Читать книгу Tod im Schilcherland - Isabella Trummer - Страница 7
2009
ОглавлениеNicht hinsehen.
Bloß nicht noch einmal hinsehen.
An etwas anderes denken.
Die Augen schließen und von hundert rückwärts zählen. Ja, genau. Oder das Alphabet auf Englisch aufsagen. Oder …
Er könnte noch viele andere Dinge tun. Dinge, die ihn nicht in Teufels Küche bringen. Den Teller mit dem Besteck vom Küchentisch nehmen und in der Spüle abwaschen, zum Beispiel. In seine Schlafkammer hinaufgehen und einen Comic lesen. Oder das Haus verlassen und schauen, ob der Totengräber schon nach Hause gekommen ist. Der hat vielleicht wieder eine Tierfigur für ihn geschnitzt. Oder in den Wald laufen, auf einen Hochsitz klettern und Vogelstimmen nachmachen.
Das alles kann er tun.
Stattdessen wird sein Blick immer wieder wie von einem Magneten zum Vorraum hingezogen. Die Küchentür ist offen, und er kann an der Garderobe die Jacke des Vaters sehen. Aus deren Tasche ein Stück eines Schlüsselanhängers herausschaut, ein weißes Plastikschildchen, auf dem ein Pfau abgebildet ist. Ein Teil der bunten Pfauenfedern lugt aus dem Stoff, er ist sich sicher.
Es war heute schon in der Früh warm. Wahrscheinlich hat der Vater die dünnere Jacke genommen und nicht an den Schlüssel in der Lodenjacke gedacht. So muss es gewesen sein. Also ist der Schlüssel jetzt hier. Keine fünf Meter von ihm entfernt.
Der Schlüssel. Der das verbotene Zimmer sperrt. In das nur der Vater hineindarf. »Wenn ich dich da drin erwisch, schlag ich dich tot«, hat Kajetan mehrfach zu ihm gesagt. Und er ist sich sicher, dass es keine leere Drohung gewesen ist.
Aber …
Was schadet es, wenn er einen Blick hineinwirft? Nur schnell die Tür aufmachen, sich kurz umsehen. Das wird der Vater gar nicht merken. Bestimmt nicht. Er wird den Schlüssel gleich wieder in die Jackentasche stecken, und alles ist wie vorher.
Genau.
Langsam geht er zur Garderobe, den Blick auf den Anhänger gerichtet. Ein Schauder überläuft ihn. Nein, er traut sich nicht. Wenn nur seine Schwester da wäre, die könnte Schmiere stehen. Aber Brigitte lebt nicht mehr, ebenso wenig wie seine Mutter und sein Vater. Also sein richtiger Vater. Kajetan Reinprecht ist sein Stiefvater, dem man zu gehorchen hat, wenn man nicht windelweich geprügelt werden will. Davon kann er ein Lied singen.
Trotzdem.
So eine Gelegenheit kommt wahrscheinlich nicht wieder. Wenn er jetzt zu feige ist …
Er schaut auf die Küchenuhr. Kurz vor halb fünf. Kajetan kommt frühestens um fünf Uhr nach Hause. Also hat er eine halbe Stunde. Mit spitzen Fingern nimmt er den Anhänger und zieht den Schlüssel aus der Tasche. Vor Aufregung vergisst er zu atmen. Soll er ihn gleich wieder in die Jackentasche versenken, oder soll er wirklich …?
Der Halbstundengong der Uhr gibt den Ausschlag. Er geht zum verbotenen Zimmer, steht vor der dunklen Eichentür. Seine schweißnassen Finger umkrampfen den Schlüssel. Wenn mir der Vater draufkommt!, denkt er noch, als seine Hand wie von selbst den Schlüssel ins Schloss steckt und nach rechts dreht. Das Klacken des Schlosses dröhnt ihm in den Ohren.
Er drückt die Klinke und öffnet langsam die Tür. Steht an der Schwelle, wagt es noch nicht, einzutreten. Das Zimmer wartet schweigend.
Er macht den ersten Schritt, sieht sich um. Er weiß nicht, was er erwartet hat, etwas Unerhörtes, Entsetzliches … jedenfalls etwas Geheimnisvolles. Doch er sieht nur ein ganz normales Zimmer. Ein ungemachtes Bett, daneben ein paar leere Bier- und Weinflaschen, einen Schrank, eine Kommode, einen Tisch mit einer leeren Vase drauf, davor ein Sessel. Das kleine Fenster hinter zugezogenen Vorhängen, die das Licht nur spärlich hereinlassen. An den Wänden ein paar Jagdtrophäen, auch nicht ungewöhnlich. Er weiß ja, dass Kajetan immer wieder einmal wildert.
Die Enttäuschung löst seine Anspannung. Er geht zum Kasten und öffnet die Doppeltür. Schwere Bergschuhe stehen auf dem Boden, darüber hängt Jagdkleidung auf Bügeln. In der linken Ecke lehnen zwei Jagdgewehre, im Fach darüber ein paar Schachteln Munition. Er schließt den Kasten wieder ab und geht zur Kommode.
Er zieht die Schubladen auf, findet aber nur Krimskrams, der ihn nicht interessiert. In der letzten Lade entdeckt er einen kleinen Holzkasten. Neugierig hebt er ihn heraus und betrachtet ihn von allen Seiten. Er ist abgesperrt, der Schlüssel steckt nicht im Schloss. Was da wohl drin ist? Seine Finger tasten die Lade ab, aber abgesehen von dem Holzkästchen ist sie leer. Er sieht sich im Zimmer um, doch es ist aussichtslos. Der Schlüssel könnte überall sein. Und die Zeit läuft. Vielleicht hat ihn der Vater ja auch mitgenommen.
Sein Blick fällt auf die Vase. Hm. Kajetan hat mit Blumen noch nie etwas am Hut gehabt. Er hebt die Vase an und schüttelt sie. Das helle Klirren des kleinen Schlüssels am Boden klingt wie eine Siegesfanfare. Er lässt den Schlüssel herausgleiten und sperrt das Kästchen auf.
Der Moment, in dem er den Deckel anhebt, verändert sein Leben für immer.
Regungslos sitzt er auf dem Boden und starrt auf die Bilder in seinen Händen. Das Gefühl für Zeit hat er längst verloren. Ein vertrautes Quietschen holt ihn zurück in die Wirklichkeit. Das Gartentor! Der Vater kommt heim! Er springt auf und stopft die Bilder wieder in das Kästchen. Mit bebenden Fingern schließt er ab, steckt es zurück in die Lade, schiebt diese mit einem Ruck zu. Der kleine Schlüssel muss in die Vase! Er stürzt zum Tisch, stößt in der Eile an die Tischplatte. Er versucht noch, die Vase zu packen, doch er ist zu langsam. Entsetzt sieht er sie vom Tisch fallen und in tausend Stücke bersten. Er kniet sich auf den Boden und wischt panisch die Porzellansplitter unter den Kasten. Den Schlüssel wirft er hinterher.
Raus aus dem Zimmer! Abschließen! Den Schlüssel in die Jackentasche zurückstecken! Schon hört er Kajetan auf die Haustür zustapfen. Er rennt in die Küche und entkommt durch das geöffnete Fenster. So schnell er kann, läuft er durch den Garten, doch seine Beine sind wie Gummi. Wo soll er hin? Er muss sich verstecken. Vor ihm liegt die Wiese, das kleine Haus des Totengräbers scheint unendlich weit weg, nirgends findet er Deckung.
Die Fliederbüsche! Er hastet seitlich am Garten entlang und wirft sich hinter den Büschen auf den Boden. Seine Lunge brennt, verzweifelt keucht er ins Gras. Hoffentlich hat ihn der Vater nicht gesehen! Hoffentlich war er schnell genug!
Vorsichtig hebt er den Kopf und späht zum Haus. Nichts rührt sich. Der Vater wird bestimmt in der Küche sitzen und sich die Suppe wärmen. Dabei wird er die Zeitung lesen, die Beine lang unter dem Tisch ausgestreckt. Wie viel Zeit bleibt ihm noch, bis der Vater bemerkt, was er getan hat? Er prüft den Stand der Sonne, sie geht bereits unter. Wenn er Glück hat, ist es dunkel, bevor Kajetan das verbotene Zimmer betritt.
Er dreht sich auf den Rücken und schaut in das Blau des Himmels, in das die müde Sonne noch ein paar orangefarbene Schlieren hineinmalt. Ja, so könnte es funktionieren. Im Schutz der Dunkelheit kann er es wagen, über die Wiese zum Haus des alten Totengräbers zu laufen und dort Schutz zu suchen. Der ist sein Freund. Aber was dann? Er muss untertauchen. Nur wie? Er ist noch nicht einmal vierzehn. Er hat kein Geld und nur das dabei, was er am Leib trägt. Man wird ihn suchen. Und finden. Und zu Kajetan zurückbringen.
Doch eine Rückkehr ist ausgeschlossen. Der Vater wird ihn umbringen, da ist er sich sicher. Er denkt zum tausendsten Mal an seinen Hund Lucky, der sein Ein und Alles gewesen ist. An den Tag, als der Vater ihn geschlagen und Lucky zugebissen hat. Er wollte ihn, sein Herrchen, verteidigen. Die Reaktion kam umgehend. Starr vor Entsetzen hat er zugesehen, wie Kajetan Lucky sein Jagdmesser in den Bauch gerammt und den Hund zum Hackstock geworfen hat. Nachdem die Tränen versiegt waren, hat er am Rand des Friedhofs ein kleines Grab geschaufelt. Als er Lucky begraben wollte, erwartete ihn der abgehackte Kopf des Tieres, auf einen Holzpfahl genagelt.
»Hier gibt’s nur einen Herrn«, hat Kajetan gesagt, und sein Blick hat sich in ihn gebohrt. Dafür wird der Vater eines Tages büßen, das hat er sich damals geschworen.
Für den Moment ist er jedenfalls sicher. Er wird die Dunkelheit abwarten, dann wird er sich etwas überlegen. Er seufzt. Die Panik ist gewichen und hat einer bleiernen Müdigkeit Platz gemacht.
Er schließt die Augen.
»Hab ich dich, du gottverdammter Hurensohn!«
Sein Arm wird hochgerissen, er spürt Kajetans Speichelspritzer in seinem Gesicht.
»Dir werd ich zeigen, was es heißt, mich auszuspionieren! Ich schlag dich tot, du elender Hundsfott!«
Kajetan zerrt ihn zum Haus, der eiserne Griff macht jede Flucht unmöglich. Als er um Hilfe schreit, legt sich die Pranke des Vaters über seinen Mund. Er wird ins Haus gestoßen, die Tür fällt mit einem Knall ins Schloss.
Am nächsten Morgen rückt die Feuerwehr an, um das Reinprechthaus zu löschen. Sie finden den Jungen auf dem Friedhof am Grab seiner Mutter. Er spricht kein Wort. Stunden später wird die verkohlte Leiche Kajetan Reinprechts in den Trümmern gefunden. Die kriminaltechnische Untersuchung ergibt Mord mit anschließender Brandlegung. Der Totengräber wird verhaftet und gesteht. Zum Motiv und zum Tathergang macht er keine Angaben. Zu der Tatsache, dass der Brandleiche der Kopf fehlt, schweigt er ebenfalls. Es kommt nie zu einer Verhandlung, denn ein paar Wochen später stirbt er an Bauchspeicheldrüsenkrebs.
Kajetans Schädel bleibt verschwunden.