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5. Die zweite Kopie

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Beim zweiten Mal lag der Katalog zwischen den Flachbildschirmen. Vor der Außenwand der Black Box war über die ganze Länge ein Board angebracht, auf dem die zwölf Bildschirme standen, über die man sich jede erdenkliche Information über Leonardo und seine Zeit einholen konnte. Hier saßen manchmal Leute stundenlang, um sich durch die Themen zu klicken. Viele verglichen die Angaben im Katalog mit den viel umfangreicheren im Rechner und machten sich Notizen.

Irgendwann wollte eine nichts ahnende Studentin ihre Ehrlichkeit unter Beweis stellen, indem sie das Aufsichtspersonal auf den offensichtlich herrenlosen Katalog aufmerksam machte. Der Kollege Wisgalle hatte seine Kollegen ja umgehend darüber informiert, welchen Anteil er an der wundersamen Kunstvermehrung gehabt hatte – und so ahnte man schon, was dies zu bedeuten hatte, und fand sogleich die Bestätigung in Gestalt der Zeichnung „Knochenbau des Rumpfes“.

Dieses Mal gab es eine Vollversammlung. Die Leiterin des Hauses saß sinnend über dem Blatt. Frau Dr. Marga Schiefmann-Wüllner wurde allgemein nur die „Fregatte“ genannt, was gar nicht böse gemeint war, sondern lediglich lautmalerisch beschrieb, wie sie mit ihrer beachtlichen Oberweite voran die Wellen des Kulturbetriebs durchpflügte. Ihre eigentlich glatten grauen Haare hielt sie in einem etwas zu jugendlich wirkenden Rotblond und schlug das Ganze zu einem Vogelnest über dem Kopf zusammen. Sie wusste sich wirklich zu kleiden – durchaus auch mit extravaganten Kleidungsstücken, die aber immer zu ihr passten und niemals jenseits jener feinen Linie waren. Kurzum eine elegante Erscheinung, die genau wusste, was sie wollte. Ergänzend ist noch zu sagen, dass sie mit dem ehemaligen stellvertretenden Direktor der Berliner Landesbank verheiratet war – dessen Nomen auch zum Omen geworden war verbunden mit einem glanzlosen Übergang vom Arbeitsleben zum Pensionärsstatus – und einen Sohn großgezogen hatte, der in Oslo als Anästhesist arbeitete.

Neben ihr saß der gute Geist des Hauses, ihr Stellvertreter Dr. Egbert Schauerte. Ein kleiner Mann mit listigen Äuglein hinter runden Brillengläsern und vielen Lachfalten drum herum. Der Haarkranz und der Schnäuz waren zartgrau. Etwas weiter unten saß meistens eine Fliege, mit voller Absicht in scheußlichen Farbkombinationen. Mit seiner netten und freundlichen Art war er im ganzen Haus beliebt. Von der Putzfrau bis zu seiner Chefin – die weiß Gott nicht immer einfach war – hatte er für alle immer ein freundliches Wort. Vielleicht hatte er sich sein angenehmes Wesen bewahren können, weil ihm immer schon der letzte Ehrgeiz gefehlt hatte. Er hatte sich in der Stellvertreterposition bequem eingerichtet und überhaupt kein Problem damit gehabt, dass man ihm vor Jahren eine Frau vor die Nase gesetzt hatte, was vielen Männern seiner Generation haufenweise Magengeschwüre eingebracht hat. Allen anderen Mitarbeitern war damals aber klar, dass bei der Besetzung der Direktorenstelle nicht fachliche Kompetenz entschieden hatte, sondern Vitamin B. Ohne Ausnahme bedauerten alle Mitarbeiter des Hauses, dass er schon im letzten Jahr seines Berufslebens stand und das Haus in absehbarer Zeit verlassen würde. Bisweilen wurde er von einigen auch „Pelé“ genannt, was er einer Leidenschaft verdankte, die unter promovierten Kunsthistoriken etwa so häufig vorkommt wie eine Blaue Mauritius im Postamt. Wenn es um Fußball ging, gab es kein Halten mehr. Sollte sich jemand leichtsinniger Weise als Anhänger von Bayern München outen, war damit die Freundschaft beendet. Schauerte stammte aus dem Rheinland – deshalb war nicht etwa die Hertha sein Verein, sondern die Borussia, die andere aus Mönchen-Gladbach. Was nur wenige im Hause wussten: seine Tochter als sein einziges Kind war an Leukämie gestorben bevor ihr erster Jugendfreund sie zum ersten Mal hatte küssen können.

Hagenau und Stratenkötter stellten die jüngere Fraktion des Plenums. Auf allen Gesichtern war Ratlosigkeit abzulesen. Die Fregatte reichte die Zeichnung an Schauerte weiter.

„Ja – meine Herren! Was fällt Ihnen zu der Sache ein? Ich kann mir beim besten Willen keinen Reim darauf machen. Kopiert jetzt hier jemand so nach und nach die ganze Ausstellung? Auf alle Fälle werde ich das Gefühl nicht los, dass es mit dem zweiten Blatt nicht sein Bewenden haben wird. Da kommt was nach!“

Schauerte ergänzte.

„Ich denke, es wird in die Richtung gehen, die Kollege Hagenau bei der ersten Kopie schon angedeutet hat. Da draußen ist einer, der ein unglaubliches Talent zum Kopieren hat, aber keinen Ehrgeiz, zu fälschen und damit Geld zu verdienen – das ist so, als wenn jemand vor dem freien Tor steht und wartet, bis der Torwart von der Toilette zurückkommt. Da steckt irgendein sportlicher Ehrgeiz dahinter. Der muss ein begnadete Zeichner sein und vermutlich so mediengeil, dass er so einen Medienrummel provozieren und auch aushalten kann. Meistens schließt das eine das andere aus. So viele sind es nicht, die dafür in Frage kommen, aber ein paar Gesichter habe ich schon vor Augen, die hier in Berlin für eine solche Nummer gut genug sind. Sie werden sehen, dass einer wie Bender oder Gorsky in Bälde aktiv wird.“

Der Torwartvergleich kam nicht bei allen Teilnehmern der Runde gleich gut an, aber jeder grub in seinem Gedächtnis nach Namen und Gesichtern. Weil sie da nicht fündig wurde, wollte sich die Direktorin helfen lassen.

„Wer käme denn noch in Frage? Dr. Hagenau – Sie sind unser Experte.“

„Ich kenne mich leidlich in der Renaissance aus. Mit der aktuellen Berliner Szene bin ich nicht so vertraut. Aber wenn Sie mich schon so fragen: Ich würde auf alle Fälle den Meisner noch dazu zählen und vielleicht noch Brigitte Tappelt. Kann ja auch eine Frau sein.“

„Müsste der Kopierer nicht auch Linkshänder sein – wegen dem Strich?“, bemerkte Stratenkötter.

„So weit ich weiß, ist Meisner Linkshänder. Aber ich denke, wenn jemand überhaupt so perfekt kopieren kann, dann kann er auch als Rechtshänder den Aufstrich eines Linkshänders nachmachen. Meisner und Bender waren bei der Ausstellungseröffnung anwesend. Wir könnten uns die Video-Bänder der Überwachungskamera ansehen, ob von unseren Kandidaten welche dabei sind. Beim Ablegen der Kataloge konnte die Kamera ja niemanden erfassen, weil der Stuhl innerhalb des Ausstellungsraums im toten Winkel der Kamera steht und an der Außenwand gar keine Kamera ist.“

„Dr. Hagenau – ich bitte Sie! Ich denke, dass wir uns stundenlanges Betrachten langweiliger SchwarzWeiß-Filme erst einmal ersparen sollten, solange ja eigentlich kein Schaden vorliegt. Vielleicht geht ja unsere Phantasie mit uns durch? Zurzeit hat uns jemand zwei wunderschöne Kopien liegen lassen – und das ist ja noch kein Verbrechen. Trotzdem: ermahnen Sie bitte das Aufsichtspersonal zu erhöhter Wachsamkeit!“

Ihre Beurteilung der Lage hatte noch eine zweite Bedeutung, nämlich ihre Richtlinienkompetenz unter Beweis zu stellen. Weil Hagenau ein untauglicher Weisungsempfänger war, setzte er gänzlich unbeeindruckt seinen Gedankengang fort.

„Wenn wir alle dessen sicher sind, dass irgendetwas im Busch ist, sollten wir auch nicht einfach zuwarten. Ich habe da eine Idee. Der Kohoutek von der ars longa hat ja mehrfach mit Herrn Stratenkötter und mir über die Ausstellung gesprochen. Der ist darüber bestens informiert – jedenfalls war sein Artikel ganz ordentlich. Außerdem kennt er die Szene besser als wir alle zusammen. Wenn der sich bei unseren Kandidaten meldet und denen was von einer Portrait-Serie `Künstler in Berlin` erzählt, kommt der in jedes Atelier. Bei der Gelegenheit könnte er dann den Leuten mal sehr vorsichtig auf den Zahn fühlen.“

Der Vorschlag provozierte eine missbilligende Mine der Direktorin.

„Aber dann haben wir doch die Presse am Hals! Sie wissen doch, dass mir das nicht gefällt!“

„Die haben wir sowieso schon am Hals, weil man unserem Personal keinen Maulkorb verpassen kann. Irgendwann schnappt jemand etwas auf und dann ist die Sache gar nicht mehr zu kontrollieren. Die Pandorabüchse ist offen.“

Dabei machte Hagenau eine Geste als würde er seiner Chefin eine dampfende Suppenschüssel mit geöffnetem Deckel präsentieren. Die angebotene Mahlzeit wurde angenommen.

„Na – gut! Meinetwegen. Wie wollen Sie Ihren Kontaktmann dazu bewegen, diese Interviews zu führen?“

Die spontan wirkende Geste mit der Suppenschüssel war wohl schon Teil eines konkreten Plans.

„Ich lade ihn zum Essen bei meinem Lieblingsitaliener ein und erteile ihm einfach einen Auftrag.“

„Nur wenn dem Haus dadurch keine Kosten entstehen!“

„Machen Sie sich darüber keine Gedanken! Das ist mir der Spaß allemal wert.“

Die anderen drei Personen im Raum nickten verständig und erkannten, wie klein und nichtig manches Hindernis erscheint, wenn man genügend Kleingeld hat. Und alle streifte sogleich der Gedanke, dass man die Freiheit einfach auch öfter haben möchte zu sagen: Ja – das gönne ich mir jetzt mal. Der Neid aber wurde hinter drei artigen Gesichtern erfolgreich versteckt.

Der rote Punkt

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