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21. Dezember 2015 - Zarifa: vor dem Herrenhaus - Ein unerwarteter Reisegrund

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„Hanif“, sagte Carina mit einem leichten Schniefen. Tröstend zog Hanif die Deutsche an sich und hielt sie einige Minuten lang fest im Arm. „Immer wenn ich hier an Anbars Grab bin, kann ich nicht länger stark sein! Wem hat dieser arme alte Mann denn etwas Böses getan? Nach all den Jahren in Gefangenschaft bei diesem furchtbaren Sklaventreiber hatte er sich einen ruhigen Lebensabend mehr als verdient … und dann dieses Ende! Es ist einfach nicht fair!“, sie schluchzte.

„Es kommt mir vor als sei diese verabscheuungswürdige Tat der Auftakt zu einer ganzen Pechsträhne gewesen. Wo soll das nur hinführen?“, sie weinte einige Minuten lang leise an Hanifs Brust. Rayans Freund hielt sie fest im Arm und streichelte beruhigend ihren Rücken.

„Ich kann einfach nicht anders als immer daran denken, dass Rayan in einer derartigen Phase böser Ereignisse gar keine Chance hat!“, ihr Schluchzen wurde lauter.

„Mach dir nicht zu viele Sorgen um ihn“, flüsterte Hanif ihr leise ins Ohr. „Rayan ist ein Kämpfer. Du wirst sehen, er ist in wenigen Tagen wieder aus dem Koma erwacht und dann ist er so gut wie neu.“ Der Tarmane merkte selber, dass seine Worte zu positiv klangen. Doch was hätte er sonst sagen sollen? An diesem verfluchten zweiten Dezember war wirklich alles gründlich schief gegangen, da hatte Carina schon recht. Zunächst war da Rayans unsinnige Weigerung, der Anweisung des „Durchgeknallten“ - wie er den Skorpion mit Jassim nannte - Folge zu leisten. Aber dass dieser als Antwort tatsächlich ohne weitere Warnung einfach abdrücken würde, hatte niemand ahnen können. Der Skorpion selbst hatte wohl am wenigsten damit gerechnet, dass diese eine Kugel ausgerechnet die Oberschenkelarterie förmlich zerfetzen würde. Normalerweise war dies nicht sehr wahrscheinlich.

Doktor Scott war in einer heroischen Operation in der Lage gewesen, das verletzte Gefäß wieder zusammenzufügen. Mehrere Bluttransfusionen hatten zudem den Blutverlust ausgeglichen.

Gerade als sie geglaubt hatten, damit wäre das unschöne Erlebnis noch einigermaßen glimpflich ausgegangen, teilte ihnen der Mediziner die nächsten schlechten Nachrichten mit: Das Geschoss hatte eine schwere Weichteilverletzung verursacht und zudem den Nervus femoralis getroffen. Diese Nervenschädigung barg die Gefahr schwerwiegender Bewegungsstörungen an dem Bein. Dies sei darauf zurückzuführen - so der Doktor - dass der Nerv eng an der Oberschenkelarterie anliege und von dort zur Innenseite des Oberschenkels bis hinunter in den Fuß führe.

Da er für die Versorgung vieler Muskeln zuständig ist, führt eine Beschädigung zu schwerwiegenden Bewegungsstörungen, u.a. im Hüftgelenk, aber auch bei der Streckung des Knies. Beim Auftreten kommt es dann vor, dass das Bein komplett einknickt. Es wäre also sehr wahrscheinlich, dass der Scheich zumindest einige Wochen lang auf einen Stock angewiesen wäre, vielleicht aber auch nie mehr normal würde laufen können.

Doch kaum hatten sie diese Nachricht verdaut, kam es noch schlimmer: Einen Tag nach der erfolgreichen Operation hatte sich eine Sepsis, eine Entzündungsreaktion des Körpers, eingestellt. Die Ursache waren diese massive Weichteilverletzung und die durch das Geschoss in die Wunde eingedrungenen Bakterien. Durch diese Blutvergiftung war der Scheich in ein Koma versetzt worden, woraus er seit nunmehr zwei Wochen nicht erwacht war. Trotz der Verabreichung von hoch dosierten Antibiotika und Kreislauf stabilisierender Medikamente, sowie der künstlichen Beatmung ihres Anführers, war die Situation sehr kritisch, die Chancen standen nicht sehr gut. Weltweit liegt die Sterberate für eine derart schwere Sepsis bei mehr als 33 % und das, auch ohne vorher diesen massiven Blutverlust verdauen zu müssen.

Und dann war da noch die Frage einer Hirnschädigung. Hanif musste an seinen Streit vor zwei Tagen denken, den er mit seiner Lebensgefährtin Leila geführt hatte. Er hatte ihr von den Befürchtungen des Arztes berichtet. Zu seiner Überraschung war sie heftig auf seine deprimierte Beschreibung angesprungen: „In diesem Fall müssen wir eingreifen! Für Rayan wäre es die Hölle, wenn er als hilfloses Elend aus dem Koma erwacht. Wir sind es ihm schuldig, dann dafür zu sorgen, dass niemals jemand davon erfährt …“

„Und wie willst du das kaschieren?“, fragte Hanif gereizt. „Ihn sein Leben lang verstecken und nie mehr aus dem Zimmer lassen?“, fügte er sarkastisch dazu.

„Natürlich nicht!“, versetzte Leila. „Wir müssen dafür sorgen, dass es aussieht, als wäre er niemals mehr aus dem Koma erwacht …“. Sie wollte noch etwas sagen, aber Hanif fiel ihr in Wort.

„Sag mal bist du jetzt von allen guten Geistern verlassen?! Du willst ihn TÖTEN?“, sein Tonfall verriet sein Entsetzen. „Alleine dafür, dass wir bloß über diese Möglichkeit SPRECHEN, könnten wir schon zum Tode verurteilt werden!“

„Ach, und wer sollte das tun? Tahsin? Dass ich nicht lache!“, konterte Leila höhnisch. „Auch er weiß, dass ich recht habe. Rayan liebt seinen Bruder Daoud. Der ist rückständig geboren und jeder hat das akzeptiert. Aber für sich selber würde unser stolzer Herrscher niemals so ein Los akzeptieren. Wenn er es entscheiden könnte, würde er ebenfalls etwas dagegen unternehmen.“ Sie war laut geworden und atmete tief durch, um sich selbst in den Griff zu kriegen. Auch ihr ging die ganze verfahrene Situation gehörig an die Nerven. „Hanif! Wenn ihn einer kennt, dann du!“, flehte sie nun. „Du bist sein Freund und würdest dein Leben für ihn geben. Und ich auch!“, fügte sie heftig hinzu.

„Und was wäre, wenn es schiefgeht? Wenn uns einer dabei erwischt? Was meinst du, was dann los ist?“, fragte Hanif zögerlich. Tief in seinem Inneren wusste er, dass Leilas Einschätzung richtig war.

„Na und?“, fragte sie kess. „Sollen sie mich doch hinrichten. Das Risiko gehe ich ein! ICH bin ihm das auf jeden Fall schuldig … “, versetzte sie.

„Ja du redest dich auch leicht. Du sitzt in Alessia. ICH bin hier und wäre derjenige der - wie hast du das genannt? - ‚Dafür sorgen müsste‘, vielen Dank, aber da spiele ich nicht mit. Ich bringe meinen Freund nicht um“, stellte er mit fester Stimme klar.

„Elender Feigling! Aber das hab ich mir schon gedacht. Deshalb werde ich auch vorbeikommen, und es selbst erledigen“, informierte Leila nun.

Hanif schauderte. Es war ihr letztes Gespräch gewesen, seitdem hatte sie sich nicht mehr gemeldet. So sehr er sich immer gewünscht hatte, Leila eines Tages hier in Zarifa zu sehen, so hatte er sich nie in seinen kühnsten Träumen ausgemalt, was einmal der Reisegrund sein würde.

Rayan - Das Blut Von Zarifa

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