Читать книгу Dort, wo der Mond liegt - Iselin C. Hermann - Страница 20
ОглавлениеBin ich schon ein ganzes Leben lang hier gewesen? Oder sind es drei Tage? Die ersten Tage an einem neuen Ort verändern den Blick auf die Zeit. Der Alltag ist wie der abgenutzte Teppich, der in der Türöffnung des Teppichhändlers hängt. Wenn er vorgezogen ist, bedeutet dies, daß er Kundschaft hat, und sitzt man drinnen und ist Kunde, sitzt man wie unter einem Zelt in der Wüste. Das ist die Funktion des Teppichs, niemand beachtet mehr die Farben, das Gewebe, die Muster. Er ist einfach da, nützlich und schon ganz dünn vom Gebrauch. Aber eigentlich ist er aus dem nordwestlichen Iran, es ist ein Sumach aus dem Ardabil-Stamm, vielleicht wurde er von einer Frau als Brautteppich gewebt? Der Teppichhändler vergißt völlig, daß er Teppichhändler ist und daß dieser Teppich nur ein alter Lumpen ist, der in der Tür hängt und nicht zu verkaufen ist.
»Schau doch den Detailreichtum an, es ist das Muster, das man Drachen nennt, es gleicht einem S, aber es ist ein Drache, schau mal die Ranken von stilisierten Blumen an und die hübsche Mandelform, von der manche glauben, sie sei ein Symbol für das Frühjahr, und die andere jedoch als Auge sehen. Das muß ein Pfau sein, wenn es auch eher einem Fuchs mit dem Schwanz zwischen den Beinen gleicht. Und die Farben. Wenn du sie richtig anschaust, siehst du, wie schön die rote und wie intensiv die braune Farbe ist.« Die Garne sind mit Naturfarben gefärbt, das Indigoblau war immer teuer, weil es von weither kam. Deshalb ist in dem Teppich, der in der Türöffnung hängt, auch nur wenig Blau. Man sieht die Details von etwas, was tagein, tagaus an der gleichen Stelle hängt, nicht mehr.
So ist es mit dem Alltag. Farben, Gerüche, Bewegungen und Begegnungen werden beim täglichen Gebrauch ausgewaschen. Wenn eine Reise einen dann in ein anderes Koordinatensystem schiebt, bekommt die Zeit wieder ihre eigentliche Fülle, und die ersten drei Tage füllen eine Ewigkeit.
Alles braucht in anderem Maß seine Zeit. Ein Vormittag rinnt einem wie Sand durch die Finger. Ich gehe hinunter zum Hamidiye Suq, um Geld zu wechseln, der Kurs hier ist immer noch günstiger als der offizielle. Ich bekomme Tee angeboten, Tücher werden von den Regalen geholt, Stoffe abgerollt, es wäre sehr unhöflich, sofort die Sache mit dem Geld anzusprechen. Die Schränkchen mit den Perlmuttintarsien sind auch hübsch, die Damaszenermesser, mit Schäften wie Pferdeköpfe, sind neu, ähneln aber den alten, die oben im Nationalmuseum in einem einzigen Durcheinander ausgestellt sind. Das hier ist zwar ein Laden, aber der Besitzer muß nicht unbedingt ein Geschäft machen. Nicht unbedingt. Zeit ist nicht Geld, aber die Zeit, die man mit anderen Menschen verbringt, bedeutet Reichtum. Ich war schon vorgestern hier, der Laden ist mir empfohlen worden, deshalb bin ich heute nicht irgendwer. Der Vormittag hat sich parallel verschoben, die Gewichtung ist ganz anders. Das mit dem Geldwechseln wird zur Nebensache, und es ist sinnlos, es hier eilig zu haben. Ich muß mich ständig in acht nehmen, es nicht zu eilig zu haben, auch wenn ich die alltäglichsten Dinge kaufe. Man muß sich begrüßen, Höflichkeiten austauschen, warten, schweigen, eine andere Frau wird auch bedient, neben der Bedienung, die schon stattfindet, und dann klingelt das Telefon. Es klingelt oft, sie lieben ihre Telefone, und erst als das Gespräch beendet ist und die Frau hinter mir bezahlt hat, bekomme ich, was ich gerne hätte. Und mir wird plötzlich klar, daß es besser ist, sich zu verirren, als den Weg zu finden. Die Dinge brauchen ihre Zeit, und es ist nicht wichtig, anzukommen. Ich werde ganz schwerelos davon, schwebend. Im Wasserpfeifencafé bin ich mit einem Mann ins Gespräch gekommen, der von einem Haus oben in Bab Tuma, dem christlichen Viertel, weiß, in dem Zimmer vermietet werden. Dorthin gehe ich morgen.