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I. Die Anlieferung

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Die beiden zerlumpten Gestalten schoben ihren Karren mit den zwei großen Scheibenrädern nur mit Mühe und deshalb langsam, obwohl es ihnen sehr viel lieber gewesen wäre, wenn Sie diesen heiklen Auftrag möglichst schnell hätten erledigen können, aber der schwere Wagen und das grobe Pflaster hatten sich gegen sie verschworen - und alle Teilnehmer am dichten Gedränge in den Straßen und Gassen Roms auch. Das Fortkommen war in mehrfacher Hinsicht atemberaubend. Zum einen ließ der schwere Karren mit seiner Last die Männer keuchen – zumal es bisweilen auch noch bergauf ging – zum anderen durchzog ein bestialischer Gestank die engen Gassen. Was die Nachttöpfe hergegeben hatten, verband sich mit dem alltäglich anfallenden Unrat zu einem schlüpfrigen Straßenbelag, auf dem ein Transport mit einem solchen Gefährt echte Knochenarbeit war – was bei dieser Fuhre auch noch in anderer Hinsicht zutraf. Der Gestank wurde nur noch vom Lärm übertroffen, den schreiende Händler, zänkische Weiber, tollende Kinder, stimmgewaltige Gaukler und sabbernde Bettler zu einem lautstarken Gemeinschaftswerk zusammenfügten. Später sollte man diese Zeit als den Beginn der Neuzeit bezeichnen, als Ende des Mittelalters. Aber auf einer römischen Gasse im Jahre des Herrn 1515 lag die neue Zeit noch gut verborgen unter den festgetretenen Hinterlassenschaften von Mensch und Tier.

Es war den beiden Fuhrleuten jedoch genau so aufgetragen worden, nämlich die Ware bei Tage und dem geschäftigsten Treiben anzuliefern. Bei Dunkelheit hätten sich aus vielen Fenstern Dutzende von Augenpaaren in die mit Holzscheiten kaum verdeckte Tuchrolle gebohrt. Neugier und Misstrauen hätten schnell einen Skandal zusammengebraut, den ihr Auftraggeber unter allen Umständen vermeiden wollte.

Der Karren mit den zwei Lumpenmännern erreichte nun eines der besseren Quartiere der Stadt, Bürgerhäuser, kleinere Palazzi und auch schon mal ein etwas größerer – die keimende Kulturschicht auf dem Pflaster war hier schon erheblich dünner und der Mief der Stadt vermischte sich mit dem zarten Duft von Lavendel und Zitronen. Die Anwesen hier schlossen mit ihren Fassaden unmittelbar zur Gasse ab. Meistens hatte die Außenmauer ein Gesicht: ein Maul und zwei kleine Augen, durch die man im Bedarfsfall alles Treiben in der Gasse beobachten konnte, aber natürlich der Umkehr der Beobachtung einiges entgegen setzte. Das angegebene Ziel stand nun endlich vor ihnen in Gestalt einer großen hölzernen Pforte, breit genug, um einen sperrigen Karren samt zweier Begleiter zu verschlucken. Die Männer gönnten sich kaum eine kurze Verschnaufpause. Der Ring im Löwenmaul schlug drei Mal auf harte Pinie. Es hätte kaum bis zum fünften Klopfzeichen gereicht, als die Pforte schon von einem stattlichen Mittdreißiger aufgetan wurde. Ohne ein Wort wurde der Karren durch die Pforte in den Innenhof geschoben. Der noch jugendlich wirkende Mann mit dichtem Lockenkopf heuchelte eine bescheidene Mithilfe, indem er vorsichtig zwei Finger an das bekleckerte Rad legte. Nach Durchfahrt des Karrens warf er schnell noch einen sichernden Blick in die Gasse und schloss sodann unverzüglich die Pforte.

Salai wandte sich an die ältere der beiden Lumpengestalten.

„Hat Euch jemand beobachtet oder gar angesprochen?“

„Je mehr uns sehen, umso weniger werden wir beobachtet.“

„Sehr gut – wartet einen Moment! Ich sage dem Meister Bescheid.“

Salai überquerte hurtig den Innenhof und verschwand im Haus. Fast gleichzeitig schoben die Männer ihre dreckigen Kopflappen zurück und nutzten die Pause für ein paar ruhige Atemzüge, die dem Jüngeren genug Luft für eine Frage gaben.

„Was macht er eigentlich damit?“

„Er schneidet sie auf.“

Der Leibhaftige machte in Sekundenbruchteilen aus einem zwar schmutzigen, aber doch halbwegs ebenmäßigen Gesicht eine Maske des puren Schreckens. Der Maskenträger bekreuzigte sich ebenso schnell wie heftig, zur Sicherheit gleich noch mal, wobei er gleichzeitig den Dreck, den die jetzt Kreuz schlagende Hand gerade noch am Rad des Karrens gefunden hatte, als übel riechende Stigmata auf seinem Leib und seiner Stirn gerecht verteilte.

„Die heilige Mutter Gottes stehe uns bei! Das ist eine Todsünde – glaube ich. Wir werden in der Hölle schmoren, weil wir…“

„Halt den Mund!“ zischte es aus einem ebensolchen, allerdings beinahe zahnlosen.

Der Alte ergriff den Höllenkandidaten am Arm und, obwohl keine Menschenseele im Innenhof hätte Zeuge werden können, flüsterte er ihm drohend ins Ohr, das er an der richtigen Stelle unter den struppigen Haaren vermutete.

„Du wirst über diese Sache Dein verdammtes Maul halten! Kein Sterbenswörtchen zu irgendeinem! Sei froh, dass Du ein paar Geldstücke dazu verdienen kannst. Um Dein Seelenheil brauchst Du Dir keine Sorgen zu machen. Der Kerl auf dem Karren war ein übler Schweinehund, der vollkommen zu Recht aufgeknüpft wurde, dessen lausige Knochen weiß Gott nicht in geweihte Erde gehören und dessen Seele schnurstracks zum Satan gefahren ist. Unser Auftraggeber hat so etwas nicht zum ersten Mal gemacht. In Florenz soll er das sogar im Krankenhaus mit Billigung der Obrigkeit gemacht haben – und auch in Mailand. Hier in Rom sieht die Sache zwar jetzt etwas anders aus – aber wenn die Mailänder und die Florentiner dafür nicht zur Hölle fahren müssen, kann es ja wohl für Römer auch nicht so schlimm kommen. Notfalls sprich ein paar Ave Maria vor dem Altar unserer allerheiligsten Jungfrau in der Kirche Santa Ma…..“

Er ließ den Arm sinken, weil Salai in Begleitung eines jungen Mannes von etwa 25 Jahren den Innenhof betreten hatte.

„Bringt ihn dort in das Studio des Meisters! Die Holzscheite könnt Ihr hier unter dem Abdach zu den anderen stapeln!“

Dabei wies Salai auf eine Tür im Seitenhaus und anschließend auf einen Holzstoß. Die Männer räumten zunächst die Holzscheite über den mottenzerfressenen und verdreckten Lumpen beiseite. Zu viert umfassten sie die freigelegte Rolle, hoben zeitgleich an und bewegten sich mit ihrer Last auf die angewiesene Türe zu – auf der einen Seite zwei zerlumpte Totengräber, auf der anderen zwei junge Edelmänner.

Der Mann, der dem ungleichen Vierergespann die Tür von innen öffnete, war hoch gewachsen, einfach, aber elegant gekleidet. Sein scharf geschnittenes Gesicht war umrahmt von fast weißem Haupthaar und einem ebensolchen Bart. Die wallende Haar-und Barttracht unterschied ihn deutlich von den modisch beschnittenen Köpfen seiner Zeit. Sein Erscheinen im Türrahmen veranlasste die beiden Lieferanten zur sofortigen Einnahme einer geduckten Körperhaltung. Mit einer kaum merklichen Geste deutete er auf einen Tisch in der Mitte des Raumes. Die Träger wuchteten die Rolle wie geheißen auf den Tisch. Salai steckte dem alten Lumpenkerl einen Beutel zu, nicht ohne durch ein leises Schütteln seinen Inhalt zu verraten. Dies verstanden die beiden Männer als Aufforderung, sich unverzüglich zu entfernen, aber auch Holzscheite ungestapelt zu lassen und samt ihrem Karren schnellstens das Weite zu suchen.

Leonardo schickte nun auch Salai und Francesco hinaus, um Zwiesprache mit dem Inhalt des Lumpenwickels und sich selbst zu halten. Er war zu diesem Zeitpunkt 63 Jahre alt. Sein unstetes Leben hatte ihn von seinem Heimatort Vinci nach Florenz, dann nach Mailand und von da wieder nach Florenz geführt – und das waren nur die wesentlichen Stationen mit langen Arbeitsaufenthalten gewesen – und schließlich war er mit großen Erwartungen 1513 nach Rom gekommen. Von seinem ersten Aufenthalt 1501 her kannte er die Stadt, die sich trotz der prosperierenden Städte in Norditalien und im restlichen Europa immer noch als Zentrum der bekannten Welt verstand. Seit zwei Jahren war er nun schon Gast des Giuliano de Medici, dem jüngeren Bruder des neuen Papstes Leo X., im Belvedere des Vatikans. Die erhofften Aufträge waren jedoch an die ungeliebten Konkurrenten gegangen. Obendrein hatte Leo X. ihm auch noch den Zutritt zum Hospital Santo Spirito nahe dem Vatikan zwecks weiterer anatomischer Untersuchungen verwehrt.

Ein aus seiner Sicht junger Mann – Leo X. zählte noch keine 40 Jahre – hatte ihm die Sektion des menschlichen Körpers verboten. Dabei hatte er doch zuvor in Mailand zusammen mit dem Arzt Marcantonio della Torre wohl schon an die dreißig Leichname für seine anatomischen Studien untersucht! Was sollte er von diesem Medici auch anderes erwarten als von den anderen verschlagenen Schurken seines Geschlechts? Er hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass dieses Verbot die ignorante Demonstration purer Macht war. Hatte doch schon Lorenzo der Prächtige mit einer Dreistigkeit sondergleichen ein Beispiel für aberwitzigen Nepotismus gegeben, indem er seinem Zweitgeborenen Giovanni im zarten Alter von 14 Jahren die Kardinalswürde zugeschachert hatte. Diese Ernennung durch Papst Innozenz VIII. war die Gegenleistung für die Vermählung der ältesten Medici-Tochter Maddalena mit Innozenzens Sohn Francechetto. Mit 37 Jahren bereits war Giovanni dann wundersam zum Papst gewählt worden, musste aber nachträglich erst noch zum Priester und zwei Tage später zum Bischof geweiht werden, um der „Wahl“ nur ja den Anschein einer gottgefälligen Ordnung zu geben. Wen sollte es da noch wundern, dass die Christenheit an ihrer obersten Autorität zweifelte? Es war eigentlich nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die Wut ihren Weg bahnen würde.

Tatsächlich umgab sich Leo wie beinahe alle Renaissance-Päpste mit herrschaftlichem Prunk und exotischem Luxus – so hielt er sich in seinem Privatzoo sogar einen Elefanten namens Hanno. Mit dem Ablasshandel sollte das Finanzproblem gelöst werden, denn der Bau des neuen Petersdoms sowie die Beschaffung der Kostbarkeiten für die päpstlichen Schatzkammern und privaten Gemächer und nicht zuletzt der Unterhalt der eigenen Truppen verschlangen gigantische Summen.

Zwar erteilte Leo X. reichlich Aufträge für großartige Kunstwerke, aber ausschließlich zur Darstellung der Macht und Herrlichkeit des Vatikans. Michelangelo und Raffael wussten wohl das prunkvolle Dekor zu liefern. Aber er, der in Florenz und Mailand so hoch geschätzte Leonardo da Vinci, kam dabei kaum zum Zuge, weil ihm das Verständnis der Schöpfung wichtiger war als ihre Verherrlichung.

Für Leonardo war es offensichtlich, dass dieser Papst immer noch nicht begriffen hatte, wie wichtig die Anatomie für das Wohl der Menschen war. Nur wegen dessen Uneinsichtigkeit war er jetzt auf die Geldgier dieser verschlagenen Totengräber angewiesen, um einen Leichnam für seine Studien auf den Seziertisch zu bekommen, den nun wirklich niemand mehr haben wollte und den zu bestatten sogar die Obrigkeit eigentlich zu geizig war. Durch dieses ebenso willkürliche wie ärgerliche Verbot sah sich Leonardo daran gehindert, noch mehr der unendlich vielen Geheimnisse der wahren Schöpfungskrone zu entdecken und sein vor vielen Jahren schon begonnenes Werk zu vervollständigen. Nun wollte er sich aber auch durch das päpstliche Dekret nicht mehr länger daran hindern lassen.

Unter den gegebenen Umständen war es natürlich ausgeschlossen, die Sektionen im Belvedere vorzunehmen. Dass Leonardo in diesem eher bescheidenen Raum mit dem schweren Tisch in der Mitte ein halbwegs geeignetes Ausweichquartier gefunden hatte, war nur der Tatsache zu verdanken, dass er auch außerhalb des Vatikans gute Kontakte unterhielt. Doch missfiel ihm diese Heimlichkeit und noch mehr verletzte ihn die Erniedrigung, die damit einher ging.

Die Abhängigkeit vom Wohl und Wehe, den Launen und Sympathien durchweg skrupelloser Machtmenschen war das Los der Künstler seiner Zeit – und aller anderen Menschen natürlich auch. Da, wo diese Geschichte enden wird, führte gerade ein besonders übles Exemplar dieser Gattung namens Heinrich VIII. sein blutiges Regiment. Mit diesem sollte der nächste Papst aus dem Hause Medici eine Menge Ärger bekommen. Guilio de Medici folgte als Clemens VII. seinem Cousin Leo X. auf den Thron – nach dem kurzen Intermezzo des letzten deutschen Papstes Hadrian VI. vor Benedikt XVI.

Leonardo öffnete die Rolle und betrachtete den Körper, dessen Besitzer am frühen Morgen den Preis für einen ebenso dummen wie hinterhältigen Raubmord hatte bezahlen müssen. Was für ein Gesicht! Es war noch immer blau vom Strang, der auch die mäandernden Würgemale am Hals hinterlassen hatte. Die Ausmaße des Unterkiefers standen in geradezu lächerlichem Verhältnis zu den wenigen Zahnresten, die noch die Kauleiste zierten. Die Nase mit scharfem Abknick gewaltig. Der Kerl sah noch im Tode brutal aus.

Solche Gesichter hatte Leonardo früher oft skizziert. Heute war er mehr an den unteren Extremitäten, insbesondere am Knochenbau des Fußes interessiert. Er legte die Papiere zurecht, die Federn und die Tusche, band sich ein mit Wohlgerüchen getränktes Tuch vor Mund und Nase. Dann nahm er endlich das Messer in die Linke. Es kostete ihn immer noch eine ganze Menge Überwindung, in die Haut zu schneiden, um so Muskeln, Knochen und Sehnen frei zu legen. Der erste Schnitt war immer der schlimmste. Er musste sich beeilen und seine Zeichnungen fertig haben, bevor Lavendel-und Zitronenduft zu schwach sein würden.

Der rote Punkt

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