Читать книгу Die Horst Bieber Krimi Sammlung 2021: Krimi Paket 8 Romane auf 1500 Seiten - Horst Bieber - Страница 8

Erster Samstag

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Das Stadtradio überschlug sich fast bei seiner Berichterstattung vom Ort: In einer unglaublich dreisten Aktion hatten Unbekannte heute nacht gegen 4.15 Uhr von einem langsam vorbeifahrenden Lastkraftwagen Molotowcocktails, Brand- und Sprengsätze auf das Asylbewerber- und Ausländerheim in der Böttgergasse geworfen. Der vierstöckige Altbau ging sofort in Flammen auf, das Feuer griff auf drei Nachbarhäuser über, hundert Mann Feuerwehr waren immer noch im Einsatz. Vierzehn Heimbewohner waren verletzt worden, drei davon schwer, durch Brandwunden und Rauchvergiftung, zwei schwebten in Lebensgefahr. Über die Höhe des Sachschadens konnte man noch nichts sagen, jedenfalls war er beträchtlich, die Räumungsaktion war zwar beendet, aber die Suche nach Brand- und Schwelnestern dauerte noch an. Die Polizei hatte den östlichen Teil der Innenstadt weiträumig abgesperrt, "jetzt etwas Musik, liebe Hörer", und sobald der Reporter etwas Neues erfuhr, würde Stadtradio, wie immer aktuell, ständig dabei, sofort berichten.

Kramer gähnte, er hatte dank Weisbart wenig geschlafen, aber gestern Abend auch wenig getrunken, und der lange Spaziergang nach Hause hatte seinem Kopf ausgesprochen gut getan.

Stadtradio meldete sich wieder: Funkenflug hatte die Dächer zweier Häuser in der parallel verlaufenden Bretzelgasse in Brand gesetzt, bei den alten, zum Teil verwahrlosten Bauten kein Wunder. Zur Ablösung der Berufswehr waren jetzt auch mehrere freiwillige Wehren angerückt. An den Urhebern dieses Verbrechens bestand kein Zweifel: In der Böttgergasse waren Hunderte von Handzetteln gefunden worden, auf der einen Seite bedruckt mit "Aktion DDD - Deutschland den Deutschen". Auf der anderen Seite stand: "Wir haben nichts gegen ehrliche Ausländer, die arbeiten und Steuern zahlen! Wir haben aber viel gegen schmarotzende Scheinasylanten und Sozialschmarotzer!"

Deprimiert schaltete Kramer das Radio aus. In den vergangenen Wochen hatte die Aktion 3 D eine Reihe von Anschlägen verübt, allerdings noch nie so brutal wie in der vergangenen Nacht. Bisher tappten die Behörden im Dunkeln, wer sich hinter dieser Bande verbarg, verhehlten aber nicht, dass sie 3 D ernst nahmen. Denn alle Taten zwangen zu dem Schluss, dass hier eine straff organisierte, hermetisch abgeschottete und fast militärisch trainierte Gruppe mit äußerster Disziplin von langer Hand vorbereitete Aktionen ausführte. Eben das hatte der Sprecher der Sonderkommission der aufgeregten Reporterin vom Stadtradio erklären wollen: keine hirnlosen Jugendlichen, die sich im Suff zu spontanen Anschlägen zusammenrotteten, sondern viel gefährlicher. Unhöflich und ungeduldig hatte sie ihn immer wieder unterbrochen - was wolle die Aktion 3 D denn damit erreichen? Die ehrliche Antwort, das wisse man noch nicht, hatte sie zu einer dümmlichen Attacke auf die Politik missbraucht.

Die Verkniffene fauchte schon los, bevor Kramer grüßen konnte: "Herr Baldur ist im Park und wartet auf Sie."

"Verbindlichen Dank."

Die Halle war eher noch kühler als gestern, und die Stille im Park hatte zugenommen. Baldur saß auf der Bank und hielt die Augen geschlossen, als sich Kramer neben ihn setzte.

"Guten Morgen, Herr Baldur."

"Guten Tag, Herr Kramer." Er atmete schwer. "Es tut mir leid, dass Sie noch einmal kommen mussten."

"Keine Ursache. Wir müssen noch viel bereden."

"Ja... ja…, das ist gut."

"Ich habe mich schon etwas umgehört. Ihr Bruder ist im September 1974 entlassen worden, hat dann einige Monate in Ihrem alten Haus im Limbacherweg gewohnt und sich im Mai 1975 offenbar von allen Bekannten verabschiedet."

Nach einer langen Pause nickte Baldur nur.

"Haben Sie ihm nie ins Gefängnis geschrieben? Oder später, als er entlassen war?"

"Nein. Nein, das konnte ich nicht. Wegen Edith. Am Tage des Urteils habe ich ihn in die Hölle verflucht, und er hat geantwortet, dass ich jetzt für ihn gestorben sei." Die Worte tropften wie zäher Sirup und ließen noch immer den alten Hass erahnen.

"Sie sind 1964 fortgezogen?"

"Ja. Im Februar. Ich musste. Ich konnte es in dieser Stadt nicht mehr aushalten. Ich wollte erst vergessen und dann neu anfangen. Nicht hier. Erst reisen, dann in einer anderen Stadt von vorn beginnen."

"Ist es Ihnen gelungen?"

"Ich weiß es nicht. Ich habe im Frühjahr 1968 geheiratet und mich zwanzig Jahre später scheiden lassen. Keine gute Ehe, Herr Kramer, nein, zwei Kinder, die mich zum Schluss gehasst haben, und eine Frau, die mich schon lange vorher verachtete. Kein Leben, auf das ich stolz sein könnte. Und geschäftlich, ach, es hat nie wieder einen Ludwig gegeben."

"Darf ich fragen, was Sie beruflich gemacht haben?"

"Ja, was eigentlich? Der Bruder meiner Frau hatte eine kleine Firma gegründet. Optische Linsen, aus Glas, aus Kunststoff, er war Physiker, von der ganzen Sache verstand ich noch weniger als von Fußbodenbelägen, aber er hat mich an Ludwig erinnert. Ein Bastler, ein Tüftler, den jemand an die Hand nehmen musste, damit nicht andere die Früchte seiner Arbeit ernteten. Und darin war ich ja gut. Kreativ waren die anderen, ich sorgte dafür, dass daraus Geld wurde. Seiner Schwester war es sehr recht, und er war mir dankbar, dass ich ihn von dieser lästigen Aufgabe befreite. Teilhaber bin ich geworden, so heißt das juristisch, ich hatte teil an einem anderen ..."

Nach jedem Satz wurden die Pausen länger, und das Plätschern des Brunnens übertönte schon seine Stimme.

"Als mein Schwager starb, habe ich meinen Anteil verkauft. Und sehr viel mehr herausbekommen, als ich hineingesteckt hatte, es ist schon merkwürdig, dass mir das Geld nachgelaufen und das Glück vor mir geflohen ist ..."

Kramer hielt es nicht mehr aus. Ohne Rücksicht auf den Mann neben ihm, dem jeder Atemzug Mühe bereitete. Plötzlich konnte er diese Wehleidigkeit nicht mehr vertragen.

"Wo haben Sie denn zuletzt gelebt?"

"In Neuss. Es ist schön, wieder einmal eine Zigarette zu riechen."

Kramer schwieg, weil er nicht entscheiden konnte, ob er sich schämte oder vor Wut vereist war.

"Ein Jahr nach der Scheidung bin ich aus Neuss weggezogen. Hierhin - bitte, fragen Sie mich nicht, warum, Freunde und Bekannte hatte ich hier auch nicht mehr, nur noch die Illusion, es sei meine Heimat." Erneut verstummte er, die beiden alten Frauen quälten sich den Weg zurück und musterten sie wieder mit unersättlicher Neugier. "Am besten hatte ich mich noch mit meiner Schwägerin verstanden. Jutta arbeitete bei einer Bank und hatte auch mit Zahlen zu tun, mit Summen, die stimmen mussten, sie rechnete auch, bis alles glatt aufging. Maren - meine Frau - konnte Jutta nicht ausstehen und hat mir immer Vorwürfe gemacht, wenn ich mich mal mit Jutta traf. Aber nach dem Tod ihres Mannes ist Jutta weggezogen, und seitdem hab' ich sie nicht mehr gesehen."

"Hat keiner aus Ihrer Familie Sie je besucht?"

"Nein. Nie. Mich besucht überhaupt kein Mensch mehr."

"Aber doch früher, in Ihrer Wohnung hier in ..."

"Im Rosengarten? Nein. Kein Mensch." Es hörte sich nicht einmal beleidigt an. "Und diese letzte Wohnung hat mir mein Arzt ausgesucht. Hierhin verirrt sich erst recht keiner."

Jetzt wollte er gehen, sofort, sobald Baldur den Vertrag unterschrieben hatte. Er schwitzte vor Ärger und Unbehagen und hoffte, was ihn am meisten erzürnte, auf Abkühlung in der Halle mit den Plastiklilien.

"Kommen Sie heute Nachmittag noch einmal, Herr Kramer?"

Warum er "Ja, natürlich" erwiderte, wusste er selbst nicht, und während des Essens in einem überfüllten Ausflugsrestaurant ärgerte er sich über seine Weichherzigkeit. Und über seine Feigheit; er hatte nicht gewagt, Baldur nach dem auffälligen Paar zu fragen, das er am Freitag im Park gesehen hatte.

Er winkte der Mageren hinter dem Schalterfenster flüchtig zu und ging gleich nach hinten in den Park, wo er Joachim Baldur auf der bekannten Bank antraf.

"Wie geht es Ihnen jetzt, Herr Baldur?"

"Besser, wirklich viel besser. Die Wärme tut mir gut."

Baldur schien vergessen zu haben, dass er gestern noch zur Eile gedrängt hatte. Wahrscheinlich war er schon viel stärker von seinem körperlichen Zustand abhängig, als er sich das eingestehen wollte, und Kramer beschloss nach einem Blick auf Baldurs Gesicht, diesen Besuch als Höflichkeit, nicht als Teil des Auftrages abzubuchen. Aber er musste dennoch viele Fragen stellen.

"Können Sie sich überhaupt keinen Ort vorstellen, an den Ihr Bruder Ludwig 1975 gezogen ist?"

"Ich weiß nicht - vielleicht in die Schweiz." Viel später, nach langem Schweigen, fügte Baldur hinzu: "Ludwig ist immer gern nach Thun oder nach Interlaken gefahren."

"Nach Thun?"

"Meine Mutter hatte dort von einer Tante ein Häuschen geerbt. Mit einem wunderschönen Blick auf den See."

"Und Sie meinen, Ihr Bruder habe sich dort niedergelassen?"

"Ich weiß es nicht, Herr Kramer."

Nun ja, es konnte ein Anhaltspunkt sein, aber auch das behielt er lieber für sich. Vor ihnen plätscherte der winzige Springbrunnen noch erbärmlicher als bei seinen früheren Besuchen, und die zwei alten Frauen schienen pausenlos, Arm in Arm, nach vorn gebeugt, durch den Park zu stolpern.

"Herr Baldur, hat Ihr Bruder Ludwig früher Sport getrieben? Oder sich für Kunst oder Umwelt oder Politik interessiert?"

"Nein", antwortete er erstaunt, "überhaupt nicht."

"Und Sie?"

"Auch nicht. Warum sollte ich? Und warum fragen Sie?"

"Ich suche nach Anhaltspunkten, Bekannten, Organisationen, die mir weiterhelfen können. Die vielleicht Ihren Bruder von früher kennen und jetzt wissen oder vermuten, wo er steckt."

"Ach so, ja, ich verstehe. Nein, Ludwig spielt etwas Tennis, aber ich glaube, das war mehr so eine Pflicht, wissen Sie, körperliche Bewegung nach dem vielen Hocken im Labor. Nein, eigentlich hatte er nur eine Verrücktheit, das waren seine Autos. Sportwagen, sie konnten nicht schnell, nicht auffällig und nicht teuer genug sein."

"Das passt nun wirklich nicht zu dem, was Sie mir bisher erzählt haben."

Baldurs langes Zögern ersetzte eigentlich eine Antwort. "Ja, da ist - so kann man es sehen. Der Familie war es nicht - recht. Die Familie - ja, die Familie hatte feste Urteile, schnelle Autos gehörten sich nicht, und die Familie hat Ludwig nach seiner Verhaftung auch - wie soll ich das beschreiben? - fallen gelassen."

"Und warum war das so?" Diesem Mann musste er jeden Wurm einzeln und stückchenweise aus der Nase ziehen.

"Ja, warum... Vater war sehr böse auf Ludwig... nein, eigentlich auf uns beide. Wegen Edith. Er hatte sie nie gemocht, er wollte uns den Umgang nicht gerade verbieten, aber dass wir... und schließlich der Skandal. Er war sehr - sehr ..."

"Steif. Ehrpusselig", half Kramer geduldig aus.

"Ja, genau, so war er. Und er war das unbestrittene Familienoberhaupt. Meine Mutter war schon lange tot, müssen Sie wissen, der einzige Bruder meines Vaters hatte Tb und lebte in einem Sanatorium, die Schwester meiner Mutter war ausgewandert ..." Er verlor sich in Gedanken.

"Wo hat Edith Troy eigentlich gewohnt?"

"In der Hansastraße, in dem gelben Hochhaus neben dem Kino."

"Und Ihr Vater, nachdem Ludwig verurteilt worden war?"

"In einer alten Villa am Rotdornhang, aber die gibt es nicht mehr, die ist später abgerissen worden."

"Haben Sie immer in dieser Villa gelebt?"

"Ja, bis wir nach der Schule und der Ausbildung in der Firma anfingen. Da hat Vater das Haus im Limbacherweg gekauft."

"Gab es oder gibt es einen Ort, an dem Ihr Bruder besonders hängt? Hat er mal geschwärmt, er würde gern dorthin ziehen?"

"Nein, nicht, dass ich wüsste."

"Und dass er wieder hierher kommen könnte, in seine Geburtsstadt, halten Sie das für ausgeschlossen?"

"Ausgeschlossen? - nein, das nicht. Nein, nicht ausgeschlossen. Allerdings - "

"Ja?"

"Ich meine nur, die Erinnerung an Edith ..."

"Das ist lange her, Herr Baldur."

"Ja, schon, aber sie hat sein Leben - sie hat unser Leben verändert wie kein anderer Mensch."

"Wo liegt sie eigentlich begraben?"

"Hier, auf dem Friedhof am Kanal", erwiderte er versonnen. "Darum habe ich mich seinerzeit gekümmert."

"Gehen Sie manchmal auf den Friedhof, an Ediths Grab?"

"Jetzt nicht mehr. Es ist - es liegt so weit zurück. Es sagt mir nichts mehr. Früher - ja, da habe ich sie irgendwie für mein Leben verantwortlich gemacht, aber heute ... damals habe ich das Grab für 30 Jahre gekauft. Und wollte mich nicht mehr darum kümmern, bis ich dann nach meiner Scheidung ... mit dem Alter bin ich ein sentimentaler Esel geworden, deshalb hab' ich das Grab für weitere zwanzig Jahre gekauft, das ging ganz einfach, wissen Sie, der Friedhof ist nicht sehr beliebt."

"Woher stammte Edith eigentlich?"

"Geboren war sie Magdeburg, aber zuletzt hatte sie in Bitterfeld gearbeitet."

"Gab es keine Verwandten? Keine Familie?"

"Doch, davon hat sie erzählt, von einem älteren Bruder, einem Stiefbruder, der bei der Volksarmee war. Das Verhältnis der Geschwister war wohl nicht sehr gut. Ihr Vater war gefallen, und als ihre Mutter starb, haute Edith in den Westen ab."

"Zur Beerdigung ist keiner aus ihrer Familie gekommen?"

"Nein. Ich habe an ihre letzte Adresse geschrieben, die ich aus ihren Papieren kannte, zweimal, aber auf beide Briefe ist keine Antwort gekommen."

"Haben Sie noch Bilder von Ihrem Bruder Ludwig?"

"Aber ja, warum fragen Sie? Haben Sie denn schon eine Spur von Ludwig?"

Sein Ton war merklich lebhafter geworden, und deshalb wiegelte Kramer schnell ab: "Nein, aber ein Bild von Ludwig könnte nützlich sein."

Baldur seufzte: "Ich hoffe nur, er hat sich besser gehalten als ich." Unvermutet kicherte er rauh. "Ihr Wunsch artet in Arbeit aus, Herr Kramer."

"Wie bitte?"

"Für Sie. Sie müssen mir die Treppe hochhelfen."

Es wurde wirklich Arbeit für ihn und eine Quälerei für Joachim Baldur, der nach jeder zweiten Stufe innehielt, um Kräfte zu sammeln. Den Fahrstuhl hatte er strikt abgelehnt, Kramer verstand diesen Stolz und insistierte nicht.

Das Zimmer überraschte ihn, groß, hell und luftig, mit einem eigenen abgetrennten Schlafraum; hier konnte man es aushalten, und die Einrichtung verriet privates Geld.

Im Bücherschrank lagen zwei Alben, die er hervorholte, Baldur blätterte versonnen und hielt dann inne: "Hier. Reicht das?"

Ein junger Mann, keine Schönheit, aber sympathisch. Ein kluges Gesicht, aber ein Träumer. Oder weltfremd. Und wenn man genau hinschaute, erkannte man noch eine schwache Ähnlichkeit mit dem ausgemergelten Gesicht des kranken Bruders Joachim.

"Ludwig ließ sich nicht gern fotografieren. Auf den meisten Bildern sieht er wie ein geistesschwacher Schwerverbrecher aus. Wenn er eine Kamera schon aus der Ferne sah, schnitt er unwillkürlich Grimassen, da konnte er gar nicht anders."

"Darf ich es mitnehmen?"

"Ja", erlaubte Baldur unbehaglich, "aber Sie müssen es mir zurückgeben."

"Versprochen. Und ein Bild von Edith - kann ich das auch bitte haben?"

"Von Edith?" Baldur schluckte vor Erstaunen.

"Ja. Ich möchte sicher sein, dass ich mit dem richtigen Ludwig spreche, verstehen Sie, er soll Edith wiedererkennen."

Eine schwache Ausrede, urteilte er selber, aber sein gleichmütiger Ton überzeugte Baldur. Oder wenigstens tat er so.

Energie für zwei und Temperament für drei, so hatte Baldur sie beschrieben, und das traf besser zu, als er vermutet hatte. Eine Schönheit war sie nicht gewesen, ansehnlich, ja, aber unwiderstehlich machte sie die unbändige Unternehmungslust, die selbst nach mehr als dreißig Jahren auf einem schon leicht vergilbten Foto nicht zu verkennen war.

"Mir ist eines noch immer unklar. Edith Troy ist 1961 ins Selatan-Werk gekommen. Da waren Sie 21, Ihr Bruder 19 Jahre alt."

"Ja. Worauf wollen Sie hinaus?"

"Sie waren doch zwei begehrte Junggesellen. Gute Partien, wie die Mütter damals ihren Töchtern zuredeten."

"Ach so." Baldur lachte keuchend und presste beide Hände fest auf die Armlehnen seines Ohrensessels.

"Trotzdem mussten Sie sich beide in dieselbe Frau verlieben?"

Mit der Antwort ließ sich Baldur viel Zeit. Die Tage verliefen langsam für den einsamen Mann, der Kramer wohl auch dafür bezahlte, sein Leben erzählen zu dürfen, die Vergangenheit Revue passieren zu lassen, für Stunden wenigstens die Illusion zu hegen, nicht völlig vergessen zu sein.

"Kennen Sie das Wörtchen 'Pflicht'?"

"Ja."

"Aber Sie kennen es bestimmt nicht so, wie ich es gelernt habe, Herr Kramer. Nein, wie Ludwig und ich es erlebt - erlitten haben. Wir sind in einem mutterlosen Haushalt groß geworden. Schon lange, bevor sie starb, existierte meine Mutter nicht mehr, ja, ich weiß, das klingt grausam und herzlos, sie kränkelte, seit ich mich an sie erinnern kann, und unser Vater lebte seiner Pflicht. Für ihn war das Leben vorgeschrieben, da gab es ein ehernes Gesetz, das er nicht brechen konnte. Es war ein - freudloses Haus."

"Aber Sie waren die Söhne reicher Eltern, Sie konnten sich vieles leisten."

"Wir hätten gekonnt, sicher, aber wir sind gar nie auf die Idee gekommen."

"Trotzdem - Edith Troy kann doch nicht die erste Frau in Ihrem - und Ludwigs Leben gewesen sein."

"Nein." Wieder lachte er leise, und es strengte ihn an. "Nein, so keusch und klösterlich wurden wir nicht gehalten."

"Haben Sie sich nie verliebt?"

"Oh doch. Verliebt und verschossen war ich häufiger, aber das Gefühl war nie so stark wie die Pflicht."

Allmählich begann Kramer das Wort zu hassen.

"Und dann gab es Grenzen - Sie dürfen sich mein Elternhaus nicht wie eine Gruft vorstellen, Herr Kramer, es gab viele Besucher, viele Einladungen, oh ja, wir mussten als Kinder oft die guten Anzüge anziehen und uns 'anständig' benehmen. Aber das verlief alles - so steif. Oder zeremoniell. Zu den besten Freunden meines Vaters zählte eine Nachbarsfamilie. Winkelmann hieß sie. Es gab einen Sohn Albert, hochbegabt, ein Genie, damals schon ein erfolgreicher Physiker, und eine Tochter, Maren, zehn Jahre jünger als ich, und Maren liebte mich. Seit Backfisch-Zeiten. Ein wunderschönes Kind - ich habe sie später geheiratet."

Überrascht schnappte Kramer nach Luft, und zum ersten Mal grinste Baldur ihn von Mann zu Mann an.

"Da staunen Sie? Natürlich blieb nicht verborgen, dass die schüchterne und schöne Maren für mich schwärmte, und eines Tages befahl mich Vater zu einer - er nannte es Unterredung. Joachim, ich erwarte von dir, dass du dich Maren gegenüber korrekt benimmst. Sie ist noch ein Kind, und die Winkelmanns sind unsere Freunde. Noch Fragen?"

"Sie hatten keine mehr."

"Natürlich nicht. Ich mochte Maren, klar, aber Liebe... Edith war die erste Frau, die uns - die Ludwig und mich auslachte. Der Mensch habe nur eine Pflicht: Das Leben zu genießen. Spaß und Freude zu haben und verrückte, aber schöne Dinge zu tun."

"Sie wollte also vieles nachholen, was sie drüben versäumt hatte."

"Ja, das stimmt wohl. Aber sie war nicht - nicht faul. Oder leichtsinnig. Sie konnte bis tief in die Nacht tanzen und am nächsten Tag wie eine Wilde im Labor schuften. Wir haben sie - bewundert? Beneidet. Schließlich hat sie uns gezeigt, dass Pflicht nicht alles war und vor allem kein Grund zur - zur..."

"Gleichförmigkeit?"

"Ja, das ist wohl das richtige Wort."

Unschlüssig nickte Kramer und schwieg. Ein Psychologe hätte aus diesen Sätzen wahrscheinlich mehr herausgehört, aber auch ihm war klar, dass Baldur eine böse Last aus der Kindheit mit sich herumschleppte und selbst heute noch nicht wagte, den Schuldigen zu benennen. Oder wenigstens den Verantwortlichen, wenn er schon keine Schuld zumessen wollte.

"Wie haben Sie sich eigentlich mit Ludwig verstanden?"

"Mit Ludwig?" Die Frage erstaunte Baldur, als habe er darüber noch nie nachgedacht. Bruder war Bruder, beide erfüllten ihren Teil der vom Vater auferlegten Pflicht, da kam es doch nicht darauf an, dass man sich verstand. Oder liebte. "Ganz gut. Glaube ich. Wir hatten uns nie viel zu sagen, das stimmt. Aber wir haben uns nie gezankt."

"Selbst dann nicht, als Edith erschienen war?"

"Nein. Warum denn auch? Edith war älter als wir Brüder, sie musste sich für einen von uns entscheiden. Deshalb war ich ja so - so erschrocken, dass er drohte, sie lieber umzubringen als sie mir zu überlassen."

Langsam begriff Kramer den tiefen Sturz, den Ludwig Baldur in den Monaten bis zum Urteil erleiden musste. Mit seiner Leidenschaft für Edith hatte er seine Pflicht gegenüber Vater, Familie und Erbe verletzt. In der U-Haft begann die Strafe. Als Baldur weitersprach, fuhr Kramer erschrocken zusammen.

"Komisch, wie man manchmal - wissen Sie, Ludwig und ich hatten wegen Edith unsere Pflicht vergessen, vernachlässigt, und sind dafür hart gestraft worden. Heute kann ich das in Worte fassen, aber damals..."

"Entschuldigung, Herr Baldur, welche Pflicht eigentlich? Sie haben doch gearbeitet, sind täglich ins Werk gefahren - oder nicht?"

"Doch, doch. Nein, mein Vater hat sich über etwas anderes aufgeregt. Ein Unternehmer unternimmt etwas, der vergrößert sein Werk, erfindet und fertigt neue Produkte, der tüchtige Mann genießt nicht und wirft das Geld nicht aus dem Fenster. Wissen Sie, der Senior hasste die Kommunisten wie die Pest, faul bei der Arbeit, aber fix bei den Ansprüchen auf den Gewinn, den anderen erwirtschafteten, man musste ihnen nur Besitz und Eigentum wegnehmen, und das Ergebnis solcher - Verwirrung der Werte war für ihn Edith. Einen seiner Sprüche, mit denen er sie bedachte, hab' ich nie vergessen: Früher nannte man das Faulheit und nicht Sozialismus."

Wider Willen erheiterte Kramer der Spruch, und Baldur runzelte die Stirn: "Ludwig ging an die Decke. Mit Konservativen könne er sich ja noch abfinden, aber für Reaktionäre fehle ihm jedes Verständnis."

"Das hat er Ihrem Vater ins Gesicht gesagt?"

"Ja. Ich war - baff. Wann hatten wir schon mal gewagt, unserem Vater zu widersprechen?"

So etwas hatte er vermutet. Der Vater hasste nicht die linke Sozialistin, die Edith Troy bestimmt nicht gewesen war, sondern die Selbstbewusste, die seine Kinder zur Emanzipation verführte. Doch wenn Joachim Baldur das heute noch nicht einsah, war jeder Hinweis verschwendete Liebesmüh.

"Sie haben das Werk verkauft, sechs Monate nach dem Tod Ihres Vaters. Was haben Sie dann gemacht?"

"Geflohen. Ich bin erst einmal geflohen...nein, nein, es war wirklich eine Flucht. In andere Länder. Können Sie sich vorstellen, dass ich bis dahin nie im Ausland gewesen war? Von der Schweiz abgesehen, in den Schulferien, aber auch dort herrschte die Familie."

"Und die Familienpflicht."

"Oh ja. Anders, aber nicht weniger unerbittlich. Italien, Frankreich - wir hatten immer eine Französin im Haus, nein, nein, keine Pariserin mit dem Ohlala-Charme, sondern eine beleibte Matrone, die jeden Grammatik-Fehler korrigierte. Jeden. Und selbst über den dümmsten Patzer konnte sie nie lachen. Nie. Also Frankreich. England. Amerika. Ich bin als junger Mann viel herumgekommen und war doch nie weg. Können Sie das verstehen?"

"Ich glaube, ja."

"Auch dafür kannte mein Vater einen Spruch, den er auf Edith münzte. Wer sich überall wohlfühlt, dem ist auch zu Hause nicht zu trauen."

"Es hat Sie schließlich nach Hause gezogen..."

"Ja. Wie nicht anders zu erwarten... ab und zu hab' ich von unterwegs eine Karte an Maren geschrieben."

"Warum gerade an sie?"

"Ja, warum? Weil ich ein schlechtes Gewissen hatte? Als Edith auf der Bildfläche erschien, war Maren abgemeldet, sie wusste es, ich hatte es ihr deutlich genug gesagt, aber sie hielt zu mir. Die ganze Zeit über, auch während des Prozesses. Und als ich dann das Haus und die Firma verkaufte, schwor sie mir, sie würde auf mich warten. Ich wollte das nicht, damals wollte ich nicht zurückkommen, und ganz bestimmt wollte ich sie nicht heiraten. Aber auf den Reisen, abends, in leeren Hotelzimmern ..."

"In einsamen Hotelzimmern."

"Ja. Die Pflicht war weg, und deshalb verspürte ich eine Leere. Also habe ich sie eines Tages angerufen, wir haben uns in Paris getroffen, und nach der Nacht stand fest, dass wir zusammenbleiben würden."

"Sie lassen etwas aus."

"Was denn?"

"Marens älteren Bruder, der eine kleine Firma gegründet hatte, mit der er nicht klarkam."

"Ja, völlig richtig." Er stimmte ohne Zögern zu. "Ich übernahm neue Pflichten. Aber ich liebte Pflichten, Herr Kramer."

"Hat Ihre Frau das damals gewusst?"

"Nein, das hat Maren erst später gelernt. Und danach - es gab keinen Krach, Maren blieb immer still und geduldig, aber danach - wie zwei Gleise, die kaum merklich auseinanderlaufen, und irgendwann begann sie mich zu verachten."

"Ihre geschiedene Frau lebt noch in Neuss?"

"Nein, sie ist nach Münster gezogen, weil meine Tochter - meine verheiratete Tochter dort lebt." Nicht einmal jetzt brachte er den Namen seines Kindes über die Lippen.

Trotz seines Versuches, die Vergangenheit abzustreifen, hatte Joachim also wieder einmal nachgegeben, sich in die schützende Kapsel der Pflicht zurückgezogen. So langsam begriff Kramer die Wirkung, die Edith Troy auf die Brüder Joachim und Ludwig Baldur ausgeübt hatte, aber auch den Zorn, mit dem Baldur Senior die Verführerin seiner Söhne verfolgt haben musste.

"Glauben Sie, dass es Ihrem Bruder Ludwig ähnlich ergangen ist?", hörte er sich zu seiner Verwunderung fragen, und Joachim Baldur atmete schwer: "Ja, das fürchte ich. Er ist auch nicht - nicht glücklich geworden."

"Das scheint das Schicksal Ihrer Familie zu sein", tastete Kramer sich vor, und Baldur schloss gequält die Augen.

Nach zwei Minuten stand Kramer auf. "Ich gehe jetzt, Herr Baldur. Und die Bilder bringe ich Ihnen so rasch wie möglich zurück."

Der kranke Mann antwortete nicht. Sein Mund war schmal geworden, und in den Winkeln hatten sich weiße Flecken herausgebildet.

Zwei Stunden verbrachte Kramer am Computer. Aus Rücksicht auf Baldur hatte er kein Tonband mitlaufen lassen, und jetzt musste er die Einzelheiten niederschreiben. Akten führen, wie er es einmal gelernt hatte. Geduldig räumte er auf und schloss das Büro ab.

Anielda. Zukunftsfragen auf wissenschaftlicher Basis verwandelte sich gerade wieder in eine normale Frau, als er in ihr Büro auf der anderen Seite des Flures kam. Das lange zeltartige und unförmig große Gewand aus schwarzem Stoff lag achtlos am Boden, die Perücke mit den schwarzen Locken hing auf der Stuhllehne, und sie stieg ächzend in ihre Jeans.

"Ein hübscher Anblick", lobte er.

"Du alter Voyeur", schimpfte sie, aber mehr aus Prinzip; dass er ihr zuschaute, störte sie nicht. Mit Lidstift und violettem Lippenstift, dazu brauner Farbe aus der Tube hatte sie sich als Zigeunerin zurechtgeschminkt, es gab Kundinnen, die darauf bestanden, und für solche Frauen polierte sie auch die alte Kristallkugel und zündete Kerzen an.

"Was willst du eigentlich?", flaxte sie und schrubbte sich am Waschbecken die Farbe aus dem Gesicht. An dem Tag, als Anielda gegenüber einzog und er ihr helfen musste, das Türschild anzuschrauben, hatten sie nachmittags die neue Nachbarschaft mit Kaffee und Cognac begossen. Es war nicht nur der Alkohol, der sie am Ende der Flasche dazu brachte, ihre große Couch auszuprobieren, aber der Versuch endete mit einer mittleren Katastrophe; in letzter Sekunde wehrte und sperrte sie sich aus Leibeskräften, und als er mit dem Rest von Selbstbeherrschung aufstand und ihr nicht den Hals umdrehte, begann sie zu weinen. Das Wort "frigide" wollte sie nicht hören, nein, sie sei auch keine Lesbe, er müsse das verstehen, es klappe halt nicht. Angst oder Panik oder was auch immer, sie schlief nicht mit Männern, sie konnte es nicht, sie hatte es oft versucht, und immer endete es so wie jetzt. Danach verkniff er sich auch die bissige Bemerkung, dass sie wahrscheinlich Psychologie studiert habe, um sich selber zu analysieren; das Studium hatte sie nie zu Ende gebracht, weil sie schon bei dem Gedanken an Klausuren oder Prüfungen ins Zittern und Flattern geriet. Eine Macke hatte sie halt, aber sein heimliches Urteil 'überspannte Ziege' nahm er bald zurück. Anielda schleppte einen ganzen Stapel von Problemen mit sich herum, aber die waren irgendwie säuberlich geordnet, und sobald sie die entsprechende Schublade zugeschoben und abgeschlossen hatte, erwies sie sich als eine patente Frau und Nachbarin, zuverlässig und freundlich. Bis eben auf einen unausrottbaren Hang zu massiver Boshaftigkeit.

"Ich wollte nur mal nach dir sehen."

"Zu gütig."

"Du weißt doch, ein Tag, an dem ich dich nicht sehe, ist ein verlorener Tag."

Statt einer Antwort tippte sie sich an die Stirn.

"Hast du einen neuen Kunden?", wollte er wissen.

"Nein", sagte sie gleichmütig. "Das war die alte Frau Olga. Sie wollte für die nächste Woche unter anderem die richtigen Lottozahlen erfahren. Puhh. Es sieht schlecht aus, Rolf, im Sommer doch immer."

"Im Moment hab' ich leider auch nichts für dich", beantwortete er ihre stumme Frage. Er spannte sie häufiger ein, für Überwachungen oder Beschattungen oder immer dann, wenn er nicht direkt in Erscheinung treten wollte oder eine Frau sich lieber einer Frau als einem Mann anvertraute. Dafür zahlte er und dafür nahm sie ohne Verlegenheit Honorar an, sie konnte das Geld immer gut gebrauchen.

"Was ist mit morgen? Thermalbad in Dreschbach?"

"Nur, wenn du mich hinterher zum Essen einlädst. Ich bin ziemlich blank."

"Gebucht."

Eine Stunde fuhrwerkte er in der Dunkelkammer herum und stellte Abzüge her. Die Pausen zwischen den Gähnanfällen wurden immer kürzer, er trank zum Tagesschluss seinen dünnen Whisky, stand im dunklen Wohnzimmer am Fenster und schaute auf die Haffstraße hinunter. Dieses verdammte Wort "Pflicht" geisterte noch immer in seinem Kopf herum.

Die Horst Bieber Krimi Sammlung 2021: Krimi Paket 8 Romane auf 1500 Seiten

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