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IV. Der Weg der Anna Selbdritt

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Francesco Melzi hatte sich auf einen längeren Aufenthalt, wenn nicht sogar Verbleib auf Dauer in Frankreich eingestellt. Nun befand er sich gerade mal drei Jahre nach dem damaligen Zug nordwärts im Gefolge des Königs von Frankreich wieder auf diesem Weg, allerdings in umgekehrter Richtung. Da die Reise etliche Tage in Anspruch nahm, hatte er viel Zeit, über die Ereignisse der letzten drei Jahre nachzudenken.

Franz I. hatte sein königliches Wort gehalten. Das Schloss Clos Lucé bei Amboise war Leonardo auf Lebenszeit samt allem lebenden und toten Inventar zur freien Verfügung gestellt worden zusammen mit einer großzügigen Pension. Leonardo hatte sich hier allerdings kaum noch selbst mit der Malerei beschäftigt – dafür war ja dann er, der Schüler Francesco, zuständig gewesen. Die fortschreitende Lähmung des rechten Arms war für den Linkshänder Leonardo sicher nicht der entscheidende Hinderungsgrund, hatte aber dennoch seine Arbeit stark beeinträchtigt. Seine zeichnerische Tätigkeit sowie die schriftlichen Aufzeichnungen – wie immer in Spiegelschrift – hatte sein geliebter Meister aber auch in dieser Zeit weiter geführt, nur unterbrochen von gelegentlichen Aufträgen einiger Ingenieurprojekte oder besonderen Aufgaben für den Königshof, allerdings ohne jemals dafür den Weg nach Paris zu machen.

Soweit Francesco es beurteilen konnte, hatte Leonardo allem Anschein nach ein sorgenfreies Leben in der Abgeschiedenheit von Clos Lucé geführt. Franz I. war mehrfach mit großem Gefolge nach Amboise gekommen und hatte die Gesellschaft seines berühmten Schützlings genossen, wobei er ihm auch immer von den großen politischen Verwerfungen in Europa berichtete. Diese Nachrichten wurden vom Meister stets an den Schüler weitergegeben. So hatte Franz I. auch davon berichtet, dass ein kleiner Mönch aus dem kalten Deutschland die heilige Kirche in ihren Grundfesten erschüttert und Papst Leo X. herausgefordert hatte. Bei diesem Bericht hatte Franz I. noch nicht ahnen können, dass er mit den protestantischen Glaubensbrüdern in Frankreich, den Hugenotten, sehr bald selbst in heftige Konflikte geraten würde.

Der Besuch im Mai 1519 war der letzte gewesen. Der König von Frankreich war gerade noch rechtzeitig gekommen, um ein letztes Mal auf dem Sterbebett die Nähe des bedeutendsten Mannes seiner Zeit zu spüren. Als Leonardo seinen letzten Atemzug getan hatte, war Franz in Tränen ausgebrochen. Leonardo war 67 Jahre alt geworden.

Leonardo hatte ihn, seinen treuen Assistenten Francesco Melzi, in seinem Testament vom 23. April 1518 nicht nur zum Testamentsvollstrecker bestimmt, sondern ihm auch alle seine Zeichnungen und Manuskripte vermacht, die nun mit ihrem Erben und weiteren Begleitern samt mehreren Maultieren und Zugwagen auf dem Weg zurück nach Italien waren. Da Franz I. die „Gioconda“ und den „Johannes“ kurz vor Leonardos Tod gekauft hatte, waren diese beiden Bilder in Frankreich geblieben. Von den seinerzeit mitgenommenen drei Lieblingsbildern Leonardos hatte Francesco Melzi jetzt nur noch die „Heilige Anna Selbdritt“ im seinem Gepäck. Gedankenschwer schaute er in das Wageninnere auf das eingewickelte Paket.

Francesco war sich ganz dessen bewusst, dass er durch die väterliche Freundschaft dieses großen Geistes etwas ganz Besonderes hatte erfahren dürfen. Sein Gemütszustand schwankte zwischen tiefer Melancholie über den Verlust und der Freude, seine Heimat wieder zu sehen. Schließlich hatte er ja noch das ihm von Leonardo aufgetragene Ehrenamt der Testamentsvollstreckung zu erfüllen. Leonardos Halbrüder sowie deren Erben waren auszuzahlen. Salai und Battista sollten je zur Hälfte jenen Weinberg Porta Vercallina bei Mailand erben, den Ludivico Sforza einst Leonardo geschenkt hatte. Salai lebte ja ohnehin dort, weil schon sein Vater zuvor den gesamten Weinberg gepachtet hatte.

Francesco wusste, dass ihm als Sohn einer vornehmen Mailänder Patrizierfamilie genügend Mittel zur Verfügung stehen würden, um sich ganz der Aufgabe widmen zu können, das Werk Leonardos zu ordnen und zu bewahren. Er hatte so vieles von seinem genialen Meister lernen können, dass er als Maler und Lieblingsschüler Leonardos in Italien reichlich Beachtung finden würde. Er hatte ja sogar, als des Meisters Arm lahm geworden war, unter seiner direkten Anleitung den Pinsel geführt und war dabei so gut geworden, dass man seine Bilder kaum von denen Leonardos unterscheiden konnte. Seine Perspektiven waren in jeder Hinsicht so vielversprechend, dass die Zuversicht schließlich die Oberhand über die Melancholie gewann.

Wo Francescos Gedanken aufhörten, schreibt die Geschichte die neuen . Francesco Melzi war zurzeit seiner Rückkehr nach Italien 28 Jahre alt. Es sollte ein langes Leben auf ihn warten, wobei er Salai um 46 Jahre überlebte, denn der sollte an seinem Erbe nicht mehr allzu lange Freude haben, weil er nur wenige Jahre später im Alter von 44 Jahren einem mysteriösen Büchsenschuss zum Opfer fiel.

Leonardo war nach seinem Wunsch im Kloster St. Florentin zu seiner letzten Ruhe gebettet worden. Ein böses Schicksal wollte es, dass ihm seine Konkurrenten aus römischen Tagen noch Jahrhunderte nach ihrer aller Tod eins auswischen konnten. Während der so jung gestorbene Raffael 1520 sein Grab auf Dauer im Pantheon zu Rom fand und Michelangelo nach einem langen Leben 1564 seines in Florenz in der Kirche Santa Croce, ging zu Beginn des 19. Jahrhunderts bei Restaurierungsarbeiten am Kloster St. Florentin und damit verbundenen Umbettungsmaßnahmen der Leichnam Leonardos verloren, so dass von da an niemand mehr sein Grab kannte. Wessen Gebeine sich unter der später gestifteten Grabplatte in St. Florentin befinden, ist unbekannt.

Über den Verbleib der „Anna Selbdritt“ von 1519 bis 1630 gibt es keine Kenntnis. Im Jahre 1630 befand sich das Bild im piemontesischen Örtchen Casale Monferrato, westlich von Mailand. Wie es von Vaprio d`Adda, dem Anwesen der Melzi östlich von Mailand, dorthin gelangte, ist nicht bekannt. Vermutlich ist das Bild im Zuge der Erbschaftsregelung in den Besitz der Halbbrüder Leonardos gekommen und diese verkauften es, um überhaupt eine gerechte Teilung zu ermöglichen. In Casale Monferrato entdeckte es Kardinal Richelieu und erwarb es, um es 1636 Ludwig XIII. zu überlassen. Seit 1810 befindet sich das Gemälde im Louvre.

Mit „Anna Selbdritt“ bezeichnet man in der christlichen Kunst eine Darstellung der heiligen Anna mit ihrer Tochter Maria und dem Jesusknaben. Diese Gruppierung wird auch „Heilige Sippe“ genannt oder auf Italienisch „Anna Metterza“. Die Servitenmönche der Kirche Santissima Annunziata zu Florenz hatten Leonardo den Auftrag für dieses Tafelbild gegeben. Neuere Forschungen sehen aber auch schon Franzens Vorgänger Ludwig XII. als Auftraggeber. Das Bild wird auf den Zeitraum zwischen 1506 – 1513 datiert. Diese Ungenauigkeit ist dadurch zu erklären, dass Leonardo immer wieder daran gearbeitet hat. Dennoch ist es niemals richtig fertig geworden, wie man am Mantel der Maria sehr gut sehen kann. Es wird vermutet, dass die beiden Frauenfiguren zunächst als Maria und Elisabeth angelegt waren, weil sich kaum ein Altersunterschied in den Gesichtern ablesen lässt. Bei Cousinen ist das nicht verwunderlich, bei Mutter und Tochter schon. Später ist das Werk dann doch wieder der eher traditionellen Darstellung der drei Generationen gefolgt und aus der Base Elisabeth wurde die Mutter Anna.

Das Bild zeigt die „heilige Sippe“ vor einer gebirgigen Landschaft. Im Bildzentrum sitzt die Jungfrau Maria auf den Knien ihrer Mutter Anna. Zu ihren Füßen spielt der Jesusknabe mit einem Lamm. Er versucht auf das Lamm zu klettern, das sich jedoch dagegen sträubt. Maria beugt sich vor, um den Knaben, der gerade aus ihren Armen geschlüpft ist, zurückzuholen, während Anna die Szene lächelnd und in vollkommener Ruhe beobachtet. Für kein anderes Gemälde Leonardos sind vergleichbar viele Vorstudien erhalten, was beweist wie sehr er darum gerungen hat.

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