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3.Die Art und Weise der Leistungserbringung nach Treu und Glauben gem. § 242

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228§ 242 stellt eine der bedeutendsten Generalklauseln im Schuldrecht des BGB dar. Nach dieser Bestimmung ist der Schuldner verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben es mit Rücksicht auf die Verkehrssitte erfordern. § 242 grenzt also näher die Art und Weise der Leistungs­erbringung durch den Schuldner ein. Doch ist die Auslegung der Norm nicht darauf beschränkt. Vielmehr formuliert § 242 einen allgemeinen Rechtsgedanken.309 Diese über den Wortlaut der Norm hinausgehende Auslegung ist so gefestigt310, dass man keine weitergehenden Überlegungen dazu anstellen muss. Der Grundsatz von Treu und Glauben beherrscht infolgedessen das gesamte Rechtsleben, er gewinnt über das Schuldrecht hinaus Bedeutung. Im Kern verpflichtet dieses Prinzip jede Partei dazu, bei der Ausübung ihrer Rechte auf den anderen Teil und dessen berechtigtes Interesse Rücksicht zu nehmen. Damit soll gesichert werden, dass sich die Vertragsparteien bei der Art und Weise der Leistungserbringung oder der Leistungsannahme so verhalten, dass man im Zweifel von der Beachtung eines gewissen rechtsethischen Minimums oder von Billigkeitserwägungen ausgehen kann, die der Rechtsordnung zugrunde liegen. Insofern ist § 242 eine Grundnorm des rechtsstaatlichen Zusammenlebens.

229Mit dieser weiten und grundlegenden Auslegung dieser Norm ist nicht verbunden, dass der Richter im Wege einer umfassenden Vertrags- und Gerechtigkeitskontrolle überlegen kann, wie eine Leistungsbewirkung zu erfolgen hat. Er ist nicht frei in seiner Entscheidung, ob eine Leistung von ihm als billig und gerecht angesehen werden kann. Vielmehr muss er bei der Abwägung, ob die Leistungs­erbringung den Vorschriften des § 242 genügt, auch die Verkehrssitte berücksichtigen. Der Richter kann also keine willkürliche Einzelentscheidung treffen. Vielmehr muss er sich dann, wenn er zu beurteilen hat, ob sich eine Leistungserbringung durch den Schuldner oder eine Verhaltensweise des Gläubigers ausreichend an § 242 orientiert, danach richten, was die Rechtsordnung aus dieser allgemeinen Generalklausel des § 242 herleitet.

230Der Grundsatz von Treu und Glauben bedarf daher einer Konkretisierung. Im Laufe der Zeit haben sich deshalb einzelne Anwendungsfälle entwickelt. Die Wertung des § 242 gilt aber nur subsidiär. Je mehr die Parteien im Einzelnen nämlich bestimmen, wie eine Leistung zu erbringen ist, umso mehr grenzen sie auch den Grundsatz von Treu und Glauben ein. Denn dort, wo eine konkrete Regelung hinsichtlich der Leistungserbringung zwischen den Parteien getroffen ist, die sich im Rahmen der Rechtsordnung hält (insbesondere etwa im Rahmen des § 138), bleibt kein Raum für die Maßstäbe des § 242. Der Interessenausgleich über § 242 kann im Ergebnis nur als ultima ratio dienen – nur dann, wenn man anhand der schon angesprochenen entwickelten Anwendungsgrundsätze des § 242 zum Ergebnis gelangt, dass eine Leistungserbringung oder ein Ergebnis bzgl. der umstrittenen Leistungserbringung nicht billig und gerecht ist, kann eine Korrektur über § 242 erfolgen.311

231Ob man dann bei der Prüfung im Einzelfall die einzelnen Interessen und Wertungskriterien ausdifferenziert, man also Treu und Glauben auf der einen Seite und die Verkehrssitte auf der anderen Seite einzeln definieren und subsumieren sollte, ist fraglich. Nimmt man eine Differenzierung vor, wäre das Prinzip von Treu und Glauben als ein erster Schritt zu beachten, welches der Gewährleistung eines gerechten Interessenausgleichs dienen soll. Als zweites Kriterium kann die Verkehrssitte genannt werden. Hierbei handelt es sich nicht um ein normatives Kriterium, vielmehr ist einzubeziehen, was bestimmte Verkehrskreise als nennenswert ansehen.312 Hier können beispielsweise auch verschiedene Handelsbräuche einfließen.313 Doch im Ergebnis kommt es weniger auf eine genaue Differenzierung zwischen diesen beiden Wertungskriterien an, vielmehr ist für die konkrete Falllösung entscheidend, ob man eine Fragestellung einer der von Rechtsprechung und Lehre im Laufe der Zeit entwickelten Fallgruppen zuordnen kann. Dann kann in bestimmten Fragestellungen hinsichtlich der Art der Leistungserbringung an der jeweils zutreffenden Stelle der Falllösung auf die Wertung des § 242 zurückgegriffen werden.

232a) § 242 bei der Art und Weise der Leistungserbringung. Die Art und Weise der Leistungserbringung durch den Schuldner ist zwar regelmäßig durch die Parteien vereinbart worden, hilfsweise kann jedoch auch auf die subsidiären Normen des BGB zurückgegriffen werden.314 Doch für die konkrete Ausführung der Leistung ist selbst dann, wenn keine vertragliche Vereinbarung vorliegt, für den Schuldner unerlässlich, die Leistungserbringung nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte zu erbringen. Das bedeutet, dass er in diesen Fällen möglicherweise, etwa bei der fehlenden Vereinbarung über eine Leistungszeit, seine Leistung doch nicht, wie in § 271 vorgesehen, „sofort“ bewirken kann. Zwar ist dies eine subsidiäre Regelung, die prinzipiell eingreift, doch mag es sein, dass dem Gläubiger eine Annahme zu jeder Zeit unzumutbar ist.

Beispiel: Y kauft bei X eine Waschmaschine, ohne dass eine Lieferzeit vereinbart wird. Dann kann die Maschine sofort geliefert werden, wie aus § 271 BGB folgt. – Nun vereinbaren die Parteien, dass die Maschine am 10.6. vormittags geliefert werden soll. Ist nun etwa der Y aufgrund des Todes seiner Ehefrau an diesem Vormittag nicht in der Lage, die Leistung anzunehmen, wird man das Anbieten der Leistung zu diesem Zeitpunkt nicht als „ordnungsgemäßes Anbieten“ ansehen können, es liegt ein Anbieten „zur Unzeit“ vor. Y kommt also insbesondere nicht in Annahmeverzug, wenn er sich weigert, die Leistung anzunehmen, weil dies mit unzumutbaren Belastungen für ihn in dieser besonderen Situation verbunden wäre.

233Die sog. Leistung zur Unzeit ist ein Leistungsangebot, das gem. § 242 deshalb nicht ordnungsgemäß ist, weil es nicht gemäß den Vorstellungen von Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte erfolgt. Der Gläubiger muss zwar sofort mit der Leistungserbringung rechnen, aber es wäre treuwidrig, dem Schuldner eine Leistung auch dann zu ermöglichen, wenn dies dem Gläubiger nicht zumutbar ist.315

234b) Der Einwand unzulässiger Rechtsausübung. Über den Einfluss des Grundsatzes von Treu und Glauben auf die Art und Weise der Leistungserbringung hinaus hat sich die Vorstellung durchgesetzt, dass eine Rechtsausübung, die gegen die genannten Wertungsmaßstäbe verstößt, gem. § 242 unzulässig ist. Dem Gläubiger steht in diesen Fällen zwar eine formale Rechtsstellung zu, es ist ihm jedoch verwehrt, dieses Recht auch durchzusetzen. Ansonsten verstieße er gegen Treu und Glauben und die Verkehrssitte.

235Der sog. Einwand unzulässiger Rechtsausübung ist in verschiedenen Fallsituationen denkbar. Zum einen darf ein Gläubiger ein ihm zustehendes Recht dann nicht ausüben, wenn er damit dieses Recht zweckwidrig missbrauchen würde.316 Dieser Einwand des Rechtsmissbrauchs lässt sich besonders gut an dem Verbot der Teilleistung nach § 266 erkennen.

Beispiel: Zwar darf der Gläubiger nach dieser Vorschrift wie dargestellt Teilleistungen ablehnen. Doch selbst dann, wenn die Parteien nichts anderes vereinbart haben, wäre es rechtsmissbräuchlich, würde er dem Schuldner, der 99 von geschuldeten 100 Euro leistet, diese Teilleistung verwehren und sich dabei auf § 266 berufen. Denn ihm steht zwar formell dieses Recht zu, doch wäre die Berufung hierauf rechtsmissbräuchlich gem. § 242. Soweit sollte der Gläubigerschutz ersichtlich nicht gehen. Man würde also in der Falllösung grundsätzlich ein Recht des Gläubigers auf Ablehnung der Leistung bejahen, diesem aber die Berufung auf dieses Recht und damit die Rechtsdurchsetzung ausnahmsweise versagen, da die Geltendmachung gegen den Einwand des Rechtsmissbrauchs gem. § 242 verstieße.317

236Ebenfalls eine Fallgruppe des § 242 stellt die Situation dar, in der ein Gläubiger ein Recht deshalb nicht geltend machen darf, weil er sich dadurch in einen Widerspruch zu seinem früheren Verhalten setzen würde. Gemeint sind die Verhaltensweisen, die man lateinisch als „venire contra factum proprium“ bezeichnet.318 Durch sein früheres Verhalten hat der Gläubiger beim Schuldner eine Vertrauenssituation geschaffen, der zufolge dieser davon ausgehen durfte, dass der Vertragspartner sich nicht plötzlich anders verhält, als er zuvor angekündigt hat. Das wird besonders deutlich beim „sozialtypischen Verhalten“.319

237Ebenfalls kann der Gläubiger die Leistung dann nicht verlangen, wenn er diese dem Schuldner aus einem anderen Grund unmittelbar wieder zurückzuerstatten hätte. Hier heißt es „dolo agit, qui petit, quod statim redditurus est“, übersetzt: Rechtsmissbräuchlich handelt, wer etwas verlangt, was er sofort wieder zurückzugeben hat. Kurz gesprochen bezeichnet man diese besondere Situation auch als die „dolo agit“-Einrede.320 Der Schuldner muss also in diesen Fällen die Leistung, zu der er eigentlich verpflichtet wäre, nicht erbringen.

Beispiel: Der wegen Tierquälerei vorbestrafte A kauft beim Züchter B einen Neufundländerwelpen. A täuscht den B, der immer großen Wert auf tierliebe Käufer legt, über seine nicht vorhandene Tierliebe. Macht nun A einen Übereignungsanspruch aus dem Kaufvertrag geltend, obwohl schon feststeht, dass der Kaufvertrag scheitern wird – weil B nämlich erfolgreich gem. § 119 Abs. 2 anfechten kann –, ist B nicht verpflichtet, die Übereignung durchzuführen. Vielmehr kann er dem Übereignungsanspruch des A die „dolo-agit“-Einrede entgegensetzen. Denn A müsste den Hund ja ohnehin unmittelbar nach Erhalt aufgrund des Herausgabeanspruches des B aus § 985 bzw. § 812 wieder zurückübereignen. Daher kann der B die Übereignung auf der Grundlage des § 242 verweigern.321

238Schließlich ist hier, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen, eine weitere Fallgruppe zu nennen, nämlich diejenige der Verwirkung von Rechten. Gemeint sind Situationen, in denen der Anspruchsinhaber die Geltendmachung eines ihm zustehenden Gestaltungsrechts über einen langen Zeitraum unterlässt, obwohl er dazu in der Lage wäre (sog. „Zeitmoment“). Auf diese Weise schafft er nämlich bei dem anderen möglicherweise einen Vertrauenstatbestand, der darauf ausgerichtet ist, dass er dieses Recht auch in Zukunft nicht geltend machen wird (sog. „Umstandsmoment“).322 Wenn jemand solange sein Recht nicht wahrnimmt, etwa nicht zurücktritt, kann es gegen § 242 verstoßen, dies plötzlich zu tun. Ein Verstoß gegen Treu und Glauben liegt also vor, wenn der Vertragspartner aus dem Verhalten des Anspruchsinhabers schließen konnte, dass dieser sein Recht dauerhaft nicht ausüben werde und er sich entsprechend darauf eingestellt hat.323

Beispiel: Hat etwa der Arbeitgeber über längere Zeit ein Verhalten des Arbeitnehmers nicht zu einer Kündigung genutzt, kann er dieses Recht möglicherweise nicht mehr ausüben, wenn er in Kenntnis des Kündigungsgrundes untätig bleibt. Denn irgendwann wird der Arbeitnehmer darauf vertrauen können, dass der Arbeitgeber sein Verhalten nicht als kündigungswert ansieht.324

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