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ОглавлениеBremen. Stadtwerder
Davor
Ein Hauch von Verwesung. Süßlich und modrig. Er stieg aus der Kanalisation durch die Gullydeckel empor, vereinigte sich mit dem Geruch der Weser, die so wenig Wasser führte wie noch in keinem Sommer zuvor, und waberte schwer in der schmierigen Schwüle des Hochsommernachmittags. Über das Blau des Himmels hatte sich ein angegrautes Weiß gelegt, das trotz des Eindrucks von Schmutzigkeit grell in den Augen stach.
Hitze, Stille. Lethargisch, atemlos. Warten auf den großen Knall, das reinigende Gewitter, den erlösenden Regen.
Es hatte seit Wochen keinen Tropfen geregnet. Jeden Tag knallte die Sonne auf die Stadt und ließ die Menschen schmoren wie in einem Dampfgarer. Die Luft erhitzte sich auf fast 40 Grad im Schatten, und in den Nächten kühlte es kaum ab. Es wurde viel schwadroniert von einem Jahrhundertsommer, von Tropenhitze und Saharawinden. Jeden Tag meldeten die Medien neue Hitzerekorde und brachten Schauergeschichten von den Opfern der Temperaturen.
13. August, ein Donnerstag, Bremen.
An jenem Tag begann etwas, das wenig später Karstens Leben in Davor und Danach zerteilen wird wie mit einer Rasierklinge. Wie ein mit militärischer Präzision gezogener Scheitel.
Doch das weiß er in diesem Moment noch nicht, so wie Karsten im Moment sehr viel nicht weiß.
Karsten saß mit Lorenz direkt an der Weser am Strand des Café Sand und schwitzte. Abends wehte hier immer eine leichte Brise vom Fluss her. Doch jetzt am Nachmittag brannte die Sonne. Das Bier in den kleinen braunen Flaschen wurde schneller warm, als Karsten und Lorenz es trinken konnten.
Lorenz’ Handy piepste. »Die Mädels kommen«, sagte er nach einem kurzen Blick aufs Display. »Haben eine Überraschung für uns.«
»Aha. Und was?«
»Keine Ahnung. Überraschung eben.«
Lorenz und Karsten waren Freunde seit dem Kindergarten. Nach dem Abitur war Lorenz nach Heidelberg gezogen, um BWL zu studieren. Karsten war in Bremen geblieben und hatte halbherzig ein Jurastudium begonnen. Karsten sagte sich, dass die Entfernung ihre Freundschaft nicht verändert hätte, aber im Grunde wusste er, dass er sich da etwas einredete.
Nun waren Semesterferien. Lorenz war nach Bremen gekommen, um seinen Eltern Miriam vorzustellen, ein Mädchen, mit dem er seit Beginn des Sommersemesters zusammen war. Doch seine Eltern hatten den angekündigten Besuch vergessen und waren zum Golfen nach Schottland geflogen.
Wollte man Lorenz’ Eltern in einem Roman charakterisieren, dann müsste man nur diese Story erzählen, aber vermutlich würden dann alle denken: wie unrealistisch! Aber genau so waren Lorenz’ Eltern eben. Das hatte Karsten gedacht, als Lorenz und Miriam plötzlich vor ihm an der Gartenpforte standen.
Der Garten lag am Rande eines riesigen Parzellengebiets auf dem Stadtwerder, einer lang gestreckten Flussinsel in der Weser, mitten in Bremen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es den Gartenbesitzern wegen der Wohnungsnot erlaubt gewesen, kleine Häuser zum dauerhaften Wohnen hier zu bauen.
Die sogenannten Kaisenhäuser, benannt nach dem damaligen Bremer Bürgermeister Wilhelm Kaisen, standen noch immer. Wenn ein Eigentümer auszog oder starb, mussten sie eigentlich abgerissen werden. Fünf Jahre nach dem Tod von Karstens Großvater hatte sich noch keine Behörde gemeldet, also stand das Haus nach wie vor. Der Garten war, da sich niemand um ihn kümmerte, auf malerische Weise zugewachsen und verwildert, was gegen die Vorschriften des Kleingartenvereins war, aber zum Glück niemanden interessierte.
Karsten und seine Freundin Franziska verbrachten hier die heißen Augustwochen. Lorenz und Miriam mussten sich nicht lange bitten lassen und gesellten sich dazu.
Karsten wusste nicht, wo sein Vater den Sommer verbrachte, er tauchte jedenfalls nicht auf, und das war Karsten auch herzlich egal. Sein Vater ertrug es nicht, sich zu Hause in Bremen aufzuhalten, insbesondere nicht in dem großen alten Haus in Schwachhausen, in dem sich seine Frau das Leben genommen hatte, was er als Verrat empfand und als eine besonders niederträchtige Weise, ihn zu verlassen.
Bereits kurz nach ihrem Selbstmord, der in der besseren Bremer Gesellschaft für viel Klatsch und Tratsch gesorgt hatte, zog er sich von seiner Eigenschaft als Partner einer großen Kanzlei für Wirtschaftsrecht zurück.
Mit Vitamin B und dank des Todes eines Parteikollegen ergatterte er ein Bundestagsmandat und einen unwichtigen Posten in einem unwichtigen Ausschuss und verschwand aus Karstens Leben kaum weniger gründlich als kurz zuvor seine Mutter.
Wären nicht die monatlichen Überweisungen gewesen, die Karsten ein komfortables Leben ermöglichten, hätte er fast vergessen können, dass sein Vater noch lebte.
Sie fühlten sich vom Schicksal zusammengeführt, der Halb- oder eigentlich Quasi-Vollwaise Karsten, der von seinen Eltern versetzte Lorenz mit seiner Freundin Miriam, und Franziska, die den Sommer immer noch lieber in der stickigen Unibibliothek verbracht hätte, als zu ihrer Familie in den Harz zu fahren.
So ließen sie sich also zu viert durch den Sommer treiben, Franziska und Karsten, Miriam und Lorenz. Sie schliefen, bis die Hitze sie weckte. Sie hingen im Garten herum und tranken sich bereits nachmittags einen an. Sie gingen schwimmen im Werdersee, sie dösten zwischen den Bäumen, krochen dem Schatten nach, lauerten träge auf den Abend, machten die schwüle Sommernacht durch.
Plötzlich wurde es eine Spur kühler und dunkler. Als Karsten blinzelte, sah er, dass sich jemand zwischen ihn und die Sonne gestellt hatte. Die breite Silhouette vor dem blassen Himmel hatte die Arme in die Seiten gestützt und strahlte eine gewisse Bedrohlichkeit aus.
»Kasi! Renzo!«, sagte eine näselnde Männerstimme betont beiläufig. »Hätte ich mir ja denken können, dass ihr immer noch hier abhängt.«
Trotz der Hitze bekam Karsten eine Gänsehaut. Etwas in ihm begann sich zu verkrampfen. Es war Matze.
»Schau an, der Parvenü«, bemerkte Lorenz ebenso beiläufig.
»Leck mich, Renzo.«
Matthias Opdervelde war mit seinen Eltern zu Beginn der Oberstufe nach Bremen gezogen. Matzes Vater hatte sich vom einfachen Kaufmann zu einem der größten Konservenfabrikanten Deutschlands hochgearbeitet.
Über Lorenz’ Vater, spezialisiert auf die Vermittlung von Luxusimmobilien, hatte er sich und seiner Familie ein schlossähnliches Anwesen auf einem hektargroßen Parkgrundstück in Oberneuland gekauft. Da allen Opderveldes jegliches Gefühl für Understatement völlig fehlte, gingen sie bald ihrer Umgebung gewaltig auf die Nerven. In der Nachbarschaft, in den Klubs und Vereinen protzten sie so sehr herum, dass sich alle peinlich berührt abwendeten und niemand mit ihnen gesehen werden wollte. Auch Matzes Bemühungen um Anschluss und Freundschaften scheiterten über kurz oder lang an seinem übersteigerten Geltungsbedürfnis.
»Was machst du denn hier?«, fragte Karsten. »Ich dachte, du wärst jetzt in München.«
»Bin ich ja auch«, antwortete Matze. »Bin gestern mit einem Kumpel hochgefahren. Bin ich froh, aus dem Süden weg zu sein. Ihr glaubt nicht, wie heiß es dort war in den letzten Wochen.«
»Och, wir können auch nicht klagen«, warf Lorenz ein.
»Wir haben hier seit Wochen über 30 Grad«, fügte Karsten hinzu.
»Jaja«, fiel Matze Karsten ins Wort, »wir müssen jetzt nicht übers Wetter reden. Aber das hier …« Er breitete die Arme aus und ließ sie über Strand, Fluss und Menschen gleiten, »ist ein Scheiß gegen München. In München fühlt man sich wie im Dampfbad, jeden Tag, rund um die Uhr. Hier ist es richtig kühl dagegen.«
»Auch diesmal können wir nicht gegen dich anstinken, Matze«, sagte Karsten betont gelangweilt.
Matze winkte ab. »Ich sag ja nur, ihr könnt froh sein, nicht die Hitze im Süden erleben zu müssen. Das ist was ganz anderes, eine andere Liga, eine andere Klimazone.«
»Wir haben verstanden, Matze«, sagte Karsten. »Herzlich willkommen im Kühlschrank Deutschlands. Hoffentlich holst du dir keinen Schnupfen.«
Matze drehte sich suchend um die eigene Achse, winkte und pfiff mehrmals. Kurz dachte Karsten, er wolle einen Hund herbeirufen, doch dann tauchte ein Typ mit schwarzen zurück gegelten Haaren neben Matze auf. Er war nicht allein. Miriam und Franziska waren bei ihm. Sie trugen bunte, blumig gemusterte Sommerkleider, oben eng und figurbetont, unten weit und luftig. Karsten hatte die Kleider noch nie an den beiden gesehen.
Miriam ging direkt zu Lorenz und küsste ihn auf den Mund. Franziska setzte sich dicht neben Karsten, legte ihre Hand auf seine Brust und sagte: »Hallo, Schatz.«
Einen Moment herrschte Schweigen. Dann begann Matze meckernd zu lachen.
»Na so was!«, rief er laut. »Ich war ja echt gespannt auf die Freunde der beiden, aber dass das ausgerechnet ihr zwei Dünnbrettbohrer seid!«
Er klatschte sich grölend mit dem anderen ab, der etwas verdutzt daneben stand.
»Darf ich vorstellen, das ist Ricky, Kollege von der Uni in München. Ricky, sag hallo zu Kasi und Renzo, meinen alten Schulfreunden.«
»Hi«, sagte Ricky. »Ich bin Enrico, aber für dieses Genie hier ist der Name anscheinend zu anspruchsvoll.«
»Jaja«, winkte Matze ab. »Sei nicht so eine verdammte Pussy.«
»Stellt euch vor«, schaltete sich jetzt Miriam ein, »Matze und Enrico haben uns nach Sylt eingeladen, ist das nicht cool?«
»Und als wir gesagt haben«, warf Franziska ein, »aber nur mit unseren Männern, da haben sie sofort Ja gesagt, obwohl sie euch gar nicht kannten.«
»Aber ihr kennt euch ja doch!«, stellte Miriam fest. »Das ist ja umso besser.«
»Ja«, brummte Karsten, »ganz super.«
»Wenn ich mal aufklären darf«, sagte Matze. »Wir sind auf der Durchreise. Ich muss nach Sylt, nach unserem Haus dort sehen. Es ist eingebrochen worden, und jemand von der Familie muss dem Hausverwalter auf die Finger schauen, ihr versteht. Und als wir diese beiden bezaubernden Damen in der Stadt getroffen haben, haben wir sie kurz entschlossen gefragt, ob sie uns begleiten möchten. Wie ihr seht, sind eure Mädels begeistert von der Idee. Wenn ihr auch mitwollt, könnt ihr das gerne tun, aber ihr müsstet separat fahren, sechs Leute krieg ich nicht ins Auto. So ein Cayenne ist zwar geräumig, aber alles hat Grenzen.« Er meckerte erneut.
»Danke, kein Interesse«, brummte Karsten.
»Na dann, zu fünft passt’s!«
Miriam und Franziska wechselten Blicke.
»Also entweder kommen wir alle mit oder keiner.«
»Und natürlich fahren wir vier auch gemeinsam hoch«, fügte Miriam hinzu.
Was bedeutete: Karsten würde fahren müssen. Miriam hatte kein Auto, Franziska besaß einen 20 Jahre alten Polo, der schon bei Tempo 80 auseinanderzubrechen drohte, und Lorenz fuhr einen klassischen Mini Cooper, der nun wirklich zu klein war für vier Erwachsene mit Gepäck. Die einzige sinnvolle Möglichkeit war der Audi A6, die ehemalige Familienkutsche der Straußbergers, mit der Karsten gelegentlich durch die Gegend fuhr.
»Wir können auch einfach hier bleiben«, sagte Franziska leise zu Karsten, als Matze und Enrico bereits gegangen waren. »Wenn dir das mit Matze immer noch so viel ausmacht …«
»Nein, wir fahren!«, sagte Karsten bestimmt. »Soll er doch sehen, dass wir bessere Freunde sind, als er jemals hatte und haben wird. Aber wenn er es wagt, sich an eine von euch ranzuschmeißen, dann wird er bluten, dafür sorge ich!«
»Huch, wie männlich!«, sagte Franziska und lachte.
»Was ist denn los?«, fragte Miriam stirnrunzelnd, als sie Karstens Gesichtsausdruck bemerkte. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«