Читать книгу Wahrheit oder Sylt - Jacob Walden - Страница 15
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ОглавлениеMiriam fluchte. Ausgerechnet jetzt, auf dem kurzen Weg zwischen dem Fähranleger am Café Sand und dem Garten musste ein Wolkenbruch über ihr niedergehen. Binnen weniger Sekunden war sie völlig durchnässt. Immerhin hatte sie noch schnell die Regenpelerine über den großen Tourenrucksack ziehen können.
Sie hätte bei Lorenz bleiben sollen. Dann hätten sie jetzt miteinander in einem Laden oder einem Café den Starkregen vorbeiziehen lassen können. Nachdem sie ihre Wäsche in einem Waschsalon in der Stader Straße gewaschen und getrocknet hatten, wollte Lorenz unbedingt ein paar Klamotten einkaufen gehen. Doch Miriam war müde und wollte möglichst schnell zurück.
Sie stürmte durch den kleinen versteckten Seiteneingang in den Garten und duckte sich unter die hohen alten Bäume. Hierhin war der Regen noch nicht ganz durchgedrungen. Es tröpfelte nur ganz schwach durch die Baumkronen.
Lächelnd betrachtete sie den Baumstumpf, auf dem sie und Lorenz sich in den letzten Wochen fast täglich geliebt hatten. Ja, geliebt! Sie hatte diesen Begriff für Sex immer albern gefunden. Liebe war eine Sache, Sex eine andere, am besten kam beides zusammen, aber eben nicht zwingend. Doch seit sie mit Lorenz zusammen war, hatte sich tief in ihr etwas verändert. Lorenz war so ganz anders als ihre bisherigen Freunde. Er war nach den gängigen Maßstäben kein schöner Mann. Er war zu dünn für seine Größe, sein Haar wurde bereits schütter, die leicht gebogene Nase dominierte zu sehr das schmale Gesicht. Seine Bewegungen waren linkisch. Aber vielleicht fühlte es sich genau deshalb, wegen des nicht perfekten Äußeren, so tief und echt an, wie sie es bisher nicht gekannt hatte.
Miriam war es gewohnt und hatte nichts dagegen, dass viele Männer sie anstarrten, ihre Beine (die zu lang waren, um perfekt sitzende Jeans zu finden), ihren Hintern (der ruhig etwas runder hätte sein können), ihre Brüste (die sie selbst etwas zu groß fand) und ihre blonde Löwenmähne (zu kraus).
Lorenz hingegen hatte ihr zunächst kaum ins Gesicht, geschweige denn woandershin sehen können, damals, als sie sich auf dieser öden Semestereröffnungsparty über den Weg gelaufen waren.
Nach diesem Abend dauerte es ganze drei Monate, bis sie das erste Mal miteinander schliefen. So lang hatte sie zuletzt mit 15 bei ihrem allerersten Freund gewartet. Nachdem sie sich das erste Mal geliebt hatten (auf der überaus beengenden Rückbank seines Minis, was sie erneut ans 15-Sein erinnerte), war sie versucht gewesen, ihn zu fragen, ob das gerade sein erstes Mal gewesen war. Aber sie traute sich nicht.
Er streichelte sie so sanft und betrachtete ihren Körper wie eine wertvolle Skulptur. Und in diesem Sinne betrachtete sie von da an auch seine behutsame Art: als Kunstwerk, als Wunder, als Kostbarkeit. Miriam hatte Angst, mit Fragen nach Ex-Freundinnen und Sex etwas zu zerstören, also ließ sie es einfach sein. Das war ihre Art, ihm die ihr entgegengebrachte Behutsamkeit zurückzugeben.
Ansonsten war Zurückhaltung schnell Schnee von gestern, und Miriam lernte eine ganz neue Vertrautheit kennen, die sie zu ihrer Verwunderung nicht langweilte, sondern Liebe entstehen ließ, tief und rein und echt und das erste Mal in ihrem Leben.
Unter den Eschen wurde es immer ungemütlicher. Der Regen hatte sich seinen Weg durch die Zweige und Blätter gebahnt. Miriam fröstelte und sah an sich hinunter. Das weiße Oberteil klebte fast transparent am Körper. Egal. Karsten würde es verkraften. Er hatte sowieso schon viel mehr gesehen, genau hier, unter den Eschen.
Einerseits hatte ihr das gefallen. Sein fassungsloser Blick. Sie hatte gesehen, wie es ihn erregt hatte. Seine Shorts hatten es nicht verbergen können. Andererseits hatte sie ihn schon zuvor immer wieder dabei ertappt, wie er sie angestarrt hatte.
Diese Blicke, dieses Glotzen kannte sie nur zu gut, und es irritierte sie. Sie waren in diesem Sommer zu viert so sehr zusammengewachsen, dass ihr jeder Gedanke, der gleichzeitig Karsten und Sex beinhaltete, wie Inzest vorkam.
Miriam schlüpfte unter einem niedrigen Ast hindurch und drückte sich mit dem klobigen Rucksack zwischen einer Hecke und dem morschen Schuppen vorbei. Nun lagen die Wiese und das kleine Haus vor ihr.
Es regnete noch immer in Strömen. Sie wollte gerade leicht gebückt und so schnell wie möglich zur Haustür rennen, da stutzte sie. Sie sah, wie sich Pfützen auf dem Rasen gebildet hatten. Und sie sah Karsten. Mitten auf dem Rasen stand er, nein, er stand nicht, er sprang herum, oder tanzte er? Auf jeden Fall hatte er nichts an. Er war splitterfasernackt.