Читать книгу Wahrheit oder Sylt - Jacob Walden - Страница 20

16

Оглавление

Bremen. Oberneuland

Lange davor

Matze hatte zu seinem 18. Geburtstag geladen. Die halbe Oberstufe des Gymnasiums sollte kommen, dazu noch ein paar blasierte Typen aus seinen Golf- und Tennisvereinen, die zu laut lachten und dünne blondierte Mädchen mit teuren Handtäschchen im Schlepptau hatten.

In der weiß gekiesten Auffahrt des Anwesens überreichten Matzes Eltern das Geburtstagsgeschenk an ihren Sohn: den Schlüssel zu einem dort postierten nagelneuen schwarzen Porsche Cayenne Turbo S mit Vollausstattung. Danach verzogen sie sich, um die Nacht im Parkhotel zu verbringen.

Der Pavillon lag im hintersten Winkel des weitläufigen Gartens, der eher ein Park war. Es war dunkel und ruhig, Grillen zirpten, und die Geräusche der Party, die Musik, die Stimmen waberten vom wechselnden Wind getragen mal leiser, mal lauter von der Villa herüber.

Karsten telefonierte mit Julia, wie immer um diese Zeit. Sie musste an jedem einzelnen Abend, an dem sie nicht bei ihm war, mit ihm telefonieren und ihm haarklein von ihrem Tag berichten, egal, ob etwas Interessantes passiert war oder – wie fast immer – nicht.

Karsten hatte die Gestalt nicht bemerkt und erschrak, als sie plötzlich vom dunklen Garten in den Pavillon trat und das Feuerzeugflämmchen ihr Gesicht erhellte.

Carina. Sie war eine Stufe unter ihm. Er kannte sie vom Sehen, hatte aber nie etwas mit ihr zu tun gehabt. Sie strahlte etwas Unkompliziertes, Ungekünsteltes aus, ein Kumpeltyp, Marke »Mädchen zum Pferdestehlen«.

Durch sein Zusammenzucken erschrak wiederum sie, wodurch ihr der dicke Joint, den sie gerade angezündet hatte, zu Boden und Karsten vor die Füße fiel. Er griff nach ihm und nahm einen Zug. Stark, scharf, intensiv. Er musste husten. Sie nahm ihm mit spöttischem Grinsen die Tüte aus der Hand. Karsten sagte ins Telefon, dass er aufhören müsse, und legte auf.

»Zu doll?« Carina lachte. »Ich dreh keinen Tabak mehr rein, weil ich mit Zigaretten aufgehört habe. Und in den USA machen das alle so.«

»Ach ja?«, stieß Karsten hervor, immer noch hustend. »USA?«

»Ja«, sagte sie, »war gerade dort für ein halbes Jahr. Die kiffen dort alle ohne Tabak.« Sie hielt eine Flasche hoch.

»Dom Pérignon«, bemerkte sie. »Aus dem Privatkühlschrank im Keller. Trinkst du mit?«

»Ich denke, das tut jemandem, der einen Cayenne zum 18. bekommt, nicht weh.«

»Keine Sorge. Davon geht Matzes Familie nicht pleite.«

Carina kicherte leise und ließ den Korken in den dunklen Garten ploppen.

»Und wo genau warst du in Amerika?«

»Kalifornien. Direkt an der Pazifikküste zwischen L.A. und San Diego.«

»Hört sich gut an.«

»Ja, Glück gehabt.« Sie nahm einen Schluck aus der schweren Flasche und reichte sie ihm. In ihren Augen fingen sich Reflektionen weit entfernter Partylichter und ließen sie glitzern.

»Meine Gastfamilie war total locker. Der Vater ist Surflehrer und hat mir Wellenreiten beigebracht. Die Mutter ist Künstlerin und hat ein Atelier direkt an der Strandpromenade. Sie hat ständig Partys veranstaltet, auf denen die schrägsten Typen rumgelaufen sind. Ab und zu haben sie sogar mit uns gekifft. Und es war überhaupt kein Problem, wenn ich oder meine Gastschwester einen Typen über Nacht mitgebracht haben. Es war alles sehr entspannt.«

»Du hast einen Freund dort gehabt?«

»Nicht wirklich, nur ein paar kleinere Sachen.«

Trotz der Dunkelheit konnte Karsten erkennen, dass sie lächelte. Sie inhalierte tief und ließ den Rauch langsam aus der Nase quellen. Wo der Rauch die Balustrade des Pavillons erreichte, wurde er vom entfernten Scheinwerferlicht der Partybeleuchtung in Nebelschwaden verwandelt. Wie im Film, dachte Karsten.

Es vibrierte in seiner Hosentasche. Er zog das Handy hervor. Julia. Er drückte sie weg und schaltete das Handy aus. Carina sah ihn etwas schräg an.

»Und du?«, fragte sie nach einer Weile. »Bist du immer noch mit Julia zusammen?«

Lag es an der Frage an sich, am Tonfall, sanft, zart, oder an der für Karsten überraschenden Tatsache, dass sie überhaupt wusste, mit wem er zusammen war? An diesen Augenblick konnte sich Karsten noch Jahre später genau erinnern, denn in diesem Augenblick passierte etwas, das sein bisheriges Leben auf den Kopf stellen sollte.

»Hmmm«, machte er bestätigend.

»Macht ja nichts«, sagte sie und lachte neckend. Dann legte sie ihren Kopf schief und den Arm um seinen Hals, zog ihn zu sich und küsste ihn. Er wehrte sich nicht. Keine Spur.

Sie schliefen miteinander, während der fast volle Mond durch die Baumkronen blinzelte und die ungebräunten Stellen an Carinas Haut, wo sonst der Bikini saß, weiß aufleuchten ließ. Mit Carina zu schlafen, fühlte sich für Karsten an wie für einen Polarforscher der erste Sonnenaufgang am Ende der monatelangen Polarnacht.

Nach dieser Nacht kam sie regelmäßig zu ihm nach Hause. Julia hatte ohnehin unter der Woche keine Zeit, sie lernte unglaublich viel, dazu Klavier, Volleyball, Ballett, Treffen der Evangelischen Jugend. Und so kam es, dass Karsten unter der Woche eine leidenschaftliche Affäre mit Carina hatte und die Wochenenden bei Julia und ihrer Familie verbrachte und sich auch darauf freute. Es war eine kleine spießige Idylle, das Reihenhaus in Borgfeld, das Kaffee-und-Kuchen-Ritual mit ihren Eltern, Cluedo mit ihrem kleinen Bruder, die Besuche bei der Oma im Nachbarhaus, Julias Zimmer unterm Dach, in dem alles niedlich und putzig, artig und fein, akkurat und sauber war, genauso wie in den schnulzigen Teenie-Serien, die in Dauerschleife auf ihrem altersschwachen VHS-Rekorder liefen. Alles zusammen gab ihm, dem wohlstandsverwahrlosten Waisen, jene Familie, die er so nie gehabt hatte, und genau das machte es Karsten unmöglich, mit Julia Schluss zu machen. Es fühlte sich an, als müsste er mit der ganzen Familie Schluss machen, der einzigen Familie, die er noch hatte, nachdem seine eigene implodiert war.

Zunächst schien das alles für Carina in Ordnung zu gehen. Doch eines Tages, es war inzwischen Dezember geworden und nichts hatte sich geändert, das zweite Adventswochenende stand vor der Tür, Karsten lag mit Carina vor dem offenen Kamin im Wohnzimmer seines Elternhauses in der Benquestraße, es roch nach Holzfeuer, Glühwein und Sex, und alles war schön, vielleicht viel zu schön, fing sie unvermittelt an zu weinen.

»Ich halte das nicht mehr aus«, flüsterte sie. »Die Wochenenden sind so scheiße!«

Karsten spürte einen Kloß im Hals. Das schlechte Gewissen, das sowieso immer rumorte, besonders an den Freitagen und Sonntagen, überrollte ihn, und er sagte zu Carina, dass er mit ihr zusammen sein wollte, nur mit ihr, dass er mit Julia Schluss machen würde, dass es ihm aber unendlich schwerfiele, weil er Julia nicht verletzen wollte, dass sie, Carina, noch etwas Geduld haben müsste. Sie nickte, sagte aber nichts und lächelte auch nicht.

In der Folgezeit stritten Carina und Karsten viel. Sie weinte fast jeden Tag, an dem sie sich sahen. Sie konnte nicht verstehen, dass er es einfach nicht schaffte, mit Julia Schluss zu machen, Karsten verstand es ja selbst nicht, er zweifelte an sich und seinem Verstand, verzagte an seinen Gefühlen und seiner Unfähigkeit. Die gemeinsamen Wochenenden wurden seltener.

Es war nicht die beste Idee, sich in dieser Lage Matze anzuvertrauen, aber es war die Zeit, in der Karsten und Lorenz zu seinem Freundeskreis gehörten. Matze begriff herzlich wenig von Karstens seelischen Zwickmühlen, pfiff nur anerkennend durch die Zähne und sagte, er solle den Status quo genießen und es sich selbst nicht so schwer machen, heiraten wolle er ja wohl beide nicht, Karsten solle seinen Spaß haben. Die Erinnerung an Matzes Worte ließ Karsten noch heute die Faust in der Tasche zusammenballen. Und Matzes Verrat nur kurze Zeit später erzeugte einen abgrundtiefen Hass in Karsten, nicht auf Carina, er konnte sie nur zu gut verstehen, aber auch nicht nur auf Matze, sondern am meisten auf sich selbst.

Wahrheit oder Sylt

Подняться наверх