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9. Der allwissende Heribert

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Als Sten Nadolny die Idee zu seinem Buch „Die Entdeckung der Langsamkeit“ hatte, muss er kurz zuvor Bert Bender kennen gelernt haben und dabei eingeschlafen sein. Jeder, der mit Bender zu tun gehabt hatte, war nur für eine sehr kurze Zeit fasziniert von seinem Wissen und der Tiefe seiner Gedanken. Aber nach einer gewissen Zeit hatte man das Gefühl, in einer Endlosschleife gefangen zu sein. Er galt als der große Philosoph der Szene oder hielt sich zumindest selbst dafür, hatte aber auch den Ehrgeiz, dies jedem zu beweisen – bei jeder Gelegenheit. Wenn diese Anlässe ein Zusammentreffen mit Meisner beinhalteten, wurde jedem Beobachter klar, warum die beiden sich nicht ausstehen konnten.

Mit seiner erst licht und dann weiß gewordenen Prinz-Eisenherz-Frisur und passendem Bart am fliehenden Kinn sollte der Denker auch äußerlich erkennbar werden als Lichtgestalt des Wahren, Schönen und Guten. In Wirklichkeit war die Person ein fleischgewordener 62 Jahre alter Tranquilizer.

Weil jeder Strich immer erst auf seinen Zusammenhang mit dem großen Ganzen hin überprüft werden musste, wendete er für seine lavierten Tuschzeichnungen eine Menge Zeit auf, die man beim bloßen Anblick des Ergebnisses allerdings nicht herauslesen konnte. Das Menschenbild in sorgfältig verdichteten Strukturen, gepaart mit geheimnisvollen Zeichen und Verbindungslinien zwischen Kraftfeldern. Was seine Jünger als Schlüssel zu einem anderen Bewusstsein interpretierten, war für die Nörgler nur ein esoterischer Brei. Nur eines mussten auch letztere zugestehen: seine Zeichnungen waren von höchster Perfektion und ebensolchem ästhetischen Reiz. Wegen der zeitraubenden geistigen Durchdringung hatte er auch nur ein eher bescheidenes Œuvre. Gemälde von seiner Hand gab es keine, es wäre vermutlich auch höchstens eines geworden. Dafür gab es aber eine Vielzahl an Texten, die den geistigen Inhalt seiner Zeichnungen eher verschleierten als erläuterten.

Über die reine Zeichnung legte er feinste Lasuren, die die gebrannte Siena in zartesten Nuancen bis in die Unendlichkeit entführen konnten. Seine Farbpalette bestand eigentlich nur aus drei Grundtönen, Ocker, Umbra, Siena, die mit Schwarz, Weiß und Wasser verfeinert wurden. Bisweilen gab es auch mal Temperamentsausbrüche in Form kleiner roter Spritzer oder bläulicher Schatten. Die Zeichnungen hatten den Anschein einer anderen Zeit ohne sich der Stilmittel vergangener Epochen zu bedienen. Mal gehauchte Gedichte von Feder und Pinsel, mal kraftvolle Zeichen der Stärke. Niemand hätte das Wortgeplätscher gebraucht, um solche Zeichnungen zu schätzen. Jemand muss ihm vor Zeiten wohl mal geraten haben, wenigstens seinen Vornamen durch Kürzung etwas aufzupeppen. Heribert heißt man einfach nicht.

„Treten Sie ein, mein Freund. Haben wir uns nicht schon mal gesehen. Ja – ich bin mir dessen sicher. Wir haben uns gesehen. Ich erinnere mich, dass wir uns bei der letzten Vernissage von Meisner gesehen haben. Schrecklicher Mensch der – miserable Arbeiten ohne einen Funken Verstand, alles nur aus dem Bauch. Dabei kann er was. Er müsste sich ja nur ein einziges Mal mit meinem Text beschäftigen, in dem ich den Bogen spanne von der archaischen Jähe zur verborgenen Transzendenz. Aber in diesen erbärmlichen Zeiten ist ja niemand mehr an Inhalten interessiert, nur noch die grelle Verpackung zählt. Alles muss geil sein – sogar der Geiz.“

Kohoutek musste sofort an den Leierkastenmann Erich Honecker denken, wie der in seinen besten Zeiten bei der Verlesung des Fünfjahresplans vor dem Politbüro auftrat.

„Guten Morgen! Frieder Kohoutek.“

„Was ich Sie fragen wollte: Sind Sie verwandt mit jenem Entdecker des Kometen, der vor Jahren das Firmament zierte. Stellen Sie sich das mal vor: dieser Bote aus dem Anfang aller Zeit kreuzt die Gegenwart, beschwört als gleißendes Menetekel Ängste herauf wie bei unseren Vorfahren, die noch die Weisheit der alten Zeit in sich trugen. Das sage ich Ihnen: wenn man einmal in diese mystische Welt eingetaucht ist und endlich die Harmonie allen Seins zu ahnen beginnt, wird man von der Faszination davon getragen, die …..“

Kohoutek wusste aus früheren Begegnungen, dass er keine Chance auf ein einfaches Frage-Antwort-Spiel haben würde, wenn er nicht rechtzeitig einen Stock in die Gebetsmühle steckte.

„Nicht verwandt, nicht verschwägert.“

„Wie? Mit wem?“

„Mit Kohoutek I.“

„Ach – das nimmt mich wunder!“

„Zufällige Namensgleichheit.“

Der Versuch, Schlüsselworte zu vermeiden, die reflexartig vorbereitete Textbausteine abrufen, war ohnehin zum Scheitern verurteilt, aber jetzt hatte Kohoutek einen Volltreffer gelandet.

„Zufall?! Nein mein Freund. Der Zufall ist die armselige Erfindung derer, die den einfachen Weg gehen wollen, die mit billigen Erklärungen zufrieden sind, denen die Erkenntnis Angst macht, die Werden und Vergehen mit ihrer Ex-und Hopp Einstellung verwechseln. Augustinus hat mal gesagt, dass der ……“

Bevor nun auch noch Bonifatius, Thomas von Aquin oder Franz von Assisi ins Spiel kamen, ließ Kohoutek schon mal den Kopf der Katze aus dem Sack.

„Könnten wir mit Leonardo da Vinci anfangen?“

„Ah – Leonardo! Der Prometheus der Kunst! Keinen verehre ich mehr – keinen! Es ist ein Geschenk, dass wir hier jetzt im Gropius-Bau Anteil haben dürfen an diesem großen Geist. Vor ihm und nach ihm

findet sich kein Universalgenie, das sich mit ihm messen könnte. In aller Demut habe ich mich seinem Werk genähert und einen großen Geistesverwandten in ihm erkennen dürfen. Sein Werk hat das meine erst ermöglicht, weil es ……“

„Könnte man sagen, dass Sie ihn auch zitieren.“

„Alles Tun ist ein Zitat des zuvor Gedachten. Meine Arbeiten atmen seinen Geist. Aber ein Künstler muss die Grenze wahren zwischen dem Zitat aus Verehrung und dem schäbigen Diebstahl geistigen Eigentums.“

„Aber der Kunstmarkt wird überschwemmt mit solchen Arbeiten.“

Kohoutek hatte wieder ein Schlüsselwort getroffen. Kaum war die Taste des Rekorders gedrückt, wurde die Antwort abgespult.

„Dieser pervertierte Kunstmarkt interessiert mich nicht mehr. Von Kunsthändlern und Galeristen, diesen kleinkarierten Erbsenzählern, will ich mich nicht mehr länger aufhalten lassen auf meinem Weg ohne Moden und Maschen. Die handeln Kunst ja nur noch wie Aktien, wollen von den jungen Künstlern billig kaufen in der Hoffnung auf eine möglichst umstrittene Aufnahme am Markt, um dann, wenn die Marktschreierei Erfolg hatte, die Preise zu verdoppeln. Wenn das nicht reicht, wird in regelmäßigen Abständen ein Skandal nachgeschoben. Wer mich auf diese Stufe stellt, beleidigt meine Intelligenz.“

Als erfahrener Medienmann konnte Kohoutek die ganzen Klingeltöne wohl herausgefiltern und dann wäre darunter auch ein wahrer Kern erkennbar geworden, aber dieser großspurige Anspruch, die letzten Weisheiten in Stein zu meißeln, hatte erst Grimm und dann Müdigkeit zur Folge. Kohoutek strich in diesem Moment einen weiteren Namen von der Liste. Der große Rest des Gespräches oder besser gesagt gelegentlich unterbrochenen Monologes fand unter Ausschluss der Kohoutekschen Aufmerksamkeit statt.

Der rote Punkt

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