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1. Der Fund

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Der Zollinspektor Norbert Napiralla und seine junge Kollegin, Inspektoren-Anwärterin Claudia Wasserzieher, standen vor dem Rollband und verrichteten mit gemächlicher Routine in dem einem Fall, gespannter Erwartung im anderen, was Napiralla schon seit Jahren und seine Assistentin heute zum ersten Mal im Rahmen ihrer Ausbildung zu tun hatten: den nächsten Koffer oder Sack, die nächste Reisetasche oder Kiste oder das nächste wie auch immer gestaltete Behältnis vom Gepäck-Container auf das Rollband mit der richtigen Arbeitshöhe wuchten und bis zum Arbeitsplatz rollen. Hier waren alle Werkzeuge in Schalen oder an Haken griffbereit, die man für ein schnelles, aber behutsames Öffnen eines Koffers benötigt. Für die harten Fälle waren Brechstange und Flex natürlich auch im Maschinenpark vorhanden. Der Einsatz von schwerem Gerät wurde aber weitgehend vermieden, weil die Gepäckstücke durch den Eingriff ja nicht unbrauchbar werden sollten. Die meisten waren ohnehin entweder gar nicht verschlossen oder nur mit einfachsten Spielzeugschlössern versehen, die allenfalls ein Aufplatzen des Koffers oder bei den Reisetaschen ein Öffnen der Reißverschlüsse verhindern sollten. Solche Verschlüsse wurden mit einem Griff erledigt. Die Samsonites, sonstige Diplomatenkoffer und Hartschalen boten da manchmal schon mehr Widerstand.

Sein Hobby American Football hatte die Figur des Zöllners geformt – deshalb war ein 30-Kilo-Koffer für ihn ein Witz, hundert davon ein gutes Training. Zurzeit wurde das Muskelspiel auch gerne gezeigt, weil die junge Kollegin ein echtes Sahneschnittchen war. Napiralla konnte es nach gut sechs Jahren mit jedem Safeknacker aufnehmen. Auch die Hartschalen mit festen Schlössern waren meistens nach wenigen Sekunden unter Einsatz einfacher Werkzeuge geknackt, wobei fast immer ein Besteck mit verschiedenen Nadeln, Dornen und Haken genügte – einem Fahrradpannen-Set nicht unähnlich oder einem Schweizer Offiziersmesser.

Mit im Raum war noch ihr unmittelbarer Vorgesetzter, Zolloberinspektor Herbert Geschonneck, ein gemütlicher Pykniker mit Halbglatze und einer Pensionswartefrist von grob geschätzt 22 Jahren. Er war der Herr über Telefon, Computer und Digital-Kamera.

Mit geübtem Griff öffnete Napiralla den vor ihm liegenden Koffer: mittelgroß, rot, von außen schon als Damenkoffer erkennbar. Während seine Hände durch Blusen und Büstenhalter fuhren, bot er seiner neuen Kollegin fachliche Informationen im Doppelpack mit philosophischen Erkenntnissen.

„Dreht ein Gepäckstück immer noch einsam seine Runden, wenn alle Fluggäste bereits weg sind und das Band dann für einen anderen Flug gebraucht wird, kommt es hierher zu uns ins Fundbüro, bekommt einen Aufkleber mit Datum, wird hier ins Regal gestapelt und maximal sechs Monate aufbewahrt. Überall, wo es ein Namensschild oder einen anderen Hinweis gibt, eine Adresse oder Telefonnummer, versucht die Fundstelle, den rechtmäßigen Eigentümer ausfindig zu machen. Nach ein bisschen Schonzeit öffnen wir die Koffer ohne Namenschild. Gibt es im Koffer einen eindeutigen Hinweis, wird auch dieser Besitzer benachrichtigt. Über die Hälfte aller Teile wird in dieser Zeit auch abgeholt. Vor der Versteigerung werden alle Gepäckstücke von uns geöffnet und der Inhalt überprüft. Ich mache das hier schon ein paar Jahre – der Herbert noch länger. Bisher ist es mir nie langweilig geworden. Ich bin noch immer neugierig, was ich in dem Gepäckstück finde. Zuerst sieht man, ob der Koffer auf dem Hin-oder auf dem Rückflug verloren gegangen ist – die einen sind sorgfältig gepackt, die anderen eher Kraut und Rüben. Meistens riecht man es auch. Dann sieht man auch, ob es ein Damen-Herren- oder Kinderkoffer ist, weil ja der Inhalt immer typisch ist. Natürlich gibt es das auch gemischt, Pyjama und Nachthemd für Paare oder Schminktasche mit Teddybär für Mutter-Kind-Kombinationen. Bei jedem Koffer mache ich mir meine Gedanken und stelle mir die Person vor, der er mal gehört hat. Dahinter steckt immer auch eine ganze Geschichte. Die Stücke kommen ja aus aller Welt hierher – das finde ich richtig spannend.“

Er legte die Kleidungsstücke einzeln beiseite, schaute noch mal in jedes Fach und unter jeden Boden.

„Die hier auf diesem Container sind schon vorsortiert und durchleuchtet, damit sie uns nicht um die Ohren fliegen, wenn mal ein Kracher drin liegt. Die haben außen keine Namensschilder. Hier beginnt unsere Aufgabe ja erst richtig, nämlich den Besitzer zu ermitteln. Manchmal finden wir ein Schildchen innen, Geschäftspapiere oder einen Liebesbrief, eine Visitenkarte als Lesezeichen in einem Buch, Namensschild im Kragen – irgendwas, das uns Hinweise auf den Besitzer geben kann.“

Dieser Koffer gab sein Geheimnis nicht preis. Der gesamte Inhalt kam retour. Napiralla verschloss den Koffer wieder und beförderte ihn in den Wagen für die Versteigerungsobjekte.

„So einer bringt vielleicht hundert Euro.“

Während sich Frau Wasserzieher mit einer unscheinbaren blauen Reisetasche beschäftigte und Napiralla eine grüne Hartschale ergriff, wurde das nächste aufgeschlagen.

„Ich mag ja die Koffer am liebsten, Reisetaschen und Rucksäcke mag ich nicht so – die sind meistens langweilig. dreckige Unterwäsche und Räucherstäbchen, Sportzeug und Kinkerlitzchen. Seesäcke sind auch nicht spannend. Kisten kommen selten. Gestern hatten wir eine mit getrockneten Mückenlarven.“

Der blonde Engel legte Teil für Teil neben die Reisetasche, nicht ohne in den Kragen zu schauen und stellte beim Stichwort „Getrocknete Mückenlarven“ die daraus zu folgernde Frage.

„Was haben Sie denn bisher Spannendes gefunden?“

„Alles was man sich überhaupt nur vorstellen kann und noch viel mehr: eine komplette Sado-Maso-Ausrüstung, eine versilberte Autobatterie, ein paar goldene Handschellen, eine Perücken-Sammlung, ein Glas mit abgeschnittenen Fingernägeln, ein gebrauchtes Kondom im Senfglas, einen Herzschrittmacher mit eingraviertem Monogram, getrocknetes Viehzeug aller Art, einen Stapel Wahlplakate, bei dem sich jemand die Mühe gemacht hat, dem Kandidaten alle Augen und Münder auszuschneiden, und jede Menge wilde Fotos … jeden Tag was Neues. Es gibt nichts, was es nicht gibt. Natürlich sind auch immer mal Drogen, außerordentliche Wertgegenstände oder Bargeld dabei. So etwas nehmen wir vorher raus und wenn es einen Verdacht auf einen kriminellen Hintergrund gibt, ziehen wir dann die Kripo hinzu. Wenn die Schnäppchenjäger bei der Blindversteigerung darauf spekulieren, haben sie sich geschnitten. Was mit den Gepäckstücken blind versteigert wird, kommt meistens nur mit Kleidung oder üblichen Gebrauchsartikeln. Trotzdem ist die Bude immer voll, wenn alle sechs Monate im Kinosaal an der Flughafenstraße der Hammer fällt. Da ist richtig was los. In dem Zeitraum sammeln sich allein hier in Düsseldorf bis zu 6000 herrenlose Teile aller Art an – vom Handy bis zur Beinprothese. Bei der Versteigerung sind dann meistens so zwischen 200 bis 300 Koffer dabei. Wenn ein Koffer edel genug aussieht, werden auch schon mal 300 Euro dafür geboten.“

Die Auflistung der außergewöhnlichen Fundstücke provozierte natürlich die Frage nach dem Superlativ.

„Was war denn bisher Ihr spektakulärster Fund?“

Erst bei dieser höchsten Stufe des Frage-Antwort-Spiels merkte Geschonneck auf, denn spätestens hier hielt er die Antwort für Chefsache.

„Das war vor etwa einem Jahr. Koffer, Hartschale, aber nichts Auffälliges. Oben drauf lag das Übliche. War auch eine ganze Menge Bargeld dabei. Da waren dann zwei schwarze Mappen drin mit je etwa einem Dutzend Klarsichttaschen. Wir wussten erst gar nicht, was das für Zeug war in diesen Hüllen. Sah aus wie unterschiedlich große Lederstücke mit Zeichen und Schrift drauf. Der Groschen ist bei mir erst gefallen, als ich den Oberarm Ihres Kollegen da sah.“

Zwei katzengrüne Augen wanderten am Arm des Zöllners hoch und entdeckten unter dem halben Ärmel eines gelben Diensthemdes die magischen Worte `Rhine Fire Forever` und ein pillenförmiges Zeichen mit Banner – sauber in Taubenblau unter die Haut gestochen.

„Das waren Hautstücke mit Tattoos – eine ganze Muster-Kollektion oder die Privatsammlung irgendeines durchgeknallten Fetischisten. Was weiß ich!“

In diesem Moment zwickte ein Arschgeweih über einem rosafarbenen String-Tanga. Die Besitzerin stellte die nächste folgerichtige Frage:

„Was haben Sie dann damit gemacht?“

„So was ist eigentlich nicht mehr unser Job. Wenn es heikel wird, geben wir die Sache an unsere Kollegen von der Kripo weiter. Die Kollegen haben sich das Zeug angesehen, aber letztlich ist dabei nichts herausgekommen. Der Koffer gab keinerlei Hinweise auf den Besitzer, kein Mensch wusste, wo er her kam, und so war der Inhalt keiner Straftat zuzuordnen.“

Während das kleine Röschen über dem rechten Außenknöchel jetzt auch zu zwicken begann, folgte die angehende Inspektorin weiterhin konsequent der Lebensweisheit, dass man nur durch beharrliches Fragen zu Kenntnissen kommen kann.

„Ist der Koffer dann auch versteigert worden?“

„Der Koffer schon. Die Kripo hat ihn kriminaltechnisch eingehend untersucht, absolut nichts feststellen können und ihn dann zur Versteigerung freigegeben. Die beiden Mappen samt Inhalt natürlich nicht. Die sind dann schließlich in der Kuriositätensammlung des Landeskriminalamts gelandet.“

Geschonneck wandte sich wieder seinen Papieren zu; seine Leute widmeten sich den nächsten Gepäckstücken. Während Napiralla einen mit Gürtel gesicherten Pappkoffer erwischte, der seiner unregelmäßigen Verfärbung nach zu urteilen längere Zeit in einem Regenfass mit lindgrüner Gülle gelegen haben musste, entschied sich Miss Düsseldorf-Oberbilk für eine gepflegte Hartschale in Blaugrau. Die geschickten Napirallahände öffneten beide geschwind, bevor sie wieder dem viereckigen Wasserschaden zuleibe rückten. Da es nicht den geringsten Hinweis auf den Eigner gab und der gesamte Inhalt einen Reißwolf noch beleidigt hätte, wollte Napiralla dieses Gepäckstück gerade schwungvoll in den Müllcontainer befördern, als ein schriller Schrei ihn genau in dieser Pose mit Koffer in Vorhalte erstarren ließ. Die katzengrünen Augen seiner zauberhaften Kollegin waren so groß wie Pfefferminztaler. Beide Hände hatte sie vor den Mund gerissen. Unfähig sich zu bewegen, starrte sie in den Koffer.

Als Claudia Wasserzieher am Abend ihrem Lebensabschnittspartner von Ihrem Fund berichtete, witterte der angehende Journalist, zurzeit noch im Volontariat, eine Riesen-Story. Veröffentlicht wurde ein kleiner einspaltiger Artikel mit 24 Zeilen in der Rheinischen Post

Der rote Punkt

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