - sie kommt mir immer vor wie eine Hausfrau, die es eigentlich gar nicht nötig hat, Geld zu verdienen, und deswegen keinen Beruf ausübt, sondern sich beschäftigt, sich die Langeweile vertreibt, na ja, eine Art Hobby pflegt."

"Und was ist sie sozusagen hauptberuflich?"

"Keine Ahnung. Wir reden nicht miteinander."

Kramer musterte ihn erstaunt. Holger Weisbart redete mit jedem Menschen und gelegentlich, wenn er in Fahrt geraten war, auch mit Wänden, Tischen und leeren Stühlen. Aber mit dieser zierlichen Brünetten wollte er nicht einmal quatschen.

"Sie ist hier vor fünf, sechs Jahren aufgetaucht, und vom Handwerk versteht sie immer noch weniger als nichts."

Ein schlimmeres Verdikt konnte Holger nicht fällen.

"Na, vielen Dank, ich werde sie also nicht verführen."

"Das würde dir auch nicht gelingen, mein Bester. Sie scheint in festen Händen zu sein, so ein großer, langer Unsympath, dem ich nicht einmal dann die Uhrzeit sagen würde, wenn er flehend und winselnd vor mir auf den Knien läge." Für Holgers Verhältnisse kam das einem Ausbruch von Hass sehr nahe, aber seine schmalen Lippen verkündeten leider auch, dass er die Gründe für seine Abneigung nicht offenbaren würde.

"Kennst du den Kerl näher?"

"Nein, das nicht. Er heißt Wolzek, Martin Wolzek, bezeichnet sich als Makler, aber womit er sein Geld wirklich verdient, hat noch keiner herausgefunden."

"Keiner heißt - keiner deiner Kollegen?"

"So etwa. Er ist mit dieser Glas hier aufgetaucht und spielt sich manchmal als ihr Beschützer auf."

"Hat sie das denn nötig?"

Darauf antwortete Holger nicht mehr, sondern schnaufte, schniefte und räusperte sich ausgiebig. Auskünfte zu erteilen empfand er als Zumutung; die Menschheit war umgekehrt verpflichtet, ihm Informationen zu liefern, allenfalls fand er sich zu einem Tauschgeschäft bereit, und Kramer kratzte schnell die Kurve, bevor Weisbart seiner unersättlichen Neugierde zu frönen begann. In der Verlagskantine genoss Holger Heimvorteil.

Pauls Pinte lag im Norden der Stadt, keine fünfzig Meter vom Kanal entfernt, und war so ungefähr die schäbigste und hässlichste Kneipe, die er je gesehen hatte, auf dem lautesten und schmutzigsten Fleck, den man sich vorstellen konnte. Hier vereinigten sich zwei aufgeständerte, vierspurige Straßen zur Brückenauffahrt des Autobahnzubringers über den Kanal, tagsüber herrschte das akustische Inferno, wenn die dicken Brummis vor den Ampeln hielten und dann mit röhrenden Motoren und langen, blauen Auspuff-Fahnen die Steigung hinaufkrochen. Pausenlos schien alles zu beben und zu dröhnen, die Luft zum Atmen wurde knapp. Direkt unter die Betondecke des östlichen Zweiges, zwischen zwei Pfeiler, hatte Paul seine Pinte geklemmt, als traue er der Dichtigkeit des überstehenden Flachdaches nicht. Der ursprünglich wohl gelbe Anstrich hatte sich zu einem trostlosen Grau verfärbt, auf einigen Scheiben waren die Risse mit Pflaster gesichert worden, in der Baracke ging ziemlich regelmäßig einiges zu Bruch, und Paul sparte an Reparaturen. Wie auch an Mobiliar, Toiletten und Spülmitteln; er hatte sich einmal in dem erstaunlich großen Schuppen ein Bier bestellt und das Glas angewidert stehen lassen. Wer hier soff, konnte nicht mehr tiefer sinken, und diese Tatsache zog viele an, die bereits gestolpert waren und sich hier bei ihren Mitsäufern nicht mehr rechtfertigen und verteidigen mussten. Paul, zwei Zentner Muskeln und kein Gramm Mitleid, verhinderte handgreiflich Schlägereien und kassierte, bevor er ein volles Glas absetzte. Wer stänkerte oder nicht mehr löhnen konnte, fand sich umgehend vor der Tür an der "frischen" Luft wieder. Obwohl "frische Luft" auch nur so eine dumme Redensart war; der Autoverkehr auf der Brücke hatte wohl nachgelassen, dafür setzte sich in der schwülen Abendhitze der faulig-feuchte Geruch vom Kanal durch.

Vorsichtshalber schlug Kramer einen Bogen und näherte sich von der Rückseite den beiden Kneipen-Fenstern. Gardinen gab es nicht, er schielte in das Innere. Von Kurt Fröhling nichts zu sehen. Die meisten Gäste saßen zwar schon vornherüber gebeugt, aber hielten sich noch auf den Stühlen. Paul griff erst dann ein, wenn einer den Kopf auf den Tisch legte, um einzuschlafen, oder auf den Boden gekippt war. "Hier ist kein Hotel", brummte er ungerührt, ein Griff an den Kragen, und manche kamen erst auf die Füße, wenn er sie vor der Tür losließ. Andere packten es auch dann noch nicht und lagen wie die schlaffen Puppen in dem Lehmmatsch. Niemand kümmerte sich um sie, aufstehen und davontaumeln mussten sie aus eigener Kraft. Aber so unangenehm Paul auch war: Der Wirt war ehrlich, kassierte nur, was ihm zustand, und schlug brutal zu, wenn ein Säufer den anderen bestehlen wollte.

Rechts von der Brücke erstreckte sich ein unbebautes Gelände, das sich bis zum Kanal hinzog und mit Bauwagen, Campinganhängern und Hütten vollgestellt war. Hier schlüpfte unter, wer die Miete seit Monaten nicht mehr zahlen konnte und seine Schlichtwohnung verlassen musste, Arbeitslose und Säufer, Stadtstreicher und Ganoven, Arme und Asoziale, es war eine brisante Mischung. Schlägereien und Überfälle gehörten zur Tagesordnung, alle Welt schimpfte über diesen "Schandfleck", der gleichwohl stillschweigend geduldet wurde, weil kein Mensch wusste, wohin sonst mit den Bewohnern. Die Polizei hütete sich, hier aufzukreuzen, es war ein Stück gesetzloses Niemandsland geworden. Die Bewohner der wilden Siedlung mieden Pauls Pinte, belästigten auch die Schattengestalten nicht, die hier verdurstend strandeten oder unfreiwillig die Kneipe verließen. Warum das so war, wusste niemand, er konnte sich nur vorstellen, dass Paul und sein ähnlich rücksichtsloser Helfer mit Montiereisen und Totschläger eine Grenze markiert hatten. Eine unsichtbare Grenze existierte auch zu der Reihe alter Häuser auf der anderen Seite der wilden Siedlung. Offiziell waren sie wegen Baufälligkeit geräumt, aber standen beileibe nicht leer, sondern waren längst von Obdachlosen besetzt.

Unschlüssig rieb Kramer sich das Kinn. Die Idee, hier auf Kurt zu warten, war wohl doch nicht so gut gewesen. Er stand neben seinem Auto und überlegte.

Dann passierte alles erschreckend schnell. Vier Autos bogen plötzlich mit hohem Tempo von der Straße ab und rasten auf die Siedlung zu, bremsten kurz vor der ersten Reihe von Bauwagen, dass Erde und Steine hochwirbelten. Zehn, zwölf Gestalten sprangen heraus, alle von Kopf bis Fuß dunkel gekleidet, er brauchte einen Moment, bis er begriff, dass sie alle vermummt waren. Und Gegenstände in den Händen trugen. Wie die Irren rasten sie auf die Wagen zu, die von den Scheinwerfern ihrer Autos hell erleuchtet waren, und schwangen wie auf Kommando drei, vier Meter vor der ersten Bauwagen-Reihe die Arme, mehrere dunkle Klumpen flogen in hohen Bögen weit in die Siedlung hinein. Noch vor dem Aufprall machten die Vermummten kehrt und hasteten zu ihren Autos zurück. Es sah aus, als hätten sie diese Aktion lange geübt, damit sie in kürzester Frist und völlig synchron ablief. Dann knallte, krachte und fauchte es, Blitze schossen in den dunklen Himmel hoch. Die Autos der Täter hatten sich bereits in Bewegung gesetzt, auch das mussten sie geübt haben, mit Vollgas jaulten sie rückwärts und beschrieben dabei Halbkreise, um zu wenden, ohne sich gegenseitig zu behindern.

Hinter der dunklen Silhouette der Bauwagen flackerte es hell, die ersten Schmerzensschreie und verzweifelten Rufe.

Um zu ihren Autos zu kommen, die nach dem Rückwärts-Manöver mit kreischenden Reifen in großen Abständen anhielten, mussten sich die Attentäter jetzt trennen. Vier Dreiergruppen, jeder wusste genau, wohin er gehörte, das war geübt, trainiert - dann klappten Autotüren, Motoren heulten auf, vier Autos schossen davon und bogen mit quietschenden Reifen in die Straße ein. Das Ganze hatte keine Minute gedauert.

Über den Dächern der Bauwagen stiegen Flammen auf.

Auch er hatte wie gelähmt dem Überfall zugeschaut. An den Stellen, wo die Autos die Attentäter wieder aufgenommen hatten, lagen weiße Zettel auf dem Boden. Aus Pauls Pinte strömten die ersten Neugierigen, die sich noch auf den Beinen halten konnte, einige liefen in Schlangenlinien auf die Siedlung zu. Warum er sich ihnen anschloss, wusste er selbst nicht so genau. Was konnte er schon helfen - dann trat er auf eines der Blätter, stockte und hob es auf.

"Bleibt da weg, ihr Arschlöcher", röhrte eine Stimme von der Pinte her. "Die Feuerwehr kommt schon."

Eigentlich hatte er keine Lust, sich jetzt mit der Polizei auseinanderzusetzen - er machte kehrt und ging rasch zu seinem Auto zurück. Niemand achtete auf ihn, die Männer torkelten durcheinander wie die aufgescheuchten Hühner, nachdem der Fuchs in den Stall eingebrochen war.

Erst vor seiner Garage studierte er das Blatt, das er aufgehoben hatte. Auf der einen Seite waren drei große D aufgedruckt, darunter stand in kleinerer Schrift: Deutschland den Deutschen. Auf der Rückseite las er: "Wir brauchen keine Schmarotzer, Faulpelze und Schnorrer. Ehrliche Arbeit schändet nicht."

Also Rechtsradikale. Mit spitzen Fingern schob er den Zettel ins Handschuhfach und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Aktion Drei D. Auf ihr Konto gingen mehrere Anschläge, über die das Tageblatt ausführlich berichtet hatte. Brutale, rücksichtslose Taten, immer präzise und schnell von einer trainierten Bande ausgeführt. Die letzte in der Böttgergasse.

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