Читать книгу Die Horst Bieber Krimi Sammlung 2021: Krimi Paket 8 Romane auf 1500 Seiten - Horst Bieber - Страница 13

Erster Donnerstag

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Trotz ihrer Mahnung fuhr er am nächsten Tag gen Norden. Der Säufer und Marlies hatten in aller Harmlosigkeit etwas erzählt, dessen sie sich gar nicht bewusst geworden waren, und Sonja Markowski konnte ihm höchstens die Tür vor der Nase zuschlagen. Einen Versuch war es allemal wert.

In Wandsbek kannte er ein kleines, ruhiges und preiswertes Hotel; die Wirtin erinnerte sich sogar an seinen Namen und seinen Beruf, sie kicherte fröhlich-aufgeregt, und er warnte: "Ganz große Staatsaffäre, Frau Klingbeil, und wenn heute Nacht die Maschinenpistolen rattern - Decke über den Kopf und nicht ans Fenster gehen."

"Zu Befehl, Herr Kramer. Was für ein Glück, die Feuerlöscher sind in der vorigen Woche inspiziert worden."

Sonja Markowski legte beim ersten Anruf auf, sobald er seinen Namen genannt hatte, zwei Minuten später versuchte er es noch einmal, und sie ahnte wohl, dass er keine Ruhe geben würde.

"Ich hätte nie..."

"Eine Stunde, und Sie sind mich für immer los."

"Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Kennen Sie sich in Hamburg aus...?"

Er hatte ihr das Kennzeichen seines Autos diktieren müssen und wartete über eine Stunde mit wachsender Ungeduld auf einem Parkplatz vor dem Öjendorfer Park. Dann lief eine Frau an der Reihe der abgestellten Wagen vorbei und studierte die Schilder, er stieg aus, schloss ab und ging etwas unsicher auf sie zu.

"Frau Markowski? Guten Tag, ich bin Rolf Kramer."

"Guten Tag", entgegnete sie mechanisch und musterte ihn danach ausgiebig. Freundlich konnte man ihren Gesichtsausdruck nicht nennen, aber sie hatte sich in der Gewalt und sah überdies ganz so aus, als wüsste sie mit Schwierigkeiten fertig zu werden. Keine Frau, die sich einschüchtern oder überfahren ließ, im Gegenteil, bei ihr musste er auf einiges gefasst sein.

"Also los, wir können um den See marschieren."

Sie musste, wenn er sich nicht verrechnet hatte, Mitte vierzig sein, aber wenn sie behaupten würde, erst Mitte dreißig sein, sollte ihr das jedermann glauben. Mittelgroß und schlank, enge Jeans, eine blaue Bluse, bequeme Latschen und eine praktische Handtasche an einem breiten Schultergurt. Bei Frisuren war er immer unsicher, sie sah aus wie ungekämmt, aber das wiederum so dezent, dass er vermutete, sie habe recht viel Geld für diesen Eindruck hinblättern müssen.

"Na, zufrieden? Können Sie sich mit mir sehen lassen?"

Dass ihr seine Blicke nicht entgangen waren, verwunderte ihn so wenig wie ihr unfreundlicher Ton. Allerdings schüchterte ihn die gerunzelte Stirn nicht ein, sie war gekommen, das war die Hauptsache, und sie würde auch mit ihm reden.

"Jederzeit und überall. Ich habe nur versucht, ein Bild mit der Realität zu vergleichen."

"In der Hoffnung, ein Dummerchen zu treffen?"

"Nein. Ihre Freundin Kitty Mehring hat mich vorgewarnt."

"Wie schön!", schnaubte sie. Er zerkaute ein Lächeln, schwieg und registrierte, dass sie ihr Anfangstempo minderte.

"Ich möchte Ihnen erklären, warum ich trotz Ihres Wunsches nach Hamburg gekommen bin. Gestern war ich in Kassel, an der Adresse, an die Sie Ihren Brief geschickt haben, und habe dort einen Mieter ausgehorcht, der in den achtziger Jahren Ludwig kannte. Allerdings nicht unter dem Namen Baldur, sondern unter dem Namen Lambert."

"Ach nein!", rutschte ihr heraus, er lachte gutmütig, damit sie merkte, dass sie sich verraten hatte.

"Lambert ist der Mädchenname seiner Mutter", erklärte sie verdrossen. Noch konnte sie sich nicht entscheiden, ob sie nun über Luba reden wollte oder nicht, und ihre Unentschlossenheit ärgerte sie am meisten.

"So etwas Ähnliches habe ich mir gedacht. An Ludwig Baldur mochten sich zuviele Menschen erinnern, der Prozess hatte ja Schlagzeilen gemacht."

"Vorsicht", korrigierte sie scharf. "Ludwig hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er im Gefängnis war. Zwölf Jahre unschuldig gesessen hatte."

"Was heißt das? Unschuldig?"

"Ludwig hat jedem, der es hören wollte oder nicht, lautstark erklärt, dass er Edith Troy nicht umgebracht hatte, dass er Opfer eines Fehlurteils geworden war, dass er alles daran setzen werde, diesen reaktionären Unrechtsstaat in die Luft zu jagen, der ihm zwölf Jahre seines Lebens geraubt hatte."

"Das war der Hass, von dem sie geschrieben haben?"

"Natürlich." Sie holte tief Luft und lief noch langsamer. "Herr Kramer, Sie wissen ja offenkundig, wo und wie Ludwig mich kennengelernt hat?"

"Ja, er kam nach seiner Entlassung in eine Bar, in die Kerze, in der Sie bedienten."

"Eben. Er glaubte, er könnte in der Kerze eine Prostituierte aufgabeln, Kitty hat ihn an die frische Luft gesetzt, denn da war er bei uns an der falschen Adresse. Trotz des vielen Geldes, mit dem er winkte. Am übernächsten Abend kreuzte er wieder auf, entschuldigte sich und fing an, mit mir zu quatschen. Zwölf Jahre Bau nach einem Fehlurteil, er wisse nicht mehr, wie es draußen laufe, ich sollte ihm nicht böse sein, er hätte uns nicht beleidigen wollen, er brauchte einen Menschen, mit dem er reden könne."

"Frau Markowski, Sie müssen sich vor mir nicht rechtfertigen."

"Das ist auch nicht meine Absicht. Ich wollte nur klarstellen, dass er sich nach einem verunglückten Anfang als ein schwieriger, aber ehrlicher Mann entpuppte, der mir - tja, was eigentlich? - damals hätte ich gesagt, der mir gefiel. Es war nicht nur Mitleid, bestimmt nicht, ich hab' ihm das Fehlurteil auch nicht unbedingt geglaubt, aber seine Hartnäckigkeit - Herr Kramer, ich bin bald schwankend geworden. Es gibt Fehlurteile."

"Kein Widerspruch."

"Aber womit ich nicht klarkam, als ich zu ihm in den Limbacherweg gezogen war, das war dieser Hass auf alles. Auf Menschen, auf die Justiz, auf den Staat, die Gesellschaft, auf alles."

"Auch auf Sie?"

"Manchmal auch auf mich, wenn ich ihn bremsen wollte, er solle sein Leben nicht wegschmeißen an diesen Hass, mein Gott, er war doch ein reicher Mann, er konnte vieles tun, genießen, erleben, was sich andere Menschen auch ohne zwölf Jahre Haft nie erlauben konnten."

"Es hat nichts genutzt?"

"Nein. Überhaupt nichts. Es wurde immer schlimmer."

"Bis Sie am Heiligabend 1974 weggelaufen sind."

"Ja. Er hatte sich geweigert, einen Tannenbaum zu kaufen, er wollte diesen verlogenen Quatsch einer heuchelnden bürgerlichen Gesellschaft, die über ein Kind auf Stroh weinte, aber die Kinder in der Dritten Welt verfaulen und verhungern lasse, nicht auch noch feiern, und bei dem Wort Kirche explodierte er regelrecht."

Sie schlenderte jetzt, kickte manchmal kleine Steinchen vor sich her und schaute auf die Kinder, die am Wasser herumtobten. Auf den Wiesen wurden Picknickkörbe ausgepackt, hinter Büschen stieg der unverkennbare Rauch von Grillkohle empor.

"Es ist schwer zu erklären - sehen Sie, je vertrauter er mit mir wurde, desto häufiger offenbarte er seinen Wunschtraum. Er wollte sich rächen, und zu Anfang habe ich geglaubt, an den Richtern oder an dem Staatsanwalt oder an den Leuten im Gefängnis, die ihn wohl ziemlich schlecht behandelt haben."

"Weil er ein renitenter Sträfling war."

"Sicher, ich weiß. Das wäre ja noch irgendwie logisch gewesen. Oder verständlich, wenn auch nicht entschuldbar. Aber sein Hass saß sehr viel tiefer, der richtete sich gegen alle Menschen. Gegen Schuldige und Unschuldige, und dieser Hass war zum Fürchten. Ich habe Luba bald gefürchtet ...ich habe bald gefürchtet, dass sein Hass auch vor mir nicht Halt machen würde."

"Vor keinem Menschen?"

"Nein."

Ein paar Minuten spazierten sie schweigend nebeneinander her. Die anderen Menschen waren weit weg.

"Hat Ludwig Baldur einmal erwähnt, wen er eigentlich verdächtigte? Wenn er Edith Troy nicht umgebracht hatte - wer war es dann?"

Unvermittelt blieb sie stehen und legte spontan eine Hand auf seinen Arm. "Das ist es, jetzt fällt's mir - Herr Kramer, danach hab' ich ihn natürlich mehr als einmal gefragt. Es interessierte ihn nicht, nein, wirklich nicht, es beschäftigte ihn nicht mehr, der wirkliche Mörder war nur einer unter den vielen, die er hasste und am liebsten vernichtet hätte."

"War er geistig noch gesund?"

Ihr anerkennendes Lächeln verwirrte ihn. "Sie sind ein kluger Mann - die Frage habe ich mir auch gestellt, und als ich sie mit 'Ja' beantworten musste, bin ich gegangen. Er war nicht irre, auch wenn er Fürchterliches plante, aber das würde er eiskalt, kaltblütig, mit aller Intelligenz verfolgen. Und intelligent war er, sehr sogar."

"Für seinen Plan würde er alles Geld, das er besaß, einsetzen?"

"Ja. Kein Zweifel. Daran würde er alles setzen. Sein ganzes Geld. Und noch eins: Im Gefängnis hatte er die Scheu vor Gewalt verlernt."

Also hatte sich die Fahrt gelohnt, er entspannte sich. "Frau Markowski, dieser Mieter aus Kassel - kein heller Typ, nebenbei - hat mir unfreiwillig verraten, dass Ludwig bis zu seinem Unfall wie ein Mann lebte, der sich eine Legende zugelegt hat. Für die Nachbarn nicht auffällig, aber so, dass keiner genau herausbekam, was er wirklich trieb. Und als er nach dem Unfall das steife Bein zurückbehielt, wurde alles blitzschnell aufgelöst und beseitigt, was er zu seiner Tarnung benutzt hatte. Und der etwas dämliche Nachbar wurde dazu missbraucht, noch eine falsche Spur zu legen."

Aus einem Grund, den er sich nicht eingestand, erwähnte er Marlies aus dem Landgraf nicht. Darauf erwiderte sie nichts, er sah, dass sich ihr Busen unter einem Atemzug hob, und als vor ihnen ein Paar aufstand, schlug er vor: "Setzen wir uns einen Moment?"

"Warum?"

"Damit Sie mir in aller Ruhe beichten können, was Sie bis jetzt verschweigen, was Sie aber so umtreibt, dass Sie trotz Ihrer Bedenken mit mir reden."

"Sie sind ein - " Weil sie selbst merkte, dass ihr Zorn schlecht gespielt war, brach sie ab und ballte die Fäuste. In der Sonne war es heiß und für ihn fast zu hell, auch sie kramte in ihrer Handtasche und setzte eine große Sonnenbrille auf. Auf der Wiese vor ihnen spielten zehn oder zwölf Kinder Fußball, wobei der Lärm wichtiger schien als die Zahl der Tore.

"Also gut", willigte sie ein. Er hielt ihr sein Zigarettenpäckchen hin, und sie bediente sich automatisch, mit den Gedanken weit weg. "Kitty hat Ihnen erzählt, dass ich wieder in der Kerze gearbeitet habe? ... Ludwig ließ sich nicht mehr blicken, und eines Abends tauchten zwei schräge Typen bei uns auf. Das muss im Sommer gewesen sein, ja, im Sommer 1975. Wissen Sie, ich mag vielleicht ein dummes Mädchen gewesen sein, aber was in einer Bar abläuft, da konnte mir keiner was vormachen. Das waren keine normalen Gäste, die wollten was. Von Kitty und mir, die andere, die Lilo, war schon weg. Wir haben sie zappeln lassen, und als eines Abends kein anderer Gast da war, hat Kitty losgelegt. Wenn sie jetzt nicht das Maul aufmachten, bräuchten sie sich nicht wieder sehen zu lassen, dann würde ihnen die Tür nicht mehr geöffnet. Na ja, so total überrascht waren sie nicht, also bequemten sie sich zu ein paar Aussagen. Wo denn Ludwig Baldur wäre."

"Verfassungsschutz?"

"Das haben sie erst am nächsten Abend gestanden. Ich hätte doch mit Ludwig Baldur bis Weihnachten zusammengelebt, jetzt wäre Baldur spurlos aus Deutschland verschwunden, und sie würden schon gerne wissen, wo er stecke."

Er rauchte langsam und wartete.

"Mann Gottes, ich kann Ihnen flüstern, die waren vielleicht hartnäckig. Wo treibt er sich 'rum? Was plant er? Warum hat er sein ganzes Geld weggeschafft? Wer sind seine Freunde?"

Bis eben hatte er nicht damit gerechnet, auf Anhieb einen Volltreffer zu erzielen. Aber es überraschte ihn nicht. Wenn ein renitenter Häftling überall jedermann auf die Nase band, er sei Opfer eines Fehlurteils und plane deshalb, diesen Unrechts-Staat mit Hilfe des ideologischen Feindes in die Luft zu jagen und sich an allen zu rächen, dann wurde eines Tages auch der Verfassungsschutz aufmerksam. Unternehmen konnte er gegen Ludwig Baldur nichts, solange es beim wütenden, hasserfüllten Gerede blieb, und als Millionär hatte es Ludwig Baldur auch nicht nötig gehabt, sich nach seiner Entlassung mit schrägen Typen einzulassen oder dubiose Geschäfte zu tätigen. Deshalb Vorsicht: Nur mal ein bisschen im Auge behalten, mal kontrollieren, ob sich der Junge nicht beruhigte, Dampf abließ und dabei ruhiger wurde, seinen Frust an seiner Freundin abreagierte. Hunde, die bellen, beißen nicht, aber bewusst oder unbewusst hatte Baldur sie geleimt, eines Tages bellte er nicht mehr, und als ihnen das auffiel, war er ins Ausland verschwunden. Spurlos. Mit all seinem Geld. Was nicht strafbar war, und Gina, sein blonder Engel aus der Rechtsanwaltskanzlei Bülow und Delius, hatte ja ausdrücklich betont, dass Ludwig Baldur alle Steuern bezahlt hatte. Aber nicht strafbar hieß noch lange nicht unverdächtig. Nein, bei diesen Herren nicht. Den Rechtsanwalt oder die Bank würden sie nicht fragen, da riskierten sie, ziemlich unsanft vor die Tür befördert zu werden, folglich hielten sie sich an die frühere Freundin, und wenn die wahrheitsgemäß beteuerte, sie wisse nichts, dann log sie eben aus alter Liebe.

"Sechs Monate haben die uns gelöchert, Herr Kramer."

"Da haben Sie noch Glück gehabt."

"Na, Glück - ich weiß nicht. Eines Tages erschienen sie nicht mehr. An dem Abend haben Kitty und ich das Lokal freigehalten."

"Was haben Sie denn befürchtet? Dass Ludwig etwas mit Terrorismus zu tun habe?"

"Terrorismus - ach, nein - oder sagen wir so: Es hätte mich nicht überrascht, wenn man eines Tages deswegen nach ihm gefahndet hätte."

"Hat man Sie je wieder nach Ludwig Baldur befragt?"

"Nein. Bis Sie anriefen ..."

"Sein Bruder Joachim sucht ihn."

"Jochen? Der ihn vor Gericht verflucht hat?"

"Er ist schwer krank und hat nicht mehr lange zu leben."

"Seltsam. Der Bruder. Na ja."

"Weiß jemand, dass Ludwig Baldur Ihnen 1986 geschrieben hat?"

"Sicher. Der Brief ist ja durch viele Hände gegangen, bis er bei mir landete. Aber Polizei oder Justiz oder Verfassungsschutz - nein, die haben sich nie wieder gemeldet." Nach einer Weile setzte sie mit dünner Stimme hinzu: "Gott sei Dank, Herr Kramer."

"Diesen Teil der Geschichte kennt Ihr Mann nicht?"

"Nein", flüsterte sie.

"Von mir wird er ihn nicht erfahren, Frau Markowski."

Sie trat die Zigarette aus und streckte sich. "Sonja."

"Gut, Sonja. Ich heiße Rolf."

Ja, der Verfassungsschutz; sie lachte halb schrill, halb grimmig. Das war irgendwie komisch. Verrückte Typen, die sich ungeheuer ernst nahmen und überall den Untergang der freiheitlich-demokratischen Grundordnung witterten. Die Zeitungen waren damals voll mit Geschichten über Leute, die wegen des Radikalen-Erlasses Ärger hatten oder keine Anstellung im Staatsdienst bekamen. Alle Wege führten nach Moskau, und wer Wodka trank, zettelte auch die Weltrevolution an.

"Haben Sie sich damals für Politik interessiert?"

"Keine Spur!" Aber Luba besaß auf die ganze Politik einen ziemlichen Rochus, dieser Scheiß-Liberalismus hatte total abgewirtschaftet, das sah man doch, der konnte sich nur noch mit Verboten und Schnüffelei gegen die vermeintliche Gefahr von links wehren. Aber so wären die Rechten, schworen Meineide auf die Freiheit und meinten nur ihre Ausbeutungs-Privilegien. Vor 1945 trugen sie voller Stolz das goldenen Parteiabzeichen, später das Bundesverdienstkreuz.

"Moment mal", warf Kramer ein. "Hat er das wirklich gesagt?"

"Sicher, Rolf."

"So, wie Sie ihn darstellen, war er ein Linker."

"Und ob! Links von Luba gab's nur noch den Archipel Gulag. Er hasste die Schwarzen, die Rechten und die Liberalen."

"Das Urteil ist von einer Kammer gefällt worden, deren Vorsitzender ein alter Konservativer war. Luba hat ihm noch im Schlusswort vorgeworfen, er habe schon unter Hitler für Führer Volk und Reich das Recht gebeugt."

Jetzt betrachtete sie ihn unschlüssig.

"Also, ich weiß nicht - vielleicht hatte es mit seiner Vergangenheit zu tun, ich meine, mit dem Mord - Luba hat viel von Edith erzählt, von der Frau, die er umgebracht hat."

"Was er bestritt!"

"Sicher. Edith muss irgendwie eine Linke gewesen sein, keine überzeugte Kommunistin, aber halt durch Erziehung oder Gewöhnung oder so eben links. Obwohl ihr Vater im Juni 1953 in Ostberlin erschossen worden ist und ihr Onkel wegen der Beteiligung an dem Aufstand gesessen hat. Ich glaube, sogar in Bautzen. Das hat Luba immer wieder beschäftigt. Was müsse das für eine überzeugende Ideologie sein, die trotz solcher Schläge ihre Anhänger nicht ins Wanken geraten lasse."

Darauf konnte er nur hilflos beide Hände heben.

Sie lachte: "Luba hatte seine blinden Flecken. Ich auch."

"Wie meinen Sie das?"

"Wenn, dann kann ich schon die ganze Wahrheit auspacken. Außer dem Verfassungsschutz haben sich noch andere Typen für Luba interessiert."

"Wer?"

"Das weiß ich so genau nicht. Kitty hat Ihnen doch sicherlich erzählt, dass der fette Peter aus der Kerze einen Rotlicht-Schuppen machen wollte? - eben. Ich bin weggegangen, hab' dann im Süddeutschen den Job in einem Hotel gefunden. Eines Abends, Monate später, sitzt ein etwas überalterter Playboy an der Bar, macht eine Riesenrechnung und will mich aushorchen. Über einen gewissen Ludwig Baldur. Mir hat der Knabe nicht gefallen, er war irgendwie schleimig und schmierig, na schön, er kommt an drei Abenden hintereinander und legt mir plötzlich ein Päckchen Hunderter auf die Theke. Das gehöre mir, wenn ich ihm verraten könnte, wo er Luba finden würde."

"Ach nee! Und warum wollte er Luba sprechen?"

"Sie hätten zusammen im Knast gesessen, sich dann aber aus den Augen verloren."

"Das nenn' ich ehrlich."

"Ja." Sie lachte unfroh. "Das Geld hätt' ich gut gebrauchen können, aber ich hab' es abgelehnt, erstens gefiel mir der Kerl nicht und zweitens wusste ich ja wirklich nicht, wo Luba abgeblieben war, und seit dem Abend hat sich der Ölige nicht mehr blicken lassen."

Ein Knastbruder, der Ludwig Baldur suchte und dafür mindestens einen Tausender opfern wollte? Sie sprang auf:

"So, also los, wir müssen noch um den See rum."

Nach etwas mehr als der Hälfte des Weges erkundigte er sich beiläufig: "Sonja, Ludwig war ein Linker, nicht wahr?"

"Geworden, ja."

"Und er war Millionär."

"Ja, das auch." Fröhlich lachend hing sie sich bei ihm ein und versuchte, so lange Schritte wie er zu machen. "Das war schon ein Widerspruch, nicht wahr? Bei dem großen letzten Streit, am Heiligabend, als ich dann weglief, hab' ich ihm das auch vorgeworfen. Millionen und Dividenden und Zinsen, während in der Dritten Welt gehungert wurde. Du meine Güte, das hätte ich besser nicht gesagt! Ob ich denn nicht wüsste, welche Revolutionen erfolgreich gewesen seien? Immer nur die, bei denen das Volk Waffen gehabt habe. Und woher kommen die Waffen? Wer bezahlt die? Wer schult die Proletarier für den Endkampf an Gewehren und Geschützen?"

"Wollte er dafür sein Geld einsetzen?"

"Möglich. Ich weiß es nicht. In dem Moment hab' ich ihm alles zugetraut. Aber wie ernst er es meinte... na ja, ich wollt's ja gar nicht hören."

Er zwang sich, kürzere Schritte zu machen, sie merkte es und ließ seinen Arm los.

Kurz vor dem Parkplatz fragte er dann aber doch: "Sonja, können Sie sich vorstellen, dass Ludwig nach seinem Unfall in seine Heimatstadt zurückgekehrt ist?"

Ohne Zögern bejahte sie. "Nicht aus Zuneigung, Rolf. Das bestimmt nicht. Aber vielleicht, um einige zu ärgern oder zu provozieren, die nur zu froh waren, als er verschwand."

"Wer sind diese 'einige'?"

"Seine Familie. Die Freunde der Familie. Denen hat er nie verziehen, dass sie sich während des Prozesses so wenig für ihn eingesetzt haben."

Den Satz bedachte er lange, und obwohl er sich verstohlen den Schweiß von der Stirn wischte, fröstelte er. Ein Leben voller Hass konnte er sich nicht vorstellen, schon der Gedanke ängstigte ihn. Auch wenn er viel erklärte.

"Sie haben sich nie für Politik interessiert?"

"Nein", räumte sie ein. "Weder für die, die Ludwig... noch für die - nein, Luba duldete keinen Widerspruch."

Der Marsch rund um den See hatte ihm gut getan; sie blinzelte, weil sie seine plötzlich gute Laune spürte, und erkundigte sich, als sie vor seinem Auto stehen blieben: "Was machen Sie jetzt?"

"Ich weiß noch nicht. Wenn ich mir kein Hotelzimmer genommen hätte, würde ich heute noch nach Hause fahren."

"Dann können wir doch noch etwas unternehmen." Und als er erstaunt den Kopf schüttelte, fuhr sie leise fort: "Ich bin allein, die Kinder verbringen die Ferien auf einem Reiterhof, mein Mann ist auf Dienstreise in Kanada."

Am späten Nachmittag landeten sie im Planetarium, sie lachten beide über die Idee und pusteten auf den Treppen. Aber der Raum war kühl, und die Hitze hatte ihnen zu schaffen gemacht, wie erschlagen hingen sie in ihren Sitzen und konnten den Vortrag über den Sternenhimmel des Südens nicht recht würdigen. Er war kein Pflastertreter, aber sie schien den Stadt- und Schaufensterbummel zu genießen, und deshalb hatte er sich klaglos in alles geschickt.

Die Dämmerung war schon hereingebrochen, als sie vor dem Turm standen und sich ansahen.

"Was machen wir jetzt?", wollte sie wissen, und er seufzte leise.

"Ich habe Durst, meine Waden zwicken, und etwas zu essen würde ihm nicht schaden."

"Wem nicht schaden?"

"Meinem Magen. Er protestiert schon eine ziemliche Weile gegen permanente Vernachlässigung."

"Ach, und ich dachte die ganze Zeit, die Lautsprecheranlage hätte einen Defekt."

"Wer den Schaden hat, spottet jeder Beschreibung, wie?"

"Du sagst es. Wir fahren zu mir."

Das überlegte er eine ganze Weile, sie hatte es völlig harmlos vorgeschlagen oder befohlen, das blieb sich gleich, und es gefiel ihm nicht. In den vergangenen Stunden hatte sie Vertrauen zu ihm gefasst, das hoffte er wenigstens, aber mehr wollte er in ihre Bekanntschaft nicht investieren.

"Auf geht's!"

Mit einem unguten Gefühl folgte er ihr.

Das Haus lag am Stadtrand in einer gesichtslosen Neubausiedlung, groß, aber nicht pompös, und die Einrichtung verriet mehr Geld als Geschmack. Dass sie die Vorhänge vorzog und dahinter die Verandatür nur einen Spalt öffnete, schien ganz natürlich, aber anders wäre es ihm lieber gewesen.

"So, wir werden den Kühlschrank plündern, einverstanden?"

Seine Hilfe wurde abgelehnt, er hockte sich mit einer Weißweinschorle an die Frühstücksbar und sah ihr zu. Geschickt war sie, und dank der Tiefkühlindustrie zauberte sie in wenigen Minuten etwas auf die Teller, was sogar schmeckte. Das Knurren hinter dem Hosenbund ließ nach, sie lachte über sein Lob und trank den schweren Weißwein wie Wasser weg.

"Du bist so still geworden."

"Ja? Tut mir leid."

"Ich bin froh, dass du noch mitgekommen bist."

"Bist du schon lange allein?"

"Die Kinder sind seit dem Wochenende weg. Und mein Mann - ", sie machte eine Handbewegung, als werfe sie etwas über ihre Schulter nach hinten, dabei schnitt sie eine so zornige Grimasse, dass er lieber schwieg, bis sie nach seiner Hand griff.

"Wie ich Kitty verstanden habe, führt ihr eine glückliche Ehe. So, wie du es Ludwig geschrieben hast." Es genügte nicht mehr, um den heißen Brei herumzureden, sie hatte ihn auf diesen Hocker in dieser modernen Küche mit den modernsten Geräten manövriert, um ganz altmodisch den Lohn für ihre Informationen zu kassieren, sie wollte reden, sie wollte, dass ihr jemand zuhörte, vielleicht erwartete sie noch mehr, das würde sich zeigen, und er konnte jetzt nicht aufstehen und gehen, obwohl es das Vernünftigste gewesen wäre.

"Das war mal, Rolf. Er hat eine andere kennengelernt. Sie nennt sich seine Assistentin, natürlich jünger als ich, aber das spielt wohl gar nicht die große Rolle, sie hat studiert, sie hat etwas Ordentliches gelernt, sie kommt aus einem ordentlichen Stall, ich war einmal Verkäuferin und dann Barfrau, das wollte er wohl vergessen, und das fällt ihm nun immer wieder ein."

"Trink nicht so schnell!"

"Weshalb sollte ich jetzt nüchtern bleiben? Was hast du früher gemacht? Bevor du Privatdetektiv wurdest?"

"Ich? Ach, das ist - nun ja, ich habe nach dem Abitur eine kaufmännische Lehre gemacht. Import-Export. Dann war ich für meine Firma im Ausland, bin zurückgekommen, habe als kleiner Angestellter weitergemacht, bis die Chefs die Firma ausgeplündert und ruiniert hatten und wir schließen mussten. Tja, da stand ich dann auf der Straße."

"Auch keine große Karriere, wie?"

"Nein, gar nicht. Sehr bescheiden. Jetzt bin ich mein eigener Herr, muss sparen und oft knausern, viele Aufträge annehmen, die ich lieber ablehnen würde, und sehen, wie ich über die Runden komme."

"Bist du verheiratet?"

"Nein, ich habe nicht einmal eine feste Freundin." Er lachte melancholisch, weil er an Anielda dachte. "Ab und zu schläft - übernachtet eine Frau bei mir in der Wohnung. Sie behauptet, sie sei weder eine Lesbe noch frigide, aber ich habe noch nie mit ihr geschlafen."

"Magst du sie leiden?"

"Ja, tue ich."

Sie sprang auf und holte eine zweite Flasche aus dem Kühlschrank, schob sie vor ihn und fuchtelte mit dem Korkenzieher vor seiner Nase herum.

"Und sie? Mag sie dich auch leiden?"

"Ja."

"Dann hast du mehr als ich. Und sie auch."

"Ich darf nichts mehr trinken, Sonja."

"Wieso? - wir haben doch erst eine Flasche geschafft."

"Ja, aber ich muss jetzt gehen."

"Warum? Warum willst du schon gehen? Magst du mich nicht?"

"Doch", entgegnete er müde und ignorierte den Kleinmädchen-Ton. "Und eben deswegen gehe ich. Vielen Dank für deine Hilfe und für den schönen Tag."

Die Horst Bieber Krimi Sammlung 2021: Krimi Paket 8 Romane auf 1500 Seiten

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