Читать книгу Dort, wo der Mond liegt - Iselin C. Hermann - Страница 12
ОглавлениеMan gibt einen Laut von sich, daraufhin passiert etwas. So fängt eine Sprache an. Zuerst folgt auf das Weinen die Nahrung, später bedient man sich raffinierterer Methoden. Die Laute und Signale verfeinern sich, die Mahlzeiten werden abwechslungsreicher. Die erste Sprache, die man lernt, nimmt man weder als Laute noch als Signal wahr, sie wirkt einfach. Andere Sprachen, die man sich später aneignet, sind Wegkreuzungen aus Lauten und Signalen, Viadukte und Tunnels, Auffahrunfälle, unverständliche Schilder und Sackgassen. In einem Teil der Topographie der arabischen Sprache kann ich mich orientieren. Einige Wörter und Laute sind erkennbar und ebnen den Weg, aber auf einmal kann es stockdunkel werden in meinem Kopf, dann verstehe ich nichts mehr, und ich weiß plötzlich wieder, wie Arabisch klang, bevor ich es lernte. Es klang wie eine Zurechtweisung. So anmutig sich die Schriftzeichen auf dem Schild des Ladenbesitzers schlängeln, so unfreundlich klingen die Worte, die aus seinem Mund kommen.
Ein kleiner Junge kommt mit einem Zettel in den Laden. Kinder kann man oft schwer verstehen, weil ihre Stimmlage so hoch ist und sie so schnell sprechen. Er sagt ein paar Worte, die für den Ladenbesitzer einen Sinn ergeben, denn er gibt ihm eine Konservendose und eine Tüte mit etwas darin. Der Junge weiß noch nicht, daß es noch andere Sprachen in der Welt gibt, ja, er ist sich noch nicht einmal im klaren darüber, daß er eine Sprache spricht, ich beneide ihn um seine Unwissenheit. Der Laden hat zwar nur die Größe eines Besenschranks, aber auf dem Schild über der Tür steht »Supermarked«, jeder freie Platz ist ausgenutzt. Es gibt gerade genug Platz für den kleinen Jungen und den Ladenbesitzer. Ich gehe auf den Gehweg hinaus und warte. Der Glastresen bestand einmal aus einem Stück, und die Regale waren einmal grün. Instandhaltung ist im Arabischen ein Fremdwort. Wenn ein Haus einmal gebaut ist, dann ist es sehr gut, so wie es ist. Ein Fenster ist angestrichen, wenn man mit einem Pinsel darübergefahren ist und damit fertig. Sollte man sich doch entschließen, die Wände anzustreichen – ein glänzendes Hellblau würde sich zum Beispiel sehr gut machen –, dann kommt man nicht auf den Gedanken, Möbel und Fußboden abzudecken. Bis das Wachstuch, das auf dem Eßtisch liegt, eines Tages erneuert wird – inschallah –, wird es hellblau gesprenkelt sein. Die Möbel, das Ledersofa, die Rauchtische, die Blumen und der Boden bleiben für immer so.
»Saïd!« Der Ladenbesitzer ruft dem kleinen Jungen zur Tür hinaus nach und winkt ihn zurück. Seine Hand schaufelt durch die Luft. Das bedeutet »komm zurück«, die Bewegung würde ohne den Kontext unfreundlich aussehen.
»Saïd, komm zurück, du hast das Wechselgeld vergessen!«
Ein Nein hat auf arabisch auch eine rauhe Härte, bis man selber anfängt, sein Nein mit einem Anheben des Kopfes zu begleiten, und feststellt, daß man es genauer nicht ausdrücken kann, wenn man etwas verneint oder nicht haben möchte. Später bekommt man heraus, daß die Bewegung zu einem Anheben des Kinns minimiert werden kann, und noch später erkennt man, daß ein Zucken mit der Augenbraue als ein Nein genügt. Sogar ein Taxifahrer kann das Signal verstehen, wenn er hupt und damit anzeigt, daß er frei ist. Ein Heben der Augenbraue, und er fährt weiter.
Saïd kommt zurückgelaufen. Saïd, der Glückliche. Das bedeutet der Name. Viele Menschen gehen durch die Welt und bedeuten etwas: Morgentau, Inspiration, Schöne Lippen: Nadia, Ilham, Lamia. Karim, der Großzügige, Nabil, der Noble, und Majd, sowohl ein Jungen- als auch ein Mädchenname, bedeutet Macht. Ich bin ausgesprochen froh, daß ich nicht so heiße. Samia bedeutet die Erhabene. Ich habe meinen Namen immer gemocht. Den Klang, die beiden femininen A. Obwohl die Bedeutung mir manchmal das Gefühl gegeben hat, fern von den anderen zu sein. Die Erhabene. Die Distanzierte. In diesen Tagen hier fühle ich mich wie von einer Dampfwalze überfahren. Die Staunende, Verwirrte oder Überwältigte wären im Moment passendere Namen für mich. Die Fliehende.