Читать книгу Die Horst Bieber Krimi Sammlung 2021: Krimi Paket 8 Romane auf 1500 Seiten - Horst Bieber - Страница 20

Zweiter Donnerstag

Оглавление

Für das Tageblatt war der Anschlag zu spät passiert, aber Stadtradio überschlug sich mit Schauermeldungen. Nicht ausgeschlafen und gähnend saß Kramer bei einem verspäteten Frühstück und lauschte. Vierzehn Verletzte, zum Glück keine Toten, der größte Teil der Bau- und Campingwagen und Hütten eingeäschert. Flugblätter, am Tatort zurückgelassen, bewiesen, dass es sich wieder einmal um ein Verbrechen der Aktion 3D handelte: Deutschland den Deutschen. Mindestens zehn Vermummte waren an dem Anschlag beteiligt gewesen, offenbar in vier kurz zuvor gestohlenen Autos vorgefahren: die Polizei hatte am frühen Morgen die vier Wagen gefunden. Sonst keine Hinweise auf die Täter. Und jetzt ein Kommentar des Oberbürgermeisters...

Er schaltete um auf "Kanal Klassik". Mehr hatte er auch nicht gesehen, und deshalb würde er sich eine Aussage bei der Polizei schenken. Auch, um das hässliche, misstrauische Schnarren zu vermeiden, das er schon kannte, wenn er seinen Beruf nannte: "Ach nee! Was hatten Sie denn um diese Zeit an der Kanalbrücke verloren?"

Der Lärm war wirklich unerträglich, unmittelbar vor der Brückenauffahrt schalteten die Brummifahrer zurück, die Motoren brüllten oder Bremsen kreischten, wenn die Ampeln auf Gelb sprangen. Es stank durchdringend nach Diesel und Glut, auf den Lippen schmeckte er Staub. Dort, wo einmal Bauwagen und Hütten gestanden hatten, dehnte sich jetzt ein großer, immer noch qualmender Trümmerhaufen aus, in dem Menschen wühlten und Asche aufwirbelten. Zwei Männer in Schutzanzügen und mit großen Flaschen auf den Rücken drehten systematisch Holz und Bleche um, auf der Suche nach Schwelnestern. Das Gelände war mit weißrot bewimpelten Schnüren abgesperrt, zwei Polizisten scheuchten die unvermeidlichen Neugierigen fort. Vorsichtshalber schlug er einen Bogen; manche Polizisten kannten ihn.

Ihre Beschreibung stimmte: das Haus ganz links, das mit der Schmalwand an die Treidelbahn stieß, zweiter Stock, mittlere Tür. Namensschilder und Klingeln gab es nicht mehr, was nicht niet- und nagelfest war, hatte längst seinen Weg zum Altwarenhändler gefunden, bis hin zu den Handläufern des Treppengeländers, und als er mit den Knöcheln gegen die Tür pochte, schwang sie auf.

"Hallo? Herr Fröhling? Sind Sie da?" Irgendwo polterte es, ein schwerer Gegenstand fiel zu Boden, und dann steckte der kleine Mann furchtsam den Kopf um die Ecke. Auf den ersten Blick hatte er Kramer wiedererkannt, sein Seufzer konnte Steine erweichen.

"Sie sind's."

"Erraten!" Vorsichtig stieg er über mehrere Bündel, die den Flur versperrten. "Elke hat mir gesagt, wo ich Sie finde."

Kurt Fröhling sah elend aus, bleich, aufgedunsen, übermüdet. Aber er schwankte nur ganz wenig, und Kramer erkannte die Angst in seinem Gesicht. Jacke und Hose hatten ein paar neue Knitterfalten und Flecken bekommen.

"Was wollen Sie von mir?"

"Mit Ihnen reden."

"Ich wüsste nicht, worüber." Na ja, das hörte sich eher kläglich als mutig an, und Kramer lächelte großmütig.

"Du suchst einen gewissen Wolfgang Hellweg."

Kurt wagte weder zu leugnen noch zu fragen, woher Kramer das wisse, also nickte er nur zaghaft. Der Wechsel von Sie auf Du hatte ihn erschreckt, das war auch beabsichtigt, Kramer hatte keine Lust, sich an der Nase herumführen zu lassen, und wenn er mit etwas Einschüchterung schneller zum Ziel kam, nutzte es beiden.

"Angeblich hast du ihn hier in der Stadt gesehen."

"Hab' ich auch."

"Wo? Und wann?"

"Da drüben." Seine Hand deutete unbestimmt nach rechts. "Auf'm Friedhof."

Kramer wollte schon aufbrausen, bremste sich aber im letzten Moment. Nein, der verschaukelte ihn nicht, nicht bei dieser Furcht, die sich in seinem Gesicht zeigte.

"Da fahren wir mal hin."

"Muss das sein?"

"Nur ein paar Auskünfte, und du bist mich los, Kurt. Wenn's richtige und ehrliche Auskünfte sind, müsste sogar ein Fuffi für dich drin sein." Kurt folgte ohne Protest.

Früher waren Frachtkähne die letzten Meter bis an die Kais von Lokomotiven gezogen worden; die Treidelbahn gab es schon lange nicht mehr, daran erinnerte nur noch der Name der Straße, die direkt am Ufer entlangführte. Auf der anderen Seite des Kanals lagen Betriebe, an den Kais wurden Schiffe entladen oder beladen. Auf dieser Seite dominierte das Kraftwerk mit einer eigenen Pier, die Straße schlängelte sich um das Werksgelände herum und führte zum Kanalufer zurück. Gut einen Kilometer entfernt, auf dem jenseitigen Ufer, erkannte er das Selatan-Werk und die Fußgängerbrücke. Die ersten Bäume, Häuser, bald musste die Selatan-Werkssiedlung auftauchen.

"Hier ist es."

An dem kleinen Parkplatz wäre er fast vorbeigefahren. Das Wort "Park" grenzte an Hochstapelei, ein paar staubige Bäume, Hecken um einen schütteren Rasen, ein paar Bänke, ein Zaun mit einem Tor.

"Da' is' de' F'iedhof." Kurt hatte Last mit der Aussprache, wahrscheinlich waren Zunge und Mund unerträglich trocken.

"Und auf dem Friedhof hast du Hellweg gesehen?"

"Bestimmt."

"Na, dann zeig mir mal die Stelle!"

Das Gelände war größer, als er vermutet hatte, eine Schmalseite lag am Kanal. Vorsichtshalber konsultierte er den Stadtplan. Bis zum Haupteingang an der Sendener Straße mochte es gut einen Kilometer weit sein. Kurt trottete ergeben, aber zielstrebig voran. Nach zweihundert Metern öffnete sich ein freier Platz, in der Mitte stand ein steinernes Kreuz mit der Inschrift: "Zum Gedenken an die Opfer des Bombenkrieges 1942-1945".

"Hier waren wir manchmal, wenn das Wetter schön war."

Das "wir" musste er nicht erklären. Hölzerne Bänke, kaum Besucher tagsüber, Sonne und keine Störung, für Saufbrüder ein geeigneter Treffpunkt. Wahrscheinlich empörten sich ab und zu Friedhofsbesucher über die pietätlose Bande und alarmierten die Polizei, die vertrieb die Gesellschaft, aber sie konnte nicht ewig patrouillieren. Und die Toten störte es nicht, wenn hier die Flaschen geschwungen wurden.

"Na gut. Hier hast du also Hellweg gesehen."

Er setzte sich, und Kurt folgte ihm, allerdings so weit entfernt wie möglich.

"Mach' die Zähne auseinander. Ein Fünfziger ist drin, wenn du redest, sonst riskierst du wirklichen Ärger."

"Wir haben da drüben gesessen." Er zeigte auf eine andere Bankgruppe. "Und dann stand er da, guckte auf ein Grab." Wieder eine unbestimmte Bewegung, aber die Richtung wurde annähernd klar. "Vier, fünf Minuten, ich hab' ihn ganz deutlich geseh'n, es war dieser - dieser..."

"Nun mach' den Mund schon auf!"

"Dieser Schönling. Der der Marga das Kind gemacht hat, die Elke."

"Eben hast du ihn Hellweg genannt."

"Das war - das war..." Kurt schluckte, räusperte und krächzte, dann schien die Kehle frei. "Das war doch ganz anders. Als er da stand und auf das Grab guckte, hab' ich ihn wiedererkannt, klar, das war der Knabe, der da mit Marga herumgeturtelt hatte."

"Du meinst, etwa ein Jahr vor Elkes Geburt? In Bitterfeld?"

"Ja, genau. Aber ich hab' mir nichts dabei gedacht..."

"Von welcher Zeit redest du jetzt?"

"Als ich ihn da drüben stehen sah. Klar, wiedererkannt hab' ich ihn, sieh mal an, dachte ich mir, unser Schönling. Aber in Bitterfeld, in den sechziger Jahren, bin ich ihm gern aus dem Weg gegangen. Sie sind nicht von drüben?"

"Nein."

"Tja, dann können Sie sich das schlecht vorstellen. Damals hab' ich ihm nicht über den Weg getraut. Er sah aus wie ein Westdeutscher, benahm sich auch so, aber unsere verehrte Staatssicherheit klebte ihm immer an den Hacken, wir kannten die Typen doch alle im Werk, nee, da hielt man besser Abstand."

"Du hast gegenüber Elke behauptet, der Schönling sei ein MfS-Mann gewesen."

"Glaub' ich auch heute noch. Na gut, vielleicht kein Mitarbeiter, kein DDR-Bürger, aber er hatte mit Mielkes Mannschaft was zu tun, und deswegen - besser Abstand."

"Seinen Namen hast du damals, in den sechziger Jahren, nicht erfahren?"

"Nee! Und mit der Marga - na, zwischen uns wurde das erst später so richtig was, da war die Elke schon auf der Welt."

"Hat dich nie interessiert, wer Elkes - Erzeuger war?"

"Die Marga sagte immer, wer viel weiß, bekommt viel Kopfschmerzen, und deswegen - und neugierig bin ich sowieso nicht."

Kramer lachte amüsiert und beschloss, ihm diese Lüge durchgehen zu lassen.

"Ich hab' die Margarethe später geheiratet und gesagt, dass die Elke von mir wär'."

"Aber sie war von diesem - Schönling?"

"Jau, sicher. Nach Margas Beerdigung behauptete die Elke nun, sie hätt' von ihrer Mutter gehört, der Knabe hätt' Hellweg geheißen, Wolfgang Hellweg, aber das glaub' ich nicht."

"Warum denn nicht?"

"Wenn der bei der Stasi war, und darauf fress' ich mein letztes Hemd, wird der Kerl der Marga gerade auf die Nase gebunden haben, wie er richtig heißt!"

"Und wann hast du diesen Schönling da drüben vor dem Grab gesehen?"

Kurt drehte den Kopf und sah ihn furchtsam an: "Das war im Sommer 1990. Genauer weiß ich's nicht mehr. Damals war ich - ziemlich auf den Hund gekommen. Meistens haben wir hier gesoffen, wenn das Wetter schön war."

"Schön. Dann hat dir Elke im vorigen Jahr untergejubelt, dass dieser Schönling Wolfgang Hellweg geheißen haben soll und ihr Vater ist. Sein soll."

"Ja...aa."

"Du hast Elke erzählt, dass du ihren - Vater hier im Sommer 1990 gesehen hast. Und dass du ihr helfen willst, ihn hier zu suchen."

"Ja..aa." Das kam noch leiser heraus.

"Gut, einen Grund kapier' ich. Elke hatte etwas gespart, du brauchtest viel Geld für Bier und Schnaps, und sie hat dich hier unterstützt."

Nun nickte er sehr jämmerlich und zog den Kopf zwischen die Schultern.

"Alles klar, Kurt. Aber seit du hier bist, hast du keinen Schritt getan, um Wolfgang Hellweg zu finden. Sagt Elke, und ich glaub' ihr das. Doch als ich in einer Anzeige einen gewissen Ludwig Baldur suche, schneist du mir postwendend ins Büro. Diesen Widerspruch wirst du mir jetzt erklären."

An der Art, wie Kurt sich duckte und ihn von der Seite anschielte, erkannte er, dass der Kleine mit dieser Frage gerechnet hatte. Seit Beginn ihres Gesprächs, seit er wusste, dass Kramer bei Elke gewesen war. Und seltsamerweise zweifelte er in diesem Augenblick auch, dass Kurt ein Alkoholiker war. Sicher, er trank viel, wahrscheinlich mehr, als seine Leber auf Dauer verkraftete, aber er war kein Säufer, dem der Schnaps das Gehirn zerstört und den freien Willen ausgeschaltet hatte. Möglicherweise würde er sich als fiese kleine Ratte entpuppen, aber als eine, die einen Plan oder eine Absicht verfolgte.

Sie saßen noch immer neben dem steinernen Kreuz, ihre Körper warfen lange Schatten auf die Einfriedung, und trotz der Wärme klapperte Kurt mit den Zähnen. Zwei- dreimal drehte er den Kopf hin und her, als denke er ernsthaft an Flucht, aber er wusste so gut wie sein Nachbar, dass er keine Chance hatte, dem Jüngeren zu entkommen. Er steckte in der Falle und brauchte eben einige Minuten, bis er das akzeptierte.

"Na gut, meinetwegen. Kommen Sie."

Kramer war auf der Hut, als er ihm auf einen Weg folgte, der gleich parallel zu dem Platz verlief und an dem links und rechts Gräber lagen. Unvermutet blieb Kurt stehen und murmelte: "Hier hat der Schönling - hier hat Wolfgang Hellweg gestanden."

Für einen Moment verschlug es Kramer den Atem. Es war ein kleines, schmales Einzelgrab, mit Moos überwuchert, und der Stein war grau angelaufen, das Weiß in den Buchstabenrillen nachgedunkelt. Edith Troy, 1935 - 1962. Kurt schniefte, zog die Nase hoch und zerrte ein Taschentuch hervor, trompetete laut und wischte sich den Mund mit dem Fetzen ab.

"Bist du sicher?", fragte Kramer und hörte selbst, dass seine Stimme tonlos geworden war.

"Ganz sicher. Der Schönling hatte einen Blumenstrauß bei sich, und später, als er schon wieder weg war und mir einfiel, dass die Edith hier liegt, bin ich hin. Da stand der Strauß in so einer Steckvase. Ohne Wasser."

"Die Edith?" Die Stimme wollte ihm noch nicht gehorchen.

"Sie war meine Schwester. Meine Halbschwester", verbesserte er automatisch und schien zum ersten Mal keine Furcht mehr vor Kramer zu haben. Seine Stimme klang anders, vielleicht, weil er sich entschlossen hatte, endlich auszupacken.

"Setzen wir uns wieder? Ich denke, du musst jetzt auch den Rest der Geschichte erzählen." Ja, wenn sie auf den Bänken am Kriegerkreuz gesoffen haben sollten, hatte er den "Schönling" erkennen können. Keine zwanzig Meter Entfernung.

Die ersten Züge sog Kurt tief und gierig ein, hustete ausgiebig und rauchte dann langsamer. Ja, sie waren Stiefgeschwister. Er war 1932 geboren, in Königsberg, und seine Mutter war auf der Flucht umgekommen. Sein Vater hatte eine Kriegerwitwe geheiratet, Elisabeth Troy hieß sie und brachte eine Tochter mit in die zweite Ehe. Edith, drei Jahre jünger als Kurt. Ja, so war das. Die Geschwister verstanden sich so lala, und keiner weinte, wenn der andere seine eigenen Wege ging. Die Edith war zielstrebig und hatte große Flausen im Kopf, bei ihm tickte alles etwas langsamer. Bis zum 17. Juni 1953. Tja, sein Alter - sein Vater hatte auch demonstriert. Früher Offizier in der Wehrmacht, da wurde man vom Genossen Ulbricht nicht gerade geliebt, auf dem Bau durfte sein Vater schuften, um sich in die Arbeiter- und Bauernmacht einzureihen. Abends kam er nicht nach Hause. Zwei Tage später klopfte die Vopo morgens um vier Uhr. Ein Querschläger hatte ihn erwischt, bis zu seinem Bruder in die Gartenlaube hatte er sich noch geschleppt, dort war er elendig krepiert. Weil er keinen Arzt holen wollte - und auf keinen Fall ins Krankenhaus. Schließlich kannte er die roten und die sowjetischen Brüder.

"Ihr im Westen habt ja keine Ahnung, was da im Juni 53 bei uns alles an Schweinereien passiert ist."

Statt einer Antwort hielt ihm Kramer das Zigarettenpäckchen hin, und Kurt bediente sich, jetzt umständlich und sehr langsam, mit seinen trüben Gedanken weit weg.

Na, also der Vater war tot, und sein Bruder - Kurts Onkel, wurde verurteilt. Kam nach Bautzen. Musste er mehr sagen? Na ja, Schwamm drüber. Und Technischer Zeichner, nee, das war nicht die Erfüllung seiner Träume. Zum Militär wollte er. Schien völlig aussichtslos, Sohn eines Wehrmachtsoffiziers, der bei einem konterrevolutionären Aufstand erschossen worden war. Was hatte er seine Familie verleugnet, seinen Vater posthum angeschwärzt, gekatzbuckelt vor Parteibonzen, Phrasen gedroschen, freiwillige gesellschaftliche Aktivitäten geleistet, bis ihm die Knochen knackten. Schlimme Zeit. Marx und Lenin gebüffelt, die Kleine Geschichte auswendig gelernt, na, eines Tages war's so weit. Der Sozialismus hielt ein Wunder für ihn parat: Der bekehrte Sohn eines Verbrechers wurde für würdig befunden, den Arbeiter- und Bauernstaat zu verteidigen, nach innen und außen. Ein Beispiel, ein Musterfall, eine exemplarische Erziehung zu den Idealen des Sozialismus. Ein paar Wochen war er richtig eine lokale Berühmtheit. Seine Stiefmutter und Edith wechselten danach kein Wort mit ihm. Einige seiner besten Freunde auch nicht mehr. Und das ging ihm doch stärker an die Nieren, als er gedacht hatte. Das und der Schnaps.

Schön, das Militär wurde nicht ganz das, was er sich erträumt hatte, aber vielleicht hätte es doch geklappt, wenn nicht die Stiefmutter gestorben und die Edith in den Westen abgehauen wäre. Aus, republikflüchtige Stiefschwester, ein paar kleinere Alkoholdelikte, Schlägerei mit einem Vorgesetzten, die Volksarmee verzichtete dankend auf ihn. Der Rest war schnell erzählt. Bitterfeld, da und dort gearbeitet, Marga mit dem unehelichen Kind und dann seine Jutta, ein, zwei Jahre sah's so aus, als könne er sich fangen, aber dann... er breitete die Arme aus und warf die Zigarette zu Boden, wo er sie mit unnötiger Heftigkeit zertrat. Und so ein elender Verbrecher brachte die Edith um.

"Dafür hat Ludwig Baldur zwölf Jahre im Gefängnis gesessen."

Klar, wusste er. Aber hatte er sich nicht klar genug ausgedrückt? - der Baldur hatte zwei Leben auf dem Gewissen. Ediths und seines. Und dafür sollte er zahlen, deshalb suchte er den Kerl. Wenn man sich das vorstellte - brachte einen Menschen um und blieb trotzdem Millionär. Konnte sich alles leisten. Und er, Kurt, das zweite Opfer? Musste Elke anbetteln, nee, da stand noch eine Rechnung offen. Eine große sogar. Aber der Kerl war wie vom Erdboden verschluckt. Deswegen tauchte er in der Privatdetektei Kramer auf, nachdem er die Anzeige gelesen hatte...

"Ich habe ihn noch nicht gefunden", beteuerte Kramer. Es schien Kurt nicht wirklich zu interessieren.

"Und ich Esel - nur wegen dieses verdammten Saufens - ich lass mir die Chance entgehen."

"Welche Chance?"

"Mir diesen Ludwig Baldur vorzuknöpfen."

"Wann? Wo?"

"Na, den Schönling. Da am Grab der Edith. Das war doch wohl der Ludwig Baldur."

Kramer saß ganz still. Seine Gedanken wirbelten durcheinander, es brodelte in seinem Gehirn, Ideen funkten wie Blitze, bis er nach Atem rang und sich zur Ordnung rief. Endlich ordneten sich die Mosaiksteinchen zu einem schrecklichen Bild. Fugenlos, keines klemmte, alle fanden ihren Platz.

"Nein, Kurt", sagte er endlich und hatte Mühe, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. "Das war nicht Ludwig Baldur. Ludwig ist 1963 zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt worden und hat die Strafe bis zum letzten Tag abgesessen, er kann also nicht 1965 oder 1966 in Bitterfeld gewesen sein und mit Marga ein Verhältnis gehabt haben. Ludwig Baldur ist nicht Elkes Vater."

Ein Blick auf Kurts verkniffene Miene genügte. "Wer stellt denn sonst Blumen auf Ediths Grab?" Ein nörgeliger, eigensinniger Mann wollte von seiner fixen Idee nicht lassen.

Die Antwort überlegte er sich reiflich. Nach seiner Lebensbeichte war ihm der Zwerg nicht mehr so unsympathisch wie davor, aber er konnte keinen verbitterten Entgleisten gebrauchen, der sein eigenes Versagen unbedingt an einem anderen rächen wollte und ihm bei seinen Ermittlungen ins Handwerk pfuschte.

"Ich weiß es nicht", antwortete Kramer und hoffte, dass sein gleichgültiger Ton überzeugte. "Edith hatte hier Freunde gefunden, das weiß ich."

"Ja", murmelte Kurt überraschend höhnisch, "das konnte sie, darin war sie gut. Immer andere Menschen kennenlernen." Unvermittelt stand er auf, und als Kramer nach seinem Portemonnaie griff, winkte er ab: "Nein, das will ich nicht. Ich brauch' kein Geld von einem, der mir nicht die Wahrheit sagen will."

Kramer sah ihm lange nach. Kurts Worte hatten ihn nicht wirklich getroffen, zumal er überzeugt war, dass auch der Zwerg vieles verschwiegen hatte, aber Kurt konnte nicht wissen, dass er ahnungslos einen Volltreffer gelandet hatte. Joachim Baldur bezahlte ihn dafür, seinen Bruder Ludwig zu finden, für nichts anderes. Anielda hatte ihm einmal vorgeworfen, er lebe wie unter einem Glassturz, und als sie sich dann unterbrach, ob er überhaupt wisse, was ein Glassturz sei, hatte er sie angefahren: "Jawohl, das ist die Glasglocke, unter die man den Stinkkäse legt, damit man ihn sieht, aber nicht riecht. Aber wenn's euch dreckig geht, hebt ihr die Glocke hoch." Es stank mächtig.

Anielda langweilte sich. Wenn die Sonne aus einem blauen Himmel schien, sank das Interesse des Publikums an "Zukunftsfragen auf wissenschaftlicher Basis" rapide. Und die wenigen, die gleichwohl bei ihr anklopften, löhnten weniger als an grauen, regnerischen, trüben Tagen. Um Ärger zu vermeiden, hatte Kramer ihr beim Einzug geraten, sich von jedem "Kunden" einen Revers unterschreiben zu lassen: dass sie erstens keine Garantie für ihre Vorhersagen übernehme und zweitens das Honorar in das Belieben ihrer Kunden stelle. Damals kannten sie sich noch nicht so gut, so dass sie keinen Vogel zeigte. Aber das Wort "Idiot" lag ihr auf der Zunge. Nach dem ersten Ärger mit einem geistig leicht Verwirrten befolgte sie seinen Vorschlag, und siehe da, es funktionierte: Der Ärger blieb aus, im Winter zahlten ihre Besucher freiwillig mehr, als sie erwartete, im Sommer allerdings weniger.

"Schon wieder eine Beschattung?", maulte sie.

"Genau so. Sie kennt mich, leider, und deswegen wirst du herausfinden, was sie treibt."

"Mein armes Auto." Den Stoßseufzer verzieh er, Anieldas Karre hatte fast zweihunderttausend Kilometer auf dem Buckel und einigen Rostfraß an tragenden Teilen. Lange würde sie nicht mehr durchhalten.

"Auf, je weniger du deinen Methusalem bewegst, desto mehr Rost setzt er an." Diese Logik konnte sie nicht heiterer stimmen.

Gemeinsam suchten sie die Ausrüstung zusammen: Kameras, Filme, Fernglas, Diktiergerät, Funksprechgerät und Peilempfänger. Obwohl Anielda als einziger Mensch Schlüssel für seine Wohnung besaß, kannte sie sein Bastelzimmer nur flüchtig, weil sie wusste, dass er niemanden - auch sie nicht - gern darin sah. Ein großer Teil der elektronischen Geräte war harmlos, den durfte auch der Staatsanwalt inspizieren, aber der Rest konnte Ärger auslösen. Deswegen vermied er es auch so lange wie möglich, Wanzen oder Minispione einzusetzen oder Telefone anzuzapfen, aber als allein arbeitender Privatdetektiv konnte er darauf nicht immer verzichten. Und jedes Mal bereitete es ihm Bauchgrimmen, nicht nur, weil er fürchtete, bei der Polizei aufzufallen - davon war Anielda überzeugt, und er ließ sie in dem Glauben. Auf verquere Art und Weise schämte er sich, nicht anders zu handeln als die Typen, die er elektronisch verfolgte: Gesetzesbrecher, die sich hüten mussten.

"Was ist das denn?"

"Das ist ein unauffälliger Peilempfänger."

"Und diese fünf Zapfen?"

"Das sind Leuchtdioden. Ich baue sie dir vor dem Steuer ein. Wenn die mittlere leuchtet, befindet sich der Peilsender direkt vor dir, in Fahrtrichtung. Ganz links - der Sender ist links vor dir, du musst so lange nach links fahren, bis die mittlere wieder leuchtet. Wenn die halblinke anfängt zu flackern oder zu leuchten, bewegt sich das Auto mit dem Sender gerade nach links."

"Okay, das hab' ich verstanden. Und wenn der Karren hinter mir fährt? Oder sich hinter mich setzt?"

"Dann erlöschen alle Dioden, du musst wenden und sehen, auf welcher Seite die Dioden wieder leuchten."

"Na schön", sagte sie unsicher.

"Nicht so eilig, Anielda. Ich will den Akku in dem Sender schonen, und deshalb wird er über einen Wärmesensor gesteuert."

Technisch war das überhaupt kein Problem. Ein Wärmefühler am Auspufftopf steuerte über eine stromsparende Vergleichsschaltung einen Schalttransistor im Sender. Erst wenn die Außenwand des Auspufftopfes eine bestimmte Temperatur erreicht hatte, wurde der Sender eingeschaltet, "und das heißt leider auch: Du merkst nicht sofort, wenn der Motor gestartet wird und der Karren losfährt."

"Das ist blöde!"

"Ja, aber nicht zu ändern." Ändern ließ es sich schon, zum Beispiel über einen Anzapf an der Zündleitung. Aber dazu musste er die Motorhaube öffnen, und das hieß: Er musste eine der Türen des Wagens knacken, um den Riegel für die Motorhaube zu erreichen, genau die Tätigkeit, die Verdacht erregen konnte.

"Dafür hat die Schaltung einen Vorteil: Der Sender arbeitet noch eine bestimmte Zeit weiter, nachdem der Motor ausgeschaltet worden ist. Du hast Zeit genug, über die Peilantenne an den stehenden Wagen heranzufahren. Wenn er dann wieder losfährt, musst du etwa neunzig Sekunden in Sichtweite dranbleiben, dann beginnt der Sender wieder zu arbeiten."

"Ich seh' mich schon auf den anderen Karren draufbrummen", knötterte sie.

"Bei den Tomaten, die du auf der Optik trägst, liebe Anielda, fürchte ich viel mehr, dass du an dem Wagen glatt vorbeifährst."

Weil sie beschlossen hatte, dass heute nur sie ihn beleidigte und nicht umgekehrt, grinste sie wie ein Honigkuchenpferd.

"Und da ist noch etwas, was hoffentlich deine Intelligenz nicht überfordert."

Seit Erfindung der Funktelefone, Europiepser, Firmenfunksysteme und wie all die anderen sendenden Überflüssigkeiten hießen, bestand die Gefahr, dass sich der Peilempfänger von einer fremden, stärkeren Funkquelle irritieren ließ. Deshalb hatte er in den Sender eine Schaltung eingebaut, die den Peilstrahl modulierte; der Empfänger stellte sich nur auf diese Signalfolge ein.

"Jetzt kann es passieren, dass der Wagen in eine Seitenstraße einbiegt und ein hohes Haus auf der Ecke den Funkkontakt Sender - Empfänger unterbricht. Dann erlöschen zu deinem Entsetzen alle Dioden. Du fährst, starr vor Angst, weiter..."

Sie tippte sich an die Stirn.

"...der Empfänger nimmt den Peilstrahl wieder auf und will dich beruhigen, indem er dir sagt: Ich hab' wieder Kontakt. Dazu lässt er alle Dioden nacheinander kurz aufleuchten, erst von links nach rechts, dann wieder zurück, und danach leuchtet die Diode auf, die dir die Richtung anzeigt."

"Großartig", knurrte sie, aber als Schauspielerin hätte sie es nicht weit gebracht: Er sah ihr an, dass sie wider Willen beeindruckt war. Natürlich würde sie sich eher die Zunge abbeißen, als so etwas zuzugeben.

Gut hundert Meter von seinem Haus entfernt hatte er eine Doppelgarage gemietet und viel dafür getan, das Tor gegen Einbruch zu sichern. Dort war auch der scheinbar altersschwache Lieferwagen abgestellt, der unter seinem Kunststoffdach noch sehr viel mehr elektronisches und optisches Gerät enthielt. Die grauen Scheiben waren verspiegelt und erlaubten nur, von innen nach außen zu sehen; Anielda hatte in diesem "Sarg", wie sie schimpfte, schon ganze Tage bei Überwachungen verbracht.

Zuerst präparierte er sein Auto. Die Empfangsantenne sah wie ein harmloses, dünnes Drahtgeflecht aus und wurde mit Folie ganz oben innen auf die Windschutzscheibe geklebt; von außen fiel sie nur auf, wenn man scharf hinschaute. Für den Empfänger hatte er unter dem Armaturenbrett eine Halterung bereits eingebaut, ebenso Buchsen für das elektrische Netz. Der schmale Plastikstreifen mit den fünf Dioden passte genau vor den Tacho, das Flachbandkabel eingestöpselt, fertig war die Apparatur.

"Als Handwerker würdest du mehr verdienen", merkte sie mit dem ihr eigenen spitzen Charme an.

"Und wer würde dich dann aushalten?“, gab er grob zurück, aber heute war nicht sein Tag. Sie hob nur würdevoll die Augenbrauen. Ihr Auto zu präparieren dauerte etwas länger. Und noch länger, ihr Entsetzen zu zerstreuen, als sie hörte, dass sie eine Journalistin überwachen sollte.

"Du hast nicht eine Meise, sondern ein ganzes Meisennest."

"Sie ist auch nur eine ganz normale Frau, mit einem Liebhaber und einem Beruf."

"Aber was für einen! Wenn die mich bemerkt und fertig machen will - Rolf, dann musst du mir Alimente zahlen."

"Reue ohne Genuss, wie?" Der Stoß in die Rippen schmerzte, dass ihm das Wasser in die Augen trat.

Stadtradio war in einer leeren Fabrikhalle im Kanalhafenviertel untergebracht, keiner schöner Bau, aber geräumig, und auf dem alten Werkshof gab es genügend Parkplätze. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, niemand achtete auf sie. Das Metall der Tür- und Fensterrahmen leuchtete in Giftgrün, aber die grau angelaufenen Ziegelmauern waren seit dem Bau nicht mehr gereinigt worden. Er saß mit der schussbereiten Kamera in ihrem Wagen und döste vor sich hin.

"Du, da kommt so ein gelber Flitzer!"

Ihr Ellbogen traf die Stelle, die sie vorhin blau und gelb gefärbt hatte, er zischte vor Schmerz. Es war Silke Glas, die ihren Wagen nicht abschloss. Das Teleobjektiv stellt sich scharf, er knipste hastig; dann stürmte ein Mann mit wehendem Schal aus der Halle, sie hielt ihn an, er blieb neben ihr stehen, wunderbar, en face und im Profil; die beiden gestikulierten noch immer aufgeregt miteinander, als er die Kamera sinken ließ.

"Alles klar, liebe Anielda?"

"Verdufte!"

Heute Nacht würden sie die beiden Peilsender an Wolzeks Wagen und an dem gelben Flitzer anbringen müssen; bis dahin blieb ihr genug Zeit, den Film zu entwickeln und Vergrößerungen herzustellen. Die rechte Tür ihres fahrbaren Untersatzes klemmte mächtig.

Elke Fröhling betrachtete Kramer gespannt, als er die Treppe hochkam. Heute war sie angezogen, und das lange, weite Sommerkleid stand ihr gut. Jetzt noch etwas Farbe, und sie war keine aufregende, aber vielleicht eine anregende Frau.

"Guten Tag, Herr Kramer."

"Tag, Frau Fröhling. Ich bin spät genug, wie ich sehe."

"Das ist vielleicht ein Kompliment!"

"Darf ich trotzdem hereinkommen?"

Sie gluckste: "Ausnahmsweise!"

Im Wohnzimmer hatte sie gelüftet und aufgeräumt, was er als Pluspunkt für sie verbuchte.

"So, ich habe heute Morgen mit Kurt gesprochen. Er hat mir seine Biographie erzählt..."

"Ach nee!"

"Doch, und da sind einige Stellen drin, die er Ihnen wirklich verschweigen musste - aus seiner Sicht."

"Da bin ich aber gespannt."

"Dann enttäusche ich Sie jetzt. Vorerst verrate ich nichts. Vorerst, aber wir haben uns nicht das letzte Mal gesehen."

Ihren amüsierten Blick ignorierte er.

"Ich möchte Ihnen jetzt Bilder zeigen und Sie fragen, ob Sie diese Männer und Frauen schon einmal gesehen haben...halt, nicht so eilig. Manche Aufnahmen sind dreißig Jahre alt, bitte bedenken Sie das. Sie können diese Menschen hier oder in der DDR getroffen haben. Lassen Sie sich Zeit."

Von seinem Ton beeindruckt betrachtete sie die beiden Aufnahmen gründlich, die Stirn vor Konzentration gerunzelt, aber ihre Antwort kannte er schon, bevor sie seufzend die Bilder zusammenschob.

"Nein, tut mir leid, Herr Kramer, davon kenne ich niemanden."

Er hatte es auch nicht wirklich erwartet, Edith Troy war vor Elkes Geburt in den Westen geflohen, und woher sollte sie Ludwig Baldur kennen?

"Schade, aber das macht nichts. Dann eine andere Frage. Haben sie jemals den Namen Doris Weigand gehört?"

Wieder gab sie sich Mühe und starrte ihn dabei an, ohne ihn wahrzunehmen. Endlich schüttelte sie den Kopf, aber so unschlüssig, dass er schmunzelte.

"Nein, den Namen Doris Weigand kenne ich nicht. Aber Kurt hat mal eine Doris erwähnt."

"Können Sie sich noch erinnern, in welchem Zusammenhang?"

"Ja, wie war das...ich glaube, er hat sie hier kennengelernt. Das muss - na ja, er war schon einige Zeit hier, hatte alles versof...alles ausgegeben...nein, tut mir leid, ich krieg's nicht mehr zusammen."

"Kein Problem. Ich muss sowieso noch mal mit Kurt reden. So, nun das letzte Bild. Kennen Sie diese Frau - Vorsicht, auch dieses Foto ist dreißig Jahre alt."

Diesmal brauchte sie keine zehn Sekunden. "Ja", bestätigte sie verwundert, "ich glaube, diese Frau kenne ich."

"Und woher?"

"Aus dem Rosa Ferkel. Zwei, drei Wochen hat sie fast jeden Abend gespielt - also, ich meine, eine Frau, die ihr sehr ähnlich sieht. Älter natürlich. Ja, das könnte sie gewesen sein."

"Wissen Sie etwas mehr über sie? Wie sie heißt, wo sie wohnt, was sie beruflich macht?"

"Nein. Nein - obwohl - sie hat sich häufiger mit mir unterhalten, wenn sie Geld wechselte..." Weil sie ins Grübeln versank, schwieg er und drückte sich heimlich die Daumen. Noch ein Fehler, den diese Saubande begangen hatte. "Komisch, ja, da fällt mir wieder was ein, sie war gar keine richtige Spielerin."

"Was soll das heißen?"

"Für die richtigen Spieler, die Fanatiker, die Süchtigen existiert nur der Automat und sonst gar nichts. Aber sie warf das Geld ein, als interessiere sie es gar nicht, ob sie was gewann. Das ist - war doch etwas merkwürdig."

"Hatten Sie den Eindruck, dass diese Frau mit Ihnen ins Gespräch kommen wollte?"

"Nei-ein." Sie zögerte, ihrer Sache nicht ganz sicher. "Nein, das nicht."

"Noch eine Frage zu dieser Frau. Kam sie ins Rosa Ferkel, nachdem Sie die Hellwegs gesucht und besucht hatten - oder vorher?"

"Nachher." Jetzt musste sie nicht überlegen. "Aber ich hab' ja auch erst im Ferkel angefangen, nachdem ich mein ganzes Erspartes bei der Suche nach Wolfgang Hellweg verpulvert hatte."

Das war also geklärt. "Zwei Fragen und zwei Bitten noch, dann sind Sie mich los, Frau Fröhling."

"So unerträglich sind Sie gar nicht!" Der Spott misslang ihr, und als er schmunzelte, pfiff sie verlegen vor sich hin.

"Vielen Dank, dann will ich das gleich mal ausnutzen. Haben Sie eine Liste aller der Hellwegs, die Sie aufgesucht haben?"

"Ob ich - warum wollen - doch, halt, Moment mal, die gibt's tatsächlich." In ihrem Eifer, ihm zu helfen, sprang sie so ungestüm auf, dass sie stolperte und das Gleichgewicht verlor, instinktiv streckte er die Arme aus und bekam sie zu fassen, zog sie schwungvoll zu sich heran, bevor sie über den Sessel stürzte, und dann saß sie plötzlich auf seinem Schoss, keiner hatte so genau mitbekommen, wie das passieren konnte, ihre sichere, wenn auch etwas gewalttätige Landung verblüffte sie beide so, dass sie sich Nasenspitze an Nasenspitze anstarrten.

Sie fing sich als erste und meinte hoheitsvoll: "Vielen Dank, Herr Kramer, aber Sie dürfen mich jetzt wieder loslassen."

"Oh!" Schuldbewusst gab er ihre Oberarme frei, und sie erhob sich würdevoll.

"Sie haben einen festen Griff!", tadelte sie und konnte das Lachen kaum zurückhalten.

"Wenn es lohnt - immer", stotterte er, worauf sie sich auf die Beine stellte, losprustete und aus dem Zimmer lief. Erst danach gestattete er sich ebenfalls ein vergnügtes Grummeln.

Die "Liste" bestand aus einem Päckchen kleiner Zettel, die sie ihm in die Hand drücke, wobei sie eine Berührung vermied.

"Kann ich das ausleihen? - fein, sehr schön. Die erste Bitte: Sie nehmen dieses Bild mit ins Rosa Ferkel und versuchen, bei Ihrer Kollegin etwas mehr über diese Frau zu erfahren."

Sie nickte, jetzt wieder ernst, fast bedrückt; das Intermezzo schien vergessen.

"Die zweite Frage: Hat Kurt Sie bei den Besuchen bei den diversen Hellwegs begleitet?"

"Nein", sagte sie fest, "so, wie er damals aussah - nein, er hätte nur gestört."

"Dann meine letzte Bitte: Ich würde Sie gern einem alten, kranken Mann vorstellen, damit Sie sich kennenlernen. Allerdings unter einer Bedingung."

"Und die wäre?"

"Sie fragen mich jetzt nicht, wer dieser Mann ist und warum ich Sie mitnehme."

"Das verstehe ich nicht."

"Trotzdem - das müssten Sie mir versprechen."

"Ja, und - selbst wenn - was wollen Sie dem alten Mann denn sagen? - ich meine, wer ich bin?"

Sieh mal an, sie schaltete präzise. "Ich vertrödele meine Sonntage fast immer in einem Thermalbad. Dorthin würde ich Sie gerne einladen, auf dem Weg würden wir den Mann besuchen, und wenn Sie erlauben, würde ich Sie als meine Freundin oder Begleiterin vorstellen."

Ihr Blick sprach Bände. Und ihre Fähigkeit, die Augenbrauen fast bis unter den Haaransatz hochzuziehen, besaß nicht jede Frau. "Also, ich hab' ja schon viele Maschen erlebt, aber Ihre..."

"Es ist keine Masche, Frau Fröhling."

"Was denn dann? Oder wollen Sie mir wirklich helfen?"

An sich schätzte er intelligente Frauen, aber manchmal erleichterte Dummheit doch sein Leben. Deswegen seufzte er tief, und prompt musterte sie ihn finster.

"Können wir uns auf einen Kompromiss einigen? Sie stellen keine Frage, sondern vertrauen mir noch ein paar Tage, und ich verspreche Ihnen, dass ich Ihnen hinterher alles haarklein auseinanderfiesele."

Unter einem Kompromiss stellte sie sich wohl etwas anderes vor, das las er in ihrem Blick, und deshalb fügte er ein "Bitte, Frau Fröhling!" hinzu.

Zehn Sekunden, zwanzig, unvermittelt kicherte sie. "Elke."

"Wie bitte?"

"Wenn Sie mich dem alten Knaben als Ihre Freundin vorstellen wollen, sollten wir uns wenigstens duzen und mit dem Vornamen anreden."

"Gebucht. Rolf."

"Na schön, ich will Ihnen - will dir mal vertrauen. Wann holst du mich ab?"

"Am Sonntag um zehn. Einverstanden?"

"Ja."

"Kurt braucht von unserem Gespräch nichts zu erfahren."

Das überlegte sie wieder ein paar lange Sekunden. "Gebucht. Und jetzt wird's Zeit für mich, das Ferkel quietscht."

In der Rauchstraße konnte er weder den kleinen gelben Flitzer noch Anieldas Museumsstück entdecken, also ordnete er sich grollend in den Berufsverkehr ein und schlich gen Westen. Der vierte Gang lohnte erst wieder, als er den zweiten Ring passiert hatte, auf der Bredener Straße wurde verboten schnell gefahren. Gut einen Kilometer vor dem Doppelhaus Bredener Straße 79/81 schaltete er das Funksprechgerät ein. "Rolf ruft Anielda."

Es knisterte einige Sekunden lang laut, dann antwortete sie: "Anielda hört Rolf."

"Wo finde ich dich?"

"Hundert Meter von einem Objekt der Städtischen Friedhofsgärtnerei entfernt."

"Danke, Ende!"

Manchmal war er richtig stolz auf sie. Trotz des Sprachverwürflers, die er in alle seine Funksprechgeräte nachträglich eingebaut hatte, würde sie nie Namen oder Straßen offen nennen. Indianer auf dem Kriegspfad konnten die Vorsicht nicht übertreiben.

Sie parkte genau dort, wo auch er seinen Wagen abgestellt hatte, und brummte, als er sich neben sie ins Auto setzte.

"Ihr gelber Wagen steht vor dem Haus Nummer 81. Sie ist ins Haus gegangen, eine Viertelstunde später mit einem Mann herausgekommen, beide in Trainingsanzügen, zusammen sind sie in einem blauen VW weggefahren, Kennzeichen WP 511."

"Der gehört Martin Wolzek, ihrem Freund."

"Das heißt also, wir dürfen hier rumhängen, bis sie zurückkommen."

"So ist es, liebe Anielda, und bevor du jetzt knötterst, denke daran, dass ich mein Geld im Warten verdiene."

Die Horst Bieber Krimi Sammlung 2021: Krimi Paket 8 Romane auf 1500 Seiten

Подняться наверх