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Erster Sonntag

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Gut dreißig Kilometer talaufwärts, bei Dreschbach, gab es ein großes Thermalbad, und außer Schwimmen betrieb Kramer überhaupt keinen Sport mehr, nur manchmal abends, nach stundenlangem Hocken im Auto, unfreiwillige Gymnastik, wenn die Gelenke steif und die Muskeln so hart geworden waren, dass er fürchtete, er würde sich nie wieder aufrichten können. Am Wochenende hielt er sich einen Tag frei, um zweimal tausend Meter zu schwimmen. Über seinen "Bewegungsdrang", wie sie ihn verspottete, konnte Anielda nur lachen, sie zog es vor, möglichst lange in der Sonne zu rösten - und die Existenz eines Ozons-Lochs so entschieden zu bestreiten wie die Gefahr des Hautkrebses, gleichwohl verbrauchte sie Unmengen Sonnenschutzcreme und belästigte ihn pausenlos mit der Aufforderung, ihr den Rücken einzuschmieren.

"Ein schöner Rücken kann auch entzücken", belehrte sie ihn, wenn er sich beschwerte.

"Ja, besonders wenn er medium durchgebraten ist."

"Untersteh' dich! Ist er etwa schon rot?"

So viel Herzlosigkeit, sie anzulügen, brachte er nun doch nicht auf. "Nein, er ist noch verlockend braun."

"Untersteh dich!", wiederholte sie drohend und schloss rasch die Schnalle ihres Bikini-Oberteils.

Ihre Decken hatten sie strategisch günstig ausgebreitet: Er würde ein paar Stunden im Schatten der Hecke liegen, und wenn die Sonne ihn erreichte, hatte sie an Kraft verloren. Sie entschied für sich die Mitte, etwas Sonne und etwas Schatten. Jeder schien zufrieden, und er stapfte sofort zum Wasser.

An ein gleichmäßiges Schwimmen, Bahn um Bahn, war nicht zu denken, aber wie häufig fanden sich ein paar andere Interessierte, die zu ihm aufschlossen und nebeneinander eine Phalanx bildeten, der andere auswichen. Sechs-, siebenhundert Meter hatten sie dann ihre Ruhe vor Quertreibern, Beckenrandspringern und Wasserspritzern, er spürte zuerst das leichte Ziehen in den Muskeln, dann den zaghaften Protest der Gelenke, beides hörte bald auf, machte einer unangenehmen Mattigkeit Platz, und als er die lange genug beharrlich ignoriert hatte, ging es ihm besser. Ein schneller Schwimmer war nicht, ihm kam es auf gleichförmige Bewegung an, die Verspannungen lösten.

Später döste er im Schatten und bekam einen zärtlichen Tritt in die Seite. Anielda breitete neben ihm ihre Decke aus.

"In der Sonne wird es doch zu heiß."

"Willkommen im Reich des Schattens."

Bei den zweiten tausend Metern begleitete Anielda ihn, aber sie legte ein so hohes Anfangstempo vor, dass er schmunzelte. Nach der Hälfte der Strecke hatte er sie eingeholt, sie schnaufte ziemlich und prustete: "Wieviele Bahnen haben wir noch?"

"Gut neun."

"Ach du meine Güte."

Obwohl er absichtlich langsamer wurde, kapitulierte sie vier Bahnen später und rettete sich an den Rand, von wo sie ihn finster betrachtete. Anielda - bei ihrem richtigen Namen Ursula Kohlmann musste er mittlerweile schon nachdenken - hatte es nicht gern, wenn man sie besiegte, und ihm war klar, dass sie sich rächen würde.

Eben das verkündete sie ungeniert, während sie die Speisekarte studierte und sich voller Vorfreude die Lippen leckte. Natürlich bedauerte sie gerade, dass sie nicht so viel in sich hineinstopfen konnte, wie sie essen wollte, und zum Ausgleich bestimmte sie: "Wir teilen!"

"Mit wem?"

"Quatschkopf! Untereinander."

"Wenn man dich so beobachtet, weiß man, wie Hungersnöte entstehen."

"Hach! Da quäkt der blanke Neid. Du musst auf deine Figur achten, vergiss das nicht!"

Auch das war leider richtig; er staunte immer wieder, was sie bewältigte, ohne den Gürtel ihrer engen Jeans lockern zu müssen. So war auch von gerechtem Teilen keine Rede mehr, er wehrte sich erst, als sie mit Hinweis auf sein Auto auch den restlichen Wein beanspruchte.

"Gut, dass du mich daran erinnerst. Wir müssen gleich noch einen kleinen Umweg fahren."

"Willst du mir deine neue Freundin vorstellen?"

"Nein, ich wollte dir ein Altenheim zeigen." Danach hielt sie die Klappe.

In der jetzt unangenehm kühlen Halle des Hauses Abendfrieden zischte die Schwester aus ihrem Verschlag hinter ihm her: "He, Sie!"

"Meinen Sie mich?"

"Sehen Sie einen anderen?"

"Nein, nur eine unhöfliche, frustrierte alte Hexe", fuhr ihm heraus, und sie wurde kalkbleich.

"Was fällt Ihnen ein?"

"Bei Ihnen schon lange gar nichts mehr. Wo ist Joachim Baldur?"

Zu seiner eigenen Verwunderung spürte er, dass er vor Wut zitterte. Diese widerliche Ziege! Solche Typen kannte er zu Genüge, ihre Feigheit und Unzufriedenheit konnten sie nur an wehrlosen Menschen auslassen. Aber bei ihm war sie an den Falschen geraten, und als er auf das Glasfenster zu stapfte, verriet ihn wohl sein Gesicht; sie schlug das Fenster zu, sprang auf, dass der Stuhl umkippte, und verschwand.

Die Tür zu Baldurs Zimmer war abgeschlossen. Eine ganze Weile irrte er durch das bedrückend stille, wie ausgestorbene Gebäude, dann traf er einen stämmigen Burschen, der das Abendessen-Geschirr einsammelte.

"Baldur, Baldur, ach, Zimmer 22?"

"Ja."

"Moment, ich erkundige mich sofort..." Während des Telefonats wurde sein offenes Gesicht ernst, dann legte er langsam auf und sagte leise: "Er ist heute morgen auf die Krankenstation gebracht worden... geradeaus, die nächste Treppe links in den dritten Stock."

Die junge Ärztin schüttelte nachdrücklich den Kopf: "Nein, Herr Kramer, er schläft jetzt."

"Ist es - ist es ernst?"

"Wissen Sie, woran Herr Baldur leidet?"

Nicht ungeschickt, verraten durfte sie es ihm nicht. "Er hat es nicht gesagt, aber ich vermute, er hat Krebs und ist austherapiert."

Kaum merklich nickte sie.

"Ich heiße Rolf Kramer und bin Privatdetektiv. Herr Baldur hat mich engagiert. Eigentlich wollte ich ihm nur zwei Bilder zurückbringen. Und mich etwas mit ihm unterhalten."

"Ja", sagte sie unschlüssig. "Er freut sich bestimmt über jeden Besuch, aber nicht jetzt, nicht nach der - nach den Spritzen."

"Wann wird er wieder ansprechbar sein?"

"Vielleicht morgen gegen Mittag." Sie kaute auf ihren Lippen. "Tut mir leid, genauer kann ich es beim besten Willen nicht sagen."

"Vielen Dank. Und alles Gute für Herrn Baldur."

"Ich werd's ausrichten... natürlich, die Bilder gebe ich ihm."

Als er die Treppe in die Halle hinunterkam, hatte er eine Begegnung der dritten oder vierten Art. Ein Gespenst in Schwesterntracht schoss wie vom Himmel gefallen auf ihn zu, schwenkte in einer Hand ein Stück Papier und kreischte in den höchsten Tönen: "Verschwinden Sie! Und sagen Sie Ihren Freunden, sie sollen sich hier nie wieder blicken lassen, oder ich lasse sie alle hinauswerfen, Sie Widerling... Sie Stinktier...Sie..." Offenbar hatte sie noch einige Bezeichnungen parat, aber die verstand er nicht mehr, weil sie an ihm vorbeigerast war und im Gang eine Tür zuknallte; eine dünne Fahne aus Schweiß und Desinfektionsmitteln schwebte hinter ihr her. Automatisch bückte er sich nach dem Zettel, der zu Boden geflattert war. Ein Blatt von einem vorgedruckten Abreißblock. "J. Baldur" in kaum leserlicher Handschrift, und zwei Kreuze in den Rubriken: "Es hat angerufen" - Doris, das musste Doris heißen. Oder? Und ein Kreuz bei: "Bitte zurückrufen" - Lattenburg, er war kein Apotheker, der solche Klauen entziffern konnte, aber das große N, gefolgt von wilden Aufwärts-Abwärts-Strichen, ein bg mit einer Badewannen-Verzierung, Lattenburg besaß die größte Wahrscheinlichkeit, Nummer 86 243. Achselzuckend steckte er das Papier ein.

Anielda wollte ein paar unfreundliche Bemerkungen absondern, weil sie so lange im Auto hatte warten müssen, aber nach einem Blick auf sein Gesicht blieb sie stumm.

Nachdem er seinen dünnen Schlummerwhisky eingeschüttet hatte, holte er den Zettel aus der Jackentasche. Die Vorwahl von Lattenburg kannte er auswendig, 8 - 6 - 2 - 4 - 3, es tutete zweimal, danach stellte sich ein Mann ein: "Sickert."

"Entschuldigung, mit wem spreche ich?"

"Sickert, Hermann Sickert."

"Das ist ja - ich wollte mit Doris sprechen."

"Ja, Moment, ich hole meine Frau."

Nachdenklich legte er auf und notierte sich den Namen. Also bekam Baldur doch Besuch im Haus Abendfrieden - aber es war sein gutes Recht, sich nicht mehr an alles zu erinnern.

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