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ОглавлениеWesterland/Sylt. Nordhedig
Davor
»Wir haben noch Zeit, soll ich euch mal die Klinik zeigen, wo ich damals war?«, schlug Lorenz vor.
»Wenn die am Strand ist«, meinte Miriam.
»Und ob.« Lorenz’ Augen leuchteten, und gegen Strand sprach nun wirklich gar nichts, ganz im Gegenteil. Die Sonne knallte vom Himmel und brannte auf der Haut, viel intensiver als in Bremen, und der Himmel war von einem fast unnatürlichen Blau, in das man am liebsten eintauchen wollte. Noch dazu war es heiß und stickig in Karstens altem Audi, in dem die Klimaanlage den Außentemperaturen nicht Paroli bieten konnte.
Obwohl Karsten wusste, dass ein Großteil von Westerland aus hässlichen Wohnsilos aus früheren Jahrzehnten bestand, hatte er nach Lorenz’ Erzählungen eine romantische Vorstellung von der Klinik gehabt. Er stellte sich diese glücklich machende Asthmaklinik wie einen alten Bauernhof vor, umgeben von einigen in den Dünen verstreuten reetgedeckten Häuschen und selbstverständlich direkt am Strand gelegen. Doch dann sagte Lorenz plötzlich vor einem mehrgeschossigen rostroten Zweckbau in einer stinknormalen Nebenstraße mitten in Westerland, Karsten solle anhalten, sie wären da. Lorenz hatte noch immer sein seliges Grinsen im Gesicht. Er lief vorneweg, konnte es kaum erwarten, ein asphaltierter Weg, volle Fahrradständer, Dünen, dann Treppen, und dann fegte der Anblick alle Bedenken und schlechten Gefühle weg.
Die gleißende, von Meer und Strand reflektierte Nachmittagssonne ließ sie die Augen zusammenkneifen und die Hände schützend an die Stirn legen. Hier roch es nun auch tatsächlich intensiv nach Meer, sauber, feucht und salzig. Ehrfürchtig blieben sie stehen.
»Was wollt ihr denn nun? Rein oder raus?«, hörte Karsten eine Stimme neben ihm.
»Ich mach das schon«, beeilte sich Lorenz zu sagen und gab der schlecht gelaunten Frau, die sich aus der Dunkelheit eines hölzernen Kabuffs gemeldet hatte, einen Zehneuroschein.
»Das reicht nicht«, sagte sie.
»Oha«, lachte Lorenz und reichte ihr noch einen Zehner.
»Eintritt für den Strand?«, fragte Miriam ungläubig.
»Kurtaxe«, erklärte er. »Das nehmen die hier ganz genau.«
Über die wenigen Stufen einer Holztreppe stiegen sie hinab zum Strand, stapften barfuß durch den warmen weichen Sand und ließen sich neben den Resten einer Strandburg nieder, die von der nahenden Abendflut bald vollends weggespült werden würde. Eine Gruppe Kinder tobte um zwei Volleyballnetze herum, die am Strand aufgestellt waren. Zwei Frauen mit sonnengegerbten Gesichtern standen am Rand. Mit stoischem Blick ließen sie die Kinder gewähren.
»Na, willst du nicht deinen Kindergärtnerinnen hallo sagen?«, stichelte Karsten in Lorenz’ Richtung. Er ignorierte es.
»Wer als Erstes …«, rief Franziska, aber Miriam und Lorenz waren schon losgerannt wie aufgekratzte Kinder. Karsten hatte es gar nicht bemerkt, dass sich die anderen in Windeseile umgezogen hatten, während er noch immer mit der Badehose in der Hand das Meer anstaunte, überwältigt. So lange war er nicht mehr am Meer gewesen.
Mit beeindruckender Wucht brandeten die Wellen an den Strand, brachen und zerliefen dann schaumig und ohne Hast über den glattgewalzten Sand. Woher kam bei so ruhigem Wetter dieser Wellengang? Vielleicht war das hier immer so. War Sylt nicht genau dafür bekannt und beliebt? Schwere See, dachte Karsten plötzlich, schwere See, mein Herz. Dieses alte Lied von Element of Crime. Heilte das Meerwasser nicht Wunden? Konnte die Nordsee auch in einem drin alles rund und weich und glatt spülen wie die kleinen Scherben und Holzstückchen, die man an Stränden wie diesem finden konnte?
Franziska und Miriam quietschten, Lorenz und Karsten brüllten, das Wasser, kalt für diesen endlosen heißen Sommer, kälter als erwartet, prickelte wunderbar auf der Haut. Die dunklen Gedanken verschwanden, als wären sie nie da gewesen. Sie blieben so lange im Wasser, bis sie Gänsehaut hatten, tauchten immer wieder durch die Wellen und wurden von ihnen zurück an den Strand getrieben. Sie ließen sich lang im Sand ausgestreckt von der Sonne trocknen und wieder aufwärmen. Gegen halb sieben brachen sie auf, um das Ferienhaus von Matzes Familie zu suchen. Sie taten es ein wenig widerwillig.