Читать книгу Rayan - Das Blut Von Zarifa - Indira Jackson - Страница 16
21. Dezember 2015 - Zarifa: vor dem Herrenhaus - Die Liste der Freunde
ОглавлениеCarina musste lachen, als Hanif sich während des Essens wie ein Schuljunge zu ihr herüberbeugte und ihr verschwörerisch ins Ohr flüsterte: „Wer weiß sonst noch davon?“
Dann schüttelte sie den Kopf: „Nur du!“
„Ich kann es echt nicht fassen, dass du es uns nicht früher gesagt hast! Du musst es nachher gleich Tahsin erzählen.“
Bevor Hanif in seiner Freude zu laut wurde und die Diener hören konnten, worüber sie sprachen, erklärte Carina leise. „Weißt du … ich wollte immer, dass Rayan es als Erster erfährt“, nun füllten erneut Tränen ihre blaugrünen Augen, doch energisch blinkte sie diese weg.
Entgeistert ließ Rayans Freund sein Besteck sinken. „Soll das heißen, er weiß es noch gar nicht?“
Und als er Carinas verzweifeltes Kopfschütteln sah, sprang er auf und zog sie erneut an sich. Er konnte gut nachvollziehen, wie sie sich fühlen musste.
Einer der Bediensteten kam ins Zimmer und schreckte entsetzt zurück, als er die beiden in einer so vertrauten Umarmung sah. Schnell machte er kehrt und eilte in die Küche zurück. Hanif hatte den Mann aus den Augenwinkeln gesehen, doch es war ihm egal. Sollten die Leute doch denken, was sie wollten! Carina bemerkte es nicht einmal. Sie brauchte einige Minuten, bis sie sich wieder voll im Griff hatte.
„Ich bin dir wirklich dankbar, dass du dich so um mich kümmerst“, sagte sie spontan und drückte seine Hand.
„Schon gut!“, beschwichtigte Hanif, „ich habe Rayan versprochen, dass ich mich um dich kümmern werde. Und wenn das bedeutet, dass ich dein Kummerkasten bin … warum nicht?“
Er lächelte schief, als Carina, wie zu erwarten war, mit ihrer Servierte nach ihm schlug. Sie lachte dabei und der Tiefpunkt schien vorüber. „Wieder einer“, dachte Hanif für sich. Grimmig fügte er hinzu: „Aber wir werden genau so weitermachen! Egal wie viele von diesen verzweifelten Momenten noch kommen. Wir lassen uns auf keinen Fall unterkriegen. Carina ist eine starke Frau, die kriegt das hin!“
Carina dagegen dachte über die Ankündigung nach, dass Leila bald kommen würde. Sie war der Meinung gewesen, ihre Eifersucht gegenüber der kleinen, quirligen Araberin aus Alessia endgültig überwunden zu haben. Doch nun erfüllte sie die Vorstellung, Hanif hätte dann keine Zeit mehr für sie, mit Schrecken. Erstaunt bemerkte sie, wie sehr sie sich in den vergangenen drei Wochen auf ihren neuen Begleiter eingestellt hatte. Er war der Erste, der sie am Morgen begrüßte und derjenige, der sie bis an ihre Tür begleitete, wo er stets eine Kontrollrunde durch das Zimmer drehte, bevor er ihr eine gute Nacht wünschte. Sie hatten überlegt, ob Carina nach den Ereignissen in ihrem Raum oben im ersten Stock nicht besser woanders nächtigen sollte, doch die Deutsche hatte energisch mit dem Kopf geschüttelt. „Ich lasse mich ganz bestimmt nicht in meinem eigenen Haus einschüchtern, das wäre ja noch schöner!“ und Hanif hatte wieder einmal ihre Hartnäckigkeit bewundert.
„Ich bin direkt hier vor der Tür“, hatte er ihr versichert, und hatte tatsächlich die ersten beiden Nächte dort verbracht. Alle Argumente Carinas waren vergeblich gewesen, und wenn sie ehrlich war, fand sie die ersten Stunden in dem Zimmer tatsächlich ein wenig gruselig.
Sie überlegte, woran es lag, dass sie sich auf einmal so auf Hanif fixiert hatte, doch das lag auf der Hand: Ihre anderen Freunde waren alle ebenfalls mit sich selbst und den äußeren Umständen beschäftigt.
Jassim war eigentlich nur noch drüben im Krankenhaus. Er war von der Tür seines Herrn nur wegzubekommen, wenn er sich zum Schlafen niederlegte, weil er vor Müdigkeit nicht mehr stehen konnte. Dem Leibwächter war überdeutlich bewusst geworden, wie verletzlich sein Herr war. Normalerweise war sein Instinkt nicht nur gut, sondern hervorragend ausgebildet und warnte ihn vor Gefahren. Und wenn er in eine Situation geriet, war er überwiegend durchaus in der Lage, klarzukommen. Doch nun lag er einfach so da herum! Jedes Kind könnte ihn in diesem Zustand ermorden. Der Gedanke trieb Jassim an den Rand des Wahnsinns und er legte Doppelschichten ein, um sicherzugehen, dass nichts passieren konnte. „So kann das nicht weitergehen“, ging es Carina durch den Kopf. „Sobald Tahsin hier ist, muss ich mit ihm darüber reden. Es hilft niemandem weiter, wenn Jassim vor Rayans Tür vor die Hunde geht“, sie seufzte.
Das brachte sie in der Aufzählung ihrer Freunde zu Tahsin: Der verfolgte seine inneren Dämonen auf der Jagd nach Sedat und seinen Schergen. „Noch einer der sich aufarbeitet, um die Spannungen abzubauen“, fügte Carina auf ihrer Liste hinzu: „Auch mit ihm sollte ich sprechen, dass er hier gebraucht wird und nicht da draußen.“
Als Nächstes dachte sie an Julie, doch die alte Dame und Carina hatten eine Vereinbarung getroffen, sich gegenseitig an Rayans Bett abzuwechseln. Beide hatten sich strikt geweigert, ihren Ehemann und Sohn auch nur eine Sekunde unbeobachtet zu lassen. Häufig schliefen sie sogar in einem extra dafür freigemachten Raum direkt neben Rayans Zimmer. Daher sahen sie sich zwar täglich, doch jeweils nur einige Minuten lang beim „Schichtwechsel“.
In diesem Moment kam Daoud ins Esszimmer, was Carinas gedankliche Liste komplettierte. Die kleine Sheila hing auf seinem Rücken, wie ein Affe an einem Baum.
„Wir haben schon auf euch beide gewartet“, sagte sie lächelnd. Und erfreut beobachtete sie ihre Tochter, wie sie Rayans Bruder ernst zuzuhören schien, als der ihr erklärte, dass es jetzt Zeit zum Essen sei, und man erst wieder spielen könne, wenn sie ordentlich aufessen würde. Begeistert versicherte sie, dass sie das tun würde, wenn Daoud ihr versprach, danach mit ihr in den Pool zu gehen. Erfreut stimmte ihr Onkel ihr zu und Carina stellte heimlich lächelnd fest, dass es Daoud gar nicht aufgefallen war, dass die Kleine soeben den Spieß umgedreht und ihm eine Bedingung gestellt hatte.
„Bald wird sie uns alle um ihren süßen Finger wickeln“, bemerkte in diesem Moment Hanif, der offenbar ebenfalls zu dem gleichen Schluss gelangt war.
Und Carina war froh, dass es ihnen offenbar gelang, zumindest der Kleinen so wenig wie möglich die angespannte Lage merken zu lassen. Sie hatte auch das traumatische Erlebnis in ihrem Zimmer einigermaßen gut verarbeitet, während sie in der ersten Nacht genau wie Carina mehrfach aufgewacht war, schlief sie inzwischen die meiste Zeit wieder durch.
10. Januar 2016 - Zarifa: Krankenhaus - Nur nicht erwischen lassen
Als Ahmad die inzwischen warmgewordene Ampulle in seiner Hand spürte, schauerte er erneut. Wieso zum Teufel hatte Jassim ihn überhaupt hier hereingelassen? Weil der Leibwächter froh war, dass jemand ihren Herrn im Auge hatte. Denn die Scheicha hatte sich auf Drängen von Dr. Scott in einem der Zimmer nebenan hingelegt. Er hatte ihr ein leichtes Beruhigungsmittel verabreicht. „Sie helfen ihrem Ehemann nicht, indem sie sich hier an seinem Bett zu Tode hungern oder an Schlaflosigkeit erschöpfen.“ Widerstrebend hatte sich Carina daraufhin geschlagen gegeben.
Die Frau namens Leila war wohl zum wiederholten Male hier am Bett eingeschlafen, weshalb Herr Hanif sie mitgenommen hatte, damit sie sich bei ihm ausruhen konnte. „Du brauchst unbedingt Ruhe“, hatte er resolut gesagt. Ahmad hatte sie vorher noch nie getroffen, offenbar war sie zum ersten Mal in Zarifa. Aber er hatte bereits so viel von ihr gehört, dass er die Begegnung mit ihr scheute. Diese Frau war nicht leicht zu täuschen. Umso wichtiger war es, dass es ihm gelungen war, genau in diesem Moment zur Stelle zu sein, als sie protestiert hatte, wer denn bei ihrem Herrn sein solle, wenn sie nun schlafen ginge. Herr Hanif hatte ihm sogar noch einen dankbaren Blick zugeworfen, als er sich daraufhin wie zufällig angeboten hatte!
Jassim hatte den Besucher gründlich nach Waffen durchsucht, trotzdem er ihn kannte, war er wie immer vorsichtig - zu Recht! Aber offenbar hatte der Leibwächter aber eher mit Messer oder Schusswaffen gerechnet, sodass ihm der kleine zylindrische Glasbehälter entgangen war. „Wofür ist ein Wachposten vor der Tür sinnvoll, wenn es einem Mörder so leicht gelingen konnte, sich alleine hier einzufinden?“, dachte Ahmad verzweifelt. Doch die Antwort lag auf der Hand: Er war einer der persönlichen Diener des Anführers. Eine ehrenvolle Aufgabe, die nur besonderen Menschen zuteilwurde. Ahmads komplette Familie hatte bereits seit Generationen ihr ganzes Leben dem jeweils amtierenden Scheich gewidmet. Wie sehr war sein Vater auf ihn stolz gewesen, als er vor zehn Jahren das Mannesalter von sechzehn erreicht hatte und sofort seine Pflichten im herrschaftlichen Haus aufnahm. Seitdem hatte er sich stets loyal verhalten, und kam daher in den Augen des Leibwächters als Verräter überhaupt nicht in Betracht.
„Tja, falsch gedacht. Doch mit ein wenig Glück wird Jassim seinen Fehler niemals bemerken“, dachte der Attentäter feige. Denn er hatte keineswegs vor, sich erwischen zu lassen.