Читать книгу Rayan - Das Blut Von Zarifa - Indira Jackson - Страница 20
10. Januar 2016 - Zarifa: Krankenhaus - Alles was notwendig ist
ОглавлениеDer Gedanke an den Stolz, mit dem seine Familie bereits seit Generationen den Herrschern von Zarifa diente, bewirkte, dass Ahmads Tränen erneut zu fließen begannen. Was würde sein Vater sagen, wenn er die Wahrheit erfuhr? Und vor allem: Würde auch Jeddah bestraft werden, falls sein Sohn als Verräter entlarvt wäre? Wobei das fast zweitrangig war, denn Ahmad bezweifelte, dass sein alter Herr die Schmach überleben würde. Einige Sekunden lang drohte er an seiner Verzweiflung zu zerbrechen. Dann riss er sich zusammen und wischte sich ärgerlich übers Gesicht. Genug des Selbstmitleids! Es war Zeit, zur Tat zu schreiten und es hinter sich zu bringen.
Um es für sich selbst leichter zu machen, dachte er an Situationen, die er Rayan anlasten könnte, um negative Emotionen aufzubauen. Wenn er sich dazu bringen konnte, den hilflos daliegenden Mann zu hassen, wäre es sicher kein Problem, die durchsichtige Lösung schnell in den Beutel einzufüllen, der an einem Metallgestell neben dem Bett hing und von dem aus ein Zugang direkt in die Vene des Scheichs führte.
Zu allererst fiel ihm dabei eine Szene ein, die sich vor etwa eineinhalb Jahren abgespielt hatte: der Tag von Carinas Ankunft in Zarifa. Rayan hatte Ahmad geohrfeigt, weil er die Deutsche respektlos behandelt hatte. Der Tarmane gönnte sich einige Sekunden, das Ereignis vor seinem inneren Auge Revue passieren zu lassen. Als einer der anderen Diener ihm gesagt hatte, dass seine Exzellenz ihn zu sprechen wünsche, hatte er keine Ahnung gehabt, was auf ihn wartete. Auch als er sich seiner Hoheit genähert hatte, hatte es keine Vorwarnung gegeben. Im Grunde war Ahmad ahnungslos gewesen, bis ihn der erste Schlag getroffen hatte. Instinktiv hatte er die Arme abwehrend heben wollen, sich jedoch gezwungen, sie wieder sinken zu lassen. Obwohl ihm sofort klar war, dass sein Herr noch nicht fertig mit ihm war. Wie durch einen Nebel hatte er die wütende Stimme des Scheichs gehört und dann hatte ihn auch schon die zweite, nicht minder heftige Ohrfeige auf die gleiche Wange getroffen.
Ahmad konnte sich noch gut erinnern, wie froh er gewesen war, dass sich seine Exzellenz direkt im Anschluss weggedreht hatte und ohne seine Reaktion abzuwarten gegangen war. Das hatte ihm erlaubt, auf eines der Kissen zu sinken und seine vor Schreck zitternden Knie zu entlasten. Er hätte wohl kein einziges Wort herausbekommen.
Eigentlich sollte ihm die Erinnerung an diese Demütigung seine Tat erleichtern. Doch zu seinem eigenen Erstaunen empfand Ahmad gerade angesichts dieser Geschichte Ehrfurcht und Respekt. Gab es einen stolzeren und mächtigeren Mann als ihren Herrn? Auf einmal fiel es ihm leicht, sich selbst einzugestehen, dass er die Zurechtweisung verdient hatte. Er hatte sich in der Tat dazu hinreißen lassen, sich einem Gast seines Herrn gegenüber respektlos zu verhalten. Das stand ihm nicht zu! Hätte seine Mutter ihn dabei beobachtet, hätte sie sich sicherlich im Grabe umgedreht. Und es lag alleine beim Scheich, zu entscheiden, welche Strafe er für dieses Fehlverhalten angemessen erachtete. Selbst wenn er statt der Ohrfeigen Jassim befohlen hätte, ihn nach draußen zu bringen und auszupeitschen, wäre dies gebührlich gewesen. Insofern hatte Ahmad noch Glück gehabt. Der Diener erforschte seine Empfindungen und rief sich Rayans wütende Gestalt in Erinnerung. Dann sah er wieder auf den hilflosen Körper im Bett hinab. Dabei fiel ihm noch etwas anderes ein, das diese Geschichte so besonders machte: Rayan hatte ihm danach nie das Gefühl gegeben, ihm die Situation nachzutragen. Genau analog der Regeln, die er auch seinen Männern vorgab, war für ihn das Thema im Anschluss an die Abstrafung erledigt gewesen. Und nachdem sich Ahmad danach bemühte, nicht nochmals negativ in seinem Verhalten gegenüber der Frau aufzufallen, hatte der Scheich den Zwischenfall vermutlich tatsächlich aus seinem Gedächtnis gestrichen.
Diese Eigenschaft machte ihn besonders, und entsetzt kam Ahmad zu einem Schluss: Er liebte seinen Herrn. Gerade weil seine Eltern und Großeltern und vermutlich sogar weitere Vorfahren bereits im Dienste der Herren von Zarifa standen, konnte er sich noch bestens an die Zeit vor Rayans Erscheinen und Machtübernahme erinnern. Der Stamm war ein passiver, alternder Haufen gewesen, über den man bei den benachbarten Stämmen lächelte.
„Nun! Heute belächelt uns keiner mehr!“, dachte Ahmad voller Genugtuung. Dies hatten die Tarmanen alleine Rayan zu verdanken. Der alte Scheich Sedat - Rayans Vater - hätte wohl noch einige Jahre so weitergemacht und dann irgendwann abgedankt. Wer weiß, wer dann die Ehre übernommen hätte. Hanif?
Doch dann fiel Ahmad ein, dass es so weit nicht mehr gekommen wäre, denn ohne Rayan hätte das Heer von Yuemnue sie überrannt. Und wer weiß, was dessen Herrschaft für die Tarmanen bedeutet hätte. Sicher nichts Gutes!
An dieser Stelle kam in Ahmads Bewusstsein wieder der Grund hoch, warum er überhaupt erst dem Skorpion und seinem Bruder Sedat geholfen hatte, nach Zarifa zu gelangen. Es war eine edle Idee gewesen, die er auf Bitten seiner Großmutter verfolgt hatte. Sie hatte ihm auf dem Sterbebett ein Versprechen abgerungen. Doch das machte nun keinen Unterschied mehr. Die alte Genna war tot und er musste die von ihm gemachten Fehler alleine wieder zurechtrücken.
„Genug in der Vergangenheit verweilt – was zählt, ist das hier und jetzt!“, rief sich Ahmad zur Ordnung. Er hatte seine Entscheidung vor Monaten getroffen. Dass sie falsch gewesen war, hatte er inzwischen erkannt. „Als Diener sollte man sich eben doch nicht dazu hinreißen lassen, zu glauben, man wisse mehr als sein Herr“, sagte sich Ahmad ironisch. Doch für die Erkenntnis war es nun zu spät. Er saß in der Falle und es gab nur einen Ausweg. Er stand auf und nahm den Beutel mit Flüssigkeit in Augenschein. Genau wie Sedat es ihm beschrieben hatte, gab es am unteren Ende einen Gummipfropfen. Dort würde er die Nadel ansetzen können. Er brauchte jetzt nur noch eine Spritze!
Wieder hoffte der gute Kern in Ahmad einen Moment lang, dass sein Vorhaben am fehlenden Gerät scheitern würde, doch ein kurzer Blick in die Schubladen des Schranks, der neben dem Fenster stand, brachte neben allerlei Verbandsmaterial auch eine ganze Anzahl von noch steril verpackten Plastikspritzen und ebenfalls separat eingeschweißten Infusionsnadeln zutage. Alles was er benötigte - genau wie Sedat es vorhergesagt hatte - was wollte das feige Attentäterherz mehr?