Читать книгу Der rote Punkt - Horst Rellecke - Страница 5
II. Leonardo und Leo X.
ОглавлениеDer Bote des Papstes hatte unmissverständlich klar gemacht, dass man sich unverzüglich in den Audienzräumen seiner Heiligkeit einzufinden habe. Des Weiteren erklärte er, dass er Befehl habe, nicht ohne den Einbestellten zurückzukehren. Auf dem Weg vom Belvedere zum Audienzraum hatte Leonardo ausreichend Zeit, sich auszumalen, welche Strafe ihn treffen könnte, denn ihm war klar, was der Grund für die Order war. Die Mauern des Vatikans waren aus Augen und Ohren errichtet worden. Hier konnte nichts im Verborgenen bleiben. Er hatte gleich den Verdacht gehabt, dass der deutsche Handwerker, der ihm zugeteilt worden war, ein Spitzel des Papstes war.
Angekommen wurde Leonardo von Wachleuten eskortiert vor den Papst geführt. Der saß keineswegs in Achtung gebietender Pose auf seinem Thron, angetan mit allen Insignien seiner Macht und Würde, sondern er ging vor dem bedeutendsten Thron der Zeit wütend hin und her. Ein weiser Mann ging vor einem 38jährigen in die Knie, der lediglich ein weißes Nachthemd und die rote Papstmütze mit Hermelinbesatz, den Camauro, trug sowie ebenso rote Pantoffel. Leo wandte sich dem Unterwürfigen zu, zeigte ihm seinen Siegelring zum Kuss, verschränkte dann die Arme auf dem Rücken und begann mit der Strafpredigt von höchster Stelle.
„Erhebe Er sich! Uns ist zu Ohren gekommen, dass Er wider Unser Gebot das Ebenbild des Herrn aufgeschnitten hat, um Seine abscheulichen Studien zu betreiben. Weiß Er nicht, dass Unser Wort wie das Wort Gottes ist? Weiß Er nicht, dass Wir die Macht, die Uns der Herr verliehen hat, wohl zu nutzen verstehen? Ganz sicher weiß Er es! Was Er nicht weiß, ist, dass Wir Uns heute über die Maßen unpässlich fühlen, denn auch der Stellvertreter des Herrn ist nicht vor Zahnschmerzen gefeit. Er wird daraus Schlüsse ziehen und wissen, dass die Verhandlung über Sein Vergehen auf einen wahrlich schlechten Tag gefallen ist. Wir sind in höchstem Maße verärgert!“
Leo ließ sich mit samt seiner Wut im Bauch in seinen Thron fallen. Der Hofnarr hatte sein Stichwort gehört, sprang vor seinen Herrn und wollte gerade einen trefflichen Spaß zur Vertreibung der üblen Laune beginnen, als eine päpstliche Ohrfeige sein Ansinnen schon im Keim erstickte.
„Verschwinde! Dummkopf! Auch die Wachen hinaus – alle hinaus!“
Der Narr trollte sich und dachte an Gift. Die Wachen machten zumindest noch den Versuch eines schneidigen Abgangs. Zwei Kardinäle und als letzter der Kardinal-Kämmerer, der Camerlengo, schwebten huldvoll hinterdrein.
„Ist das der Dank dafür, dass Wir Euch auf Bitten Unseres Bruders in Unseren Dienst genommen haben. Ihr beleidigt den Herrn, indem Ihr die Euch von Gott gegebene Gabe vernachlässigt, der beste Eurer Zunft zu sein. Nun geht Euch auch der Ruf voraus, dass es Euch an Disziplin mangelt und dass Ihr vieles nicht fertig bringt. Wenn Wir Ihm ein Bildwerk auftragen, kocht er Öle und Kräuter für den Firnis anstatt das Werk zu beginnen. Wir ahnten es: O weh – das ist keiner, der etwas zuwege bringt, wenn er damit beginnt, ans Ende des Werkes zu denken, ehe er noch angefangen hat. Ihr vergeudet Eure und Unsere Zeit, indem Ihr Leichname zerschneidet und Knochen und Eingeweide zeichnet.“
Es entstand eine kurze Pause, in der beide dachten, dass es doch vielleicht besser gewesen wäre, dem Hofnarren eine kleine Chance zu geben. Leonardo war klug genug, um die kleinste Veränderung der Anrede und Tonart zu bemerken. Die Anerkennung seiner Meisterschaft vermochte ihn also doch noch vor der ganzen Wucht des päpstlichen Bannstrahls zu bewahren. Deshalb wagte er die Gegendarstellung.
„Eure Heiligkeit! Euer Vorwurf schmerzt. Aber sind denn nicht nach meinen Überlegungen die Pontinischen Sümpfe trocken gelegt, Civitavecchia befestigt und die Pläne für den Trajanshafen verfasst worden.“
„Da Gott Uns das Pontifikat verliehen hat, so wollen Wir es auch genießen. Was zählen Uns da trockene Sümpfe oder Hafenmauern? Wir preisen den Herrn am höchsten, wenn Wir Ihm hier in Sankt Peter den prächtigsten Tempel seit Anbeginn der Zeit errichten. Wir haben die Mittel. Der Ablasshandel füllt Uns die Kassen. Michelangelo und Raffael sind voller Inbrunst am Werk. Wollt Ihr hintan stehen?“
„Eine Kirche – auch die größte und prächtigste – bleibt Menschen-werk. Der menschliche Körper ist Gotteswerk. Deshalb gilt ihm mein Augenmerk.“
„Indem Ihr das Gotteswerk aufschneidet? Ihr versündigt Euch an diesem Gotteswerk. Deshalb haben Wir es Euch verboten.“
„Haben nicht die Vorgänger Eurer Heiligkeit, die seligen Päpste Sixtus IV. und Alexander V. die Sektion ausdrücklich erlaubt, weil sie erkannt hatten, dass das Wissen um die Beschaffenheit des Menschen allein keine Schmähung des göttlichen Gedankens ist, sondern im Gegenteil bessere Möglichkeit bietet, die Krone der Schöpfung zu erhalten – vielleicht sogar zum eigenen Nutzen?“
„Will Er Unsere Unfehlbarkeit bezweifeln?“
„Keineswegs Eure Heiligkeit. Aber dann müsste ich die Eurer Vor-gänger in Zweifel ziehen.“
Ein unwilliger Blick traf zwei rote Pantoffel. Dieser war lang genug, um einen Erklärungsnotstand zu überstehen.
„Es kann Gottes Wille sein, dass unter den Geboten der Zeit eine Frage unterschiedlich ausgelegt wird. Deshalb waren die Entscheidungen von Sixtus und Alexander ebenso richtig wie Unsere.“
„Aber das ist es ja gerade: je mehr Wissen uns gegeben ist, umso gereifter werden unsere Urteile sein.“
„Das höhere Gut ist der Glauben – nicht das Wissen!“
Leonardo war zu Ohren gekommen, dass Leute im Umfeld des Papstes gelegentlich Zweifel an Leos eigenem Glaubensbekenntnis geäußert hatten. Weil es damit also vermutlich soweit nicht her war, wagte Leonardo einen handfesten Vergleich.
„Warum springt der kluge Mann nicht in den Tiber? Weil er weiß, dass er ertrinken wird – das Vertrauen, von Gottes Hand gerettet zu werden, gibt ihm keinen Schutz vor dem nassen Tod.“
„Meister Leonardo! Ihr begebt Euch in die gefährliche Nähe zur Häresie! Wir sind die Instanz, die die Uns aufgetragene göttliche Wahrheit verkündet, um dadurch Chaos und ewige Finsternis zu verhindern. Die heilige Kirche ist in Gefahr. Die Christenheit wird aufgewiegelt von dunklen Mächten. Selbst Würdenträger wagen es, Unsere Entscheidungen in Zweifel zu ziehen, wie jene Kardinäle, die den segensreichen Ablasshandel kritisieren, der doch einzig der Lobpreisung unseres Herrn dient.“
Leonardo war längst klar, dass nicht die Wahrung des Glaubens, sondern die Angst vor dem Machtverlust das Denken dieses Papstes und wohl auch der ganzen Kirche bestimmte. Ein Gewinn an wissenschaftlichen Erkenntnissen würde dieses System untergraben und vielleicht auch zu Fall bringen, wenn es sich nicht öffnen könnte.
„Sind nicht auch diese Kardinäle von Gott in diese Ämter berufen worden, weil sie klug und voller Verantwortung sind. Sollten nicht ihre Gedanken Euer Ohr finden, auf dass Ihr mit noch mehr Kenntnis einen Sachverhalt noch besser abwägen könnt?“
„Viele Kenntnisse bringen auch viele Zweifel. Ihr wollt mich wieder locken auf Euren Weg der Wissenschaft. Allein – nur der Glaube führt zu Gott!“
„Ich kann nicht erkennen, warum sich beides ausschließen sollte!“
Darauf hatte seine Heiligkeit keine Antwort. War das lange Schweigen nur Unsicherheit oder ein echtes Bedenken dieser Ansicht? Eigentlich hatte er ja nur seiner gekränkten Eitelkeit mit einer milden Strafe Wiedergutmachung verschaffen wollen – und fand sich nun wieder in einem Disput mit einem Mann, der ja noch nicht einmal dem Klerus angehörte. Ein selbstherrlicher Papst mit genug Respekt vor einem großen Geist wollte hier nicht mehr Position beziehen. Er vergaß sogar, den Ring zu Kuss vorzustrecken.
„Geht nun – Meister Leonardo! Vielleicht reden wir ein anderes Mal. Mein Zahn plagt mich, dass ich nicht mehr denken noch reden mag.“
Leonardo verneigte sich und verließ den Raum rückwärts in der festen Überzeugung, dass das Schmerzpotential der verbliebenen päpstlichen Zähne die verheißene Fortsetzung niemals zulassen würde. Ein weiterer Gedankenaustausch, der vielleicht Einiges verhindert und Vieles möglich gemacht hätte, fand nicht mehr statt. Darüber hinaus war es nun offensichtlich, dass auch zukünftig vom Vatikan keine bedeutenden Aufträge mehr an ihn vergeben würden, und somit sein Aufenthalt in Rom ohne sinnvolle Perspektive blieb. Das einzige Kunstwerk von Rang aus seiner römischen Zeit würde das Gemälde „Johannes der Täufer“ bleiben.
Zwei Jahre später schlug ein kleiner Augustinermönch ein Papier an eine Kirchentür in Wittenberg. Bis dahin hatte Leo immer noch nicht gelernt, zwei Seiten einer Sache sorgfältig abzuwägen. Er sollte Leonardo nur um zwei Jahre überleben und so schnell sterben, dass es noch nicht einmal zum Empfang der Sterbesakramente reichen sollte.