Читать книгу Der rote Punkt - Horst Rellecke - Страница 8
4. Die erste Kopie
ОглавлениеDas Phänomen der langen Warteschlangen vor den Tempeln der Kunst hatte man bei der MOMA-Ausstellung 2004 in der Berliner Nationalgalerie staunend beobachten können. Wartezeiten bis zu zehn Stunden hatten die Leidensfähigkeit manches Kunstfreundes aufs Äußerste strapaziert. Die Besucher waren spiralförmig um den strengen Baukörper des Mies van der Rohe aufgereiht und arbeiteten sich tippelnd zum Kopf der Schlange vor, wobei jeder, der mit einer magischen Karte sofort im Nebeneingang Einlass fand, von hundert Augenpaaren ermordet wurde.
Ein solcher Andrang war bei der Ausstellung im Gropius-Bau nicht zu erwarten. Der 1881 errichtete Bau, von Martin Gropius im Stil der Renaissance entworfen, bot dem großen Genie eben dieser Epoche ein würdiges Ambiente, hätte aber die MOMA-Schlange nicht verkraftet. Der Weg von der Schwanzspitze bis zum Kopf der Leonardo-Schlange kostete aber auch sofort nach der Freigabe für das gemeine Fußvolk satte drei Stunden, weil die Anzahl der Besucher in der schwarzen Box nicht über 80 Personen hinaus gehen sollte. Nach einer Woche pendelte sich die Wartezeit auf etwa zwei Stunden ein und blieb auch nach der dritten Woche auf diesem Stand. Während der Öffnungszeiten waren also ständig ca. 80 Besucher, 2 Aufsichtspersonen, 48 Vitrinen mit insgesamt 72 Zeichnungen und eine Überwachungskamera im Raum.
Alfons Wisgalle hatte die Kurve gerade noch gekriegt. Nach der Wende waren die Zeiten hart für ehemalige Volkspolizisten. Der dunkelblaue Anzug mit hellblauem Hemd und die passende Krawatte dazu machten aus ihm wohl eine ansehnliche Person, verschafften aber bei Weitem nicht so viel Respekt wie die alte schmucklose grüngraue Uniform. Die Lücke wusste er aber noch mit dem in langen Dienstjahren erprobten sprachlichen Duktus zu füllen. Gerade hatte er die Kurzstrecke von 18 Metern und die lange von 36 Metern zweimal durchschritten – weil Dr. Hagenau einige VIPs durch die Ausstellung führte und es dann nicht gut aussah, wenn man nur auf seinem Stuhl saß – als er auf eben diesem Stuhl den vergessenen Ausstellungskatalog entdeckte. 28 Euro – einfach liegen gelassen.
„Ick hab nich jesehn, wer den Katalog uff den Stuhl jelegt hat. Uff de leeren Ecken im Raum achtet man ja auch nich so. Da is ja nüscht außer de beeden Stühle. Uff de Vitrinen solln wir ja achten – ha ick ja ooch. Ick hab den Katalog erst enfach liejen lassen. Der Besitzer hätte ihn dort ja abholen können. Bei Schichtwechsel wollte ick ihn an der Kasse abjeben – und dann finde ick de Zeechnung mit de Schulter drin. Ick hab vielleecht nen Schreck jekricht, bin dann sofort zu de Vitrine jeloofen, wo se hinjehört. Die Zeechnung war Jott sei Dank noch in de Vitrine. Ick hab die aussem Katalog uff de Vitrine jelegt, aber bee dem Licht sahen beede völlig jleich aus.“
Frau Dr. Schiefmann-Wüllner stand am Fenster ihres Büros und hielt die Kopie ans Tageslicht, um sie besser in Augenschein nehmen zu können. Ihr Schweigen zeugte von der Konzentration der Betrachtung. Nach einer Weile wandte sie sich dem stolzen Finder zu.
„Vielen Dank, Herr Wisgalle. Sie können jetzt Feierabend machen. Es ist ja nichts passiert – ganz im Gegenteil: dank Ihnen haben wir ja jetzt eine Zeichnung mehr.“
Wortlos reichte sie das Blatt an Hagenau zurück und schaute ohne festes Ziel aus dem Fenster. Aus Hagenaus Büro konnte man die benachbarte Außendokumentation über das Machtzentrum der NS-Diktatur „Topographie des Terrors“ sehen. Auch die darauf folgende Epoche hatte hier ihre Zeichen gesetzt. Die Mauer hatte so dicht vor dem Gropius-Bau gestanden, dass man den eigentlichen Haupteingang nicht mehr benutzen konnte. Hier war aber schon eine von den wenigen Stellen, wo man Mauerreste noch genau erkennen konnte.
Hagenau betrachtete das Blatt versonnen, wobei ihm zwei Ereignisse in Erinnerung kamen.
„So etwas gab es schon mal – nicht genau so, aber durchaus vergleichbar. Im Jahr 2000 wurde der `Strand in Pourville` von Monet in einer Ausstellung in Posen durch eine Kopie ersetzt und im Contemporary Art Museum Caracas hat man erst nach Jahren festgestellt, dass am Platz der `Odaliske in roter Hose` von Matisse eine Kopie hing. Aber dabei diente der Austausch natürlich der Entwendung des Originals – unseres ist jedoch noch sicher in seiner Vitrine“
Er reichte die Zeichnung „Die Muskeln des rechten Arms, der Schulter und der Brust“ weiter an seinen Assistenten Stratenkötter. Auch der betrachtete sehr konzentriert jedes Detail der Zeichnung, fühlte mit dem Zeigefinger die Oberflächenstruktur des Blattes und unter Zuhilfenahme des Daumens auch die Stärke des Papiers.
„Es ist eindeutig kein Faksimile. Es ist wirklich eine Handzeichnung und nach meinem Dafürhalten eine verdammt gute Kopie. Das Papier ist zwar ziemlich ähnlich was die Farbe und Struktur anbelangt, aber auf den ersten Blick schon zu neu. Der Kopierer wollte anscheinend nur kopieren und nicht fälschen – sonst hätte er ja versuchen müssen, das Papier künstlich zu altern. Aber warum zum Teufel macht sich einer die Mühe, eine so gute Kopie herzustellen und sie samt Katalog achtlos liegen zu lassen?“
Hagenau antwortete seinem jungen Kollegen:
„Weil er wollte, dass sie gefunden wird!“
Die Chefin war etwas verblüfft.
„Was hat er davon, wenn niemand von seinem Talent erfährt?“
„Das wissen wir ja noch nicht. Vielleicht meldet sich in den nächsten Tagen irgendein verkrachtes, von der Welt zu unrecht mit Nichtbeachtung bestraftes Genie und bringt uns einen Pressewirbel ins Haus, nur damit er mal in die Zeitung kommt.“
„Könnte durchaus so sein. Wie auch immer: wir legen die Kopie meinetwegen in den Tresor – steckt ja immerhin eine Menge Arbeit drin, die hätte ja auch ihren Preis. Wenn Ihre Theorie nicht stimmt, kommt vielleicht einer und will sie einfach nur wieder haben.“
Bevor die erste Dame des Hauses sein eher bescheidenes Büro mitsamt der Kopie verließ, schob Hagenau noch eine blitzschnelle Idee nach.
„Vielleicht sollten wir das doch in die Presse lancieren. Solche Nachrichten im redaktionellen Teil sind kostenfreie Reklame. So könnten wir unsere Besucherzahlen noch etwas nach oben treiben.“
„Das lassen wir mal! Wir sind hier nicht auf dem Jahrmarkt!“
Abgeblitzt! Hagenau biss sich auf die Lippe, während die Chefin den Raum verließ.
Hagenau und Stratenkötter waren ein gutes Team gewesen in der Vorbereitung der Ausstellung. Sie waren gemeinsam nach Los Angeles, London und Paris gereist, wobei der junge Doktorand mal daran schnuppern durfte, wie es ist, wenn man auf diesem Level Ausstellungen plant. Der Kontakt war immer freundlich, wenn auch nicht herzlich, dafür waren sie von Herkunft und Charakter einfach zu verschieden. Wo die von Anfang an bescheidenen Verhältnisse den Jüngeren zu Mühe, zu Zähigkeit und – was noch viel schlimmer war – zu Disziplin und Sparsamkeit zwangen, konnte der Ältere mit seiner anscheinend angeborenen Souveränität fast jede Situation meistern. So einer kommt zweisprachig auf die Welt, spielt vor der Einschulung schon Klavier und weiß, wie man Dienstboten bei guter Laune hält.
Im Hause galt Dr. Thomas Hagenau nicht nur als exzellenter Fachmann der Renaissance im Allgemeinen, sondern für Leonardo da Vinci im Besonderen. Dabei kamen ihm seine Sprachkenntnisse des Italienischen sehr zugute. Englisch beherrschte er ebenso perfekt. Man wusste auch, dass er aus einer steinreichen Hamburger Kaufmannsdynastie stammte. Sein Lebensstil machte allen deutlich, dass er seinen Beruf wirklich lieben musste, denn um des Geldes wegen hätte er ihn wahrlich nicht ausüben müssen. Mittelgroß, etwas zuviel Hüftgold um die Taille, mittelblond mit Geheimratsecken, die langsam mit dem Kahlschlag um den Wirbel eine gemeinsame Freifläche bildeten. Zum Ausgleich trug er einen gepflegten Drei-Tage-Bart. Mit seinen 48 Jahren führte er das Leben eines gebildeten Bonvivants, der sich einerseits leidenschaftlich seinem Interessensgebiet widmete, andererseits aber auch das Leben zu genießen wusste. Dazu gehörten die besten italienischen Restaurants von Berlin, edle Weine wie Brunello di Montalcino, Barolo und noch ein paar andere, sein schokoladenbrauner Oldtimer Jaguar MK II in einem Zustand eine Nummer besser als fabrikneu, ein Penthouse am Spreebogen sowie diverse Immobilien an verschiedenen Standorten. Er war Junggeselle, was die einen seinem langweiligen Äußeren zuschrieben, die anderen als Parallele zu seinem verehrten Genie Leonardo betrachteten. Da Geld das erste Problem leicht gelöst hätte, war die zweite Vermutung wahrscheinlicher. Um in der Freiheit, dieses Leben auch so zu genießen, nicht zu sehr beschränkt zu sein, war er auch nicht fest angestellt oder gar verbeamtet. Er stand dem Haus als freier Mitarbeiter immer dann zur Verfügung, wenn der Schwerpunkt in seinem Interessensgebiet lag. Bei Leonardo kam man einfach nicht an ihm vorbei.
Gerrit Stratenkötter war nahezu in jeder Hinsicht das Gegenteil von Hagenau, wobei der Altersunterschied von exakt zwanzig Jahren und sein Potential zum Schwiegersohn des Jahres nur die deutlichsten äußeren Anzeichen waren. Er sah etwa so aus wie die jungen Assistenzärzte in den Krankenhaus-Sagas. Um ein Haar, sprich um ein paar Zehntel im Numerus Clausus, wäre er das auch geworden. Ein teures Studium im Ausland als Umgehungsstraße, was sein Nebensitzer mit etwa gleichem Abiturschnitt in Budapest absolvieren konnte, hätte die finanziellen Möglichkeiten seiner Familie gesprengt. Groß, schlank, breitschultrig, dunkelhaarig, aber arm – immerhin ein Geschenk an die Frauen. Eine blonde Fee hatte diese Gabe aber recht schnell und eigennützig vom Markt genommen. Das Ergebnis war eine kleine Zuckerpuppe von jetzt zwei Jahren. Mit der Kunstgeschichte konnte er jedoch auch ganz gut leben, wenn er nur davon hätte leben können. Auch das zweite Gehalt seiner Frau konnte manchen Engpass nicht schließen. Er konnte sich bescheiden, solange er für sein Hobby noch immer genug zusammenkratzen konnte. Die Surfbretter und die Ausrüstung waren ja nicht mal das Teuerste, aber wenn man mal nicht mehr Wannsee, sondern Meeresbrandung unter der Finne haben wollte, riss das eben immer gleich ein Riesenloch. Nach dem letzten Surf-Urlaub in El Medano auf Teneriffa, wo er natürlich auch Kite-Surfen lernen und einen Kite-Schirm kaufen musste, war die Farbe des Haushaltloches einen Ton tiefer als schwarz. Er hoffte auf bessere Aussichten für eine einigermaßen gut bezahlte Festanstellung, wenn er erst seine Doktorarbeit über das Werk von Leo Strehlerck erfolgreich zum Abschluss gebracht hätte.