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Bremen. Stadtwerder

Davor

Nachdem Matze und Enrico gegangen waren, waren auch Franziska, Miriam und Lorenz nicht mehr lange geblieben. Eine Geschäftigkeit setzte ein, die Karsten gegen den Strich ging. Alle hatten noch dies und das zu erledigen für die Fahrt nach Sylt am Tag darauf. Er nicht. Ein paar Sachen achtlos in eine Reisetasche zu werfen, hatte nicht mehr als zwei Minuten gedauert.

Am Himmel hingen nun dunkle Wolken. Selbst direkt am Fluss ging kein Wind mehr. Bleiern schwer stand die schwüle Luft zwischen Häusern und Bäumen. Karstens Klamotten klebten auf der Haut. Die elektrische Spannung schien auf beinahe haptische Weise greifbar zu sein.

Mit einem Bier setzte er sich auf den verdorrten Rasen im Schrebergarten. Allein zurückgelassen, ohne die anderen, fühlte sich Karsten leer und verlassen. Er dachte über den Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit nach und war sich nicht schlüssig, welcher Begriff seine Befindlichkeit besser beschrieb. Auf jeden Fall hatte ihm die Begegnung mit Matze die Stimmung versaut, und die Aussicht auf ein Wochenende in seiner Nähe, in seinem Haus, von seinen Gnaden sozusagen, machte es noch schlimmer. Er hätte sich nicht so schnell breitschlagen lassen sollen. Oder?

Er sah Lorenz vor sich, wie er vorhin mit roten Flecken an Hals und Wangen am Strand vor dem Café Sand gesessen war. Aus Vorfreude und vor Aufregung, das war Karsten klar. Er wusste über Lorenz’ Erinnerungen an Sylt Bescheid. Die besten Sommerferien überhaupt seien es gewesen, damals, als er mit 16 wegen seines Asthmas in eine Rehaklinik für Kinder und Jugendliche geschickt worden war. Viel besser als die üblichen Ferien, in denen er sich mit seinen Eltern in Fünf-Sterne-Klubanlagen auf den Malediven oder Seychellen zu Tode langweilte. Auf Sylt hatte er sich das erste Mal frei und erwachsen gefühlt. Die meisten Patienten wirkten nicht schwer krank, so dass es sich mehr wie in einem Ferienlager als in einem Krankenhaus anfühlte.

Lorenz lernte ein Mädchen aus Süddeutschland kennen, küsste sie bei Sonnenuntergang am Meer, und in der letzten Nacht stahlen sie sich davon, um in einem Strandkorb miteinander zu schlafen. Es war nicht ihr erstes Mal, wohl aber seins, und natürlich würde er das nie vergessen. Und so würde Sylt auf ewig in Lorenz’ Erinnerung ein nostalgisches und verheißungsvolles Leuchten behalten. Wollte Karsten also seinem besten Freund die Gelegenheit rauben, nach Sylt zu fahren?

Die Welt schien vor gespannter Erwartung die Luft anzuhalten. Eine unwirkliche Stille hing zwischen den reglosen Wipfeln der Bäume. Der Himmel hatte sich immer mehr verdunkelt. In der Ferne, irgendwo über Niedersachsen, zuckten vereinzelte Blitze, ohne dass ein Donnern folgte.

Plötzlich kam Wind auf. Modrige und doch frische Luft wehte um Karstens Nase. Eine Ahnung von Kühle streichelte seine Haut und richtete die Haare auf seinen Unterarmen auf. Die ersten Tropfen klatschten dick und schwer auf den Boden. Dann riss der Himmel auf, als hätte jemand einen Knopf gedrückt, und eine Sintflut prasselte auf ihn herunter. Binnen weniger Sekunden war er komplett durchnässt. Ein Hochgefühl stieg in ihm auf. Das Gefühl von Einsamkeit oder Alleinsein verwandelte sich in Freiheit, in Glück. Einem Impuls folgend, riss er sich die durchgeweichten Klamotten vom Körper, sprang wie durchgeknallt nackt durch den Garten und ließ den Regen den Schweiß von seiner Haut waschen. Kleine Pfützen bildeten sich auf dem Rasen.

Als er die Gestalt bemerkte, fuhr er erschrocken zusammen.

Wahrheit oder Sylt

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