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Prolog

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Sylt

Siebeneinhalb Monate danach

Seinen Trolley hinter sich her ziehend, verlässt er das winzige Flughafengebäude und tritt in den bleichen Sonnenschein, der sich noch nicht wie Frühling anfühlt. Kalt und feucht weht ihm der Wind ins Gesicht. Er fröstelt. Stets ist er aufs Neue überrascht, dass es hier so viel kälter ist als in Zürich – oder es einem zumindest so vorkommt. Wie so vieles anders scheint, als es ist. Die Wahrheit interessiert auf Sylt nicht, nur der Schein, der schöne Schein.

»Verdammte Nordsee, verdammte Insel«, murmelt er. Ginge es nach ihm, wäre sein erstes Mal auf Sylt vor zehn Jahren auch sein einziges Mal geblieben. Und eine sündhaft teure Villa in diesem grausigen Kampen hätten sie schon gar nicht gekauft.

Aber es geht nicht nach ihm, sondern nach Monika, seiner Frau, seiner Gattin, Herrin und Gebieterin, Walküre und Xanthippe.

Monika liebt die Insel, die raue Nordsee, den endlos langen Strand und den steten Wind, der ihr den Kopf frei blase, wie sie nicht müde wird zu betonen, und natürlich die exklusiven Boutiquen und Restaurants, in denen sie ihre Kreditkarten strapaziert, und die »Hobbithäuschen«, wie sie die reetgedeckten Anwesen nennt.

Ihm persönlich ist es schleierhaft, warum so viele Leute einen Narren an Sylt gefressen haben, trotz des unberechenbaren Wetters, das er nur als lästig empfindet.

Normalerweise fliegt er ausschließlich mit Monika und – sofern diese Lust hatten – seinen halbwüchsigen Kindern zwei Wochen in den Sommerferien hierher. Zum Glück kann er diese Aufenthalte mit geschäftlichen Treffen verbinden, sonst hätte er längst Depressionen bekommen.

Doch heute ist Monika weit weg und er trotzdem hier, tatsächlich das erste Mal ohne sie. Das hat sie nun davon. Hinter ihm kommt seine Praktikantin auf hohen Absätzen aus dem Flughafengebäude getrippelt.

Angelina ist sehr jung, sehr blond und sehr sexy und erst seit Kurzem in seiner Abteilung. Kurz entschlossen hat er sie gefragt, ob sie ihn auf eine Dienstreise nach Sylt begleiten wolle. Zunächst hat sie sich geziert. Fast schien es, als habe sie etwas gegen Sylt, was er ja gut nachvollziehen könnte. Im Grunde findet er mädchenhafte Zurückhaltung sehr erotisch. Es macht die Reise umso reizvoller. Sein Jagdinstinkt ist nach langer Zeit wieder zum Leben erwacht. Wann hat er dieses Gefühl das letzte Mal verspürt, diese Begierde gegen Widerstände?

Er hat ihr von seinem luxuriösen Anwesen in Kampen erzählt, von teuren Restaurants, und in Aussicht gestellt, ihr als Dankeschön für ihre Begleitung eine kleine Aufmerksamkeit von Bulgari zu schenken. Außerdem könne er sie dann gleich bei seinen dortigen Geschäftsfreunden und einigen besonderen Kunden einführen, das sei doch eine tolle Gelegenheit für sie. Daraufhin willigte sie mit einem verlegenen Lächeln ein.

Wenn alles glatt liefe, würde er noch etwas ganz anderes einführen, denkt er und grinst, als sie auf die Rückbank des Taxis gleiten.

»Kampen«, instruiert er den Fahrer. »Sie können uns am Ende des Wattweges absetzen.«

Die Reise ist nicht geplant gewesen, aber notwendig geworden. Er hat nicht mehr einfach so tun können, als sei alles in Ordnung. Seit zwei Monaten ist die halbjährliche Abrechnung seines Hausverwalters überfällig. Wahrscheinlich ist dieser schmierige Typ einfach abgehauen. Er hatte bei dem Kerl von Anfang an ein ungutes Gefühl gehabt, aber auf dieser Insel war es ja leichter, einen echten Piratenschatz zu finden als gutes Personal.

Angelina seufzt versonnen und drückt ihr Gesicht an die Scheibe, obwohl sie noch nicht einmal das Flughafengelände verlassen haben. Während des Flugs sind sie mithilfe einer kleinen Flasche Champagner zum Du übergegangen. Das ist doch schon mal ein Schritt in die richtige Richtung, denkt er. Er wird ihr natürlich eines der Gästeschlafzimmer anbieten. Sie solle sich das beste aussuchen, wird er sagen, das schönste sei gerade schön genug für sie. Sie wird leicht erröten, so wie immer, wenn er ihr ein Kompliment macht. Und nach dem Dinner in der Sansibar (vielleicht Fondue? Oder doch besser ein Menü? Hauptsache, viel Wein dazu!) würde das Bett im Gästezimmer kalt bleiben. So sein Plan.

Die Wattseite Kampens liegt ausgestorben da, wie fast immer. Er kennt es gar nicht anders. Selbst im Hochsommer ist kaum jemand auf den Straßen, in den Gärten, vor den Häusern zu sehen. Doch nun wirkt alles noch viel verlassener. Als hätte eine nukleare Katastrophe alles Leben vernichtet und nur die Kulissen stehen gelassen, denkt er.

Das Schloss des taubenblau gestrichenen Hoftors klemmt. Korrosion, Flugrost, lange nicht geölt? Er runzelt die Stirn. Doch was hat er erwartet? Warum ist er denn hergekommen, mal abgesehen davon, um seine Praktikantin flachzulegen? Auch Angelina sieht mit Befremden auf das verwelkte Unkraut vom Vorjahr, das sich vor dem Hoftor sanft im Wind wiegt.

Höchstwahrscheinlich hat der Hausverwalter bei ihm und seinen anderen Kunden alles ausgeräumt, was sich zu Geld machen ließ, und sich nach Kolumbien oder Mexiko abgesetzt. Der Typ hatte ihm mal erzählt, woher sein Vater stammt, aber es interessierte ihn so wenig, dass er es im selben Augenblick schon wieder vergessen hatte.

Trotz dieser Erwartungen verschlägt es ihm fast den Atem, als das Hoftor endlich quietschend aufschwingt. Der einstige Golfrasen hat sich in eine buschige Wiese verwandelt. Die Hecken haben zig wilde Triebe gebildet, armlang zittern die Zweige im Wind. Das Fähnchen, das das Hole seines kleinen Putting-Greens markiert, ist umgefallen. Ein undefinierbarer Haufen, der sich bei näherem Hinsehen als ein kopfloser ausgeweideter Vogel entpuppt, liegt mitten in der Einfahrt.

Scheiß Katzen, elende Drecksviecher, denkt er und dreht Angelina schnell in eine andere Richtung. Ihr Gesichtsausdruck wird mit jeder Sekunde skeptischer, ihr sonst wie in Stein gemeißeltes Lächeln ist mehr und mehr nervöser Anspannung gewichen.

Er schämt sich. Verdammt, da bezahlt er diesem Carlos ein kleines Vermögen, jahrein, jahraus, damit immer alles picobello gepflegt ist, für den Fall, dass jemand spontan vorbeikommt, und nun, da dieser Fall das erste Mal überhaupt eintritt … Aber was hat er auch erwartet?

Hastig bugsiert er das Mädchen weiter in Richtung Haustür. Doch auf halber Strecke erstarrt er. Es muss etwas passiert sein, da ist er sich plötzlich ganz sicher. So einfach, dass Carlos sich abgesetzt hat, kann des Rätsels Lösung nicht sein. Das würde nicht erklären, was er jetzt sieht. Er lässt Angelina stehen und geht langsam, Schritt für Schritt, auf den Carport zu.

Der nicht mehr ganz neue – und deshalb nach Sylt degradierte – Porsche Cayenne steht da wie immer im Carport zwischen dem halben Klafter Kaminholz und den Mülltonnen, und doch ist etwas anders, unnormal. Sein Herz pocht. Angst legt sich wie zu enge Metallbänder um seinen Brustkorb.

Er starrt auf den vor Staub und Salz stumpf gewordenen Lack, auf den Möwendreck auf Dach und Scheiben. Verdammt, was haben diese geflügelten Ratten überhaupt in seinem Carport zu suchen? Ist es nicht mehr als genug, wenn sie draußen alles voll kacken? Was wird er im Inneren des Wagens entdecken? Ist da nicht irgendetwas hinter den abgedunkelten Scheiben des Fonds?

»Warum steht denn die Autotür offen?«, hört er Angelina hinter sich fragen. Ihre Stimme kiekst, und als er sich zu ihr umdreht, erkennt er ein nervöses Zucken in ihrem Gesicht. Just in diesem Moment flattert ihm etwas ins Gesicht, er schreit auf, schlägt um sich, taumelt zurück, eine Möwe fliegt kreischend in Richtung Watt davon. Sein Herz rast wie wahnsinnig. Er starrt auf die offen stehende Tür, auf den Vogelkot, der auch die hellbraunen Ledersitze über und über bedeckt, auf die Schatten auf den Rücksitzen. Und dann riecht er es. Er muss nicht mehr nachsehen, er weiß, was er im Inneren des Wagens sehen wird.

»Hast du dich verletzt?« Ihre Stimme scheint weit weg zu sein, er nimmt sie kaum wahr. Sie steht neben der offenen Fahrertür. Er will sie warnen, er will sie beschützen vor dem zu erwartenden Anblick, er stürzt zu ihr, doch zu spät, er kann sie nicht mehr davon abhalten, einen Blick in den Wagen zu werfen. Er muss sich abstützen, um nicht zusammen mit Angelina in den Wagen hineinzustürzen, seine Hand landet in einem dunklen, verkrusteten Fleck auf der Sitzfläche des Fahrersitzes, hastig rappelt er sich auf und sieht nun, was die ewig gierigen Möwen von den Gestalten auf den Rücksitzen übrig gelassen haben. Und dann fängt er an zu schreien, wie er noch nie zuvor in seinem Leben geschrien hat.

Wahrheit oder Sylt

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