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Westerland/Sylt. Nordseeklinik

Danach

Die Mauern der Klinik haben die Hitze der letzten Wochen gespeichert. Jenseits der Automatiktüren ist die Luft dagegen überraschend kühl und feucht. Es rauschen der Wind und das Meer, es muss ganz nah sein, vor dem tiefblauen Abendhimmel ein paar Möwen, kreischend. Es dämmert.

Karstens Augen scannen die geparkten Autos. Er braucht keine zwei Sekunden, um zu erkennen, dass sein Auto nicht im Innenhof der Klinik steht. Was nun?

Karsten muss sich zwingen, nicht loszurennen. Bloß nicht auffallen, ganz langsam gehen, egal wohin, Hauptsache weg. Haben sie auf Station schon bemerkt, dass er abgehauen ist? Suchen sie bereits nach ihm?

Er erreicht einen schmalen Mauerdurchlass, dahinter ein gläserner Unterstand. Ein übervoller Aschenbecher qualmt bedrohlich vor sich hin. Zwei Männer um die 70, unrasiert, schmuddelige Bademäntel, ausgetretene Hausschuhe. Sie verstummen mitten im Satz und starren ihn an. Er nickt. Einfach weitergehen.

Ein Nebengebäude, heruntergekommen, Fahrräder in unterschiedlichen Stadien des Verfalls. Ein dickes Mädchen in weißer Schwesternkleidung rennt aus der offen stehenden Tür und in Karsten hinein. Eine Entschuldigung murmelnd, hetzt sie weiter.

Als Karsten die Straße erreicht und auf dem breiten Radweg steht, hat er das Gefühl, bereits einen Marathonlauf hinter sich zu haben. Ein Polizeiwagen nähert sich von links. Karsten wendet sich nach rechts und biegt nach wenigen Metern erneut rechts ab auf einen asphaltierten Fahrweg. Hinter ihm rauscht der Polizeiwagen ohne zu bremsen vorbei.

In dem schmucklosen Neubau auf der rechten Seite des Weges, hinter einem der jalousiebewehrten Fenster im ersten Stock des Krankenhauses, muss er gerade noch gelegen haben. 200 Meter weiter leuchtet etwas hell in den Nachthimmel hinauf, gegenüber erkennt Karsten die Kiefern, die er durch die Lamellen der Jalousie gesehen hat.

Miriam. Hinter welchem Fenster ist sie? Vielleicht würde sie ihm sagen können, was in der letzten Nacht passiert ist. Aber auch wenn nicht, muss er sie da rausholen. Wenn er abhauen muss, muss sie es doch genauso!

Wer hat sie an dieser Bushaltestelle bewusstlos abgeladen, mitten in der Nacht, wie illegalen Sperrmüll? Das wird Miriam wahrscheinlich auch nicht wissen. Eigentlich müssen es ja die anderen gewesen sein. Aber warum? Oder ist alles ganz anders gewesen? Ist Miriam mit ihm zusammen weggegangen, geflohen sogar? Sind sie vielleicht sogar selbst in das Wartehäuschen der Bushaltestelle gegangen und dort einfach eingeschlafen? Aber warum in Wenningstedt?

Der Fahrweg endet an einem weiteren Radweg, dahinter Dünen. Von Westen aus betrachtet sieht die Klinik eher wie ein Hotel aus. Balkon an Balkon, weiße Handtücher über den Brüstungen, träge flatternd im Wind. Das Meer rauscht hier noch lauter von jenseits der Dünen.

An der nächsten Ecke stößt Karsten erleichtert auf eine große Freifläche, rechts die Klinik, links wieder ein Wäldchen. Der Platz ist komplett zugeparkt. Schon in der ersten Reihe, am westlichen Rand des Platzes, unter der tief hängenden Krone einer windschiefen Schwarzkiefer, findet er den Audi. Er kann gar nicht schnell genug die Fahrertür öffnen. Er lässt sich auf das zerschlissene Leder des Fahrersitzes fallen und atmet die stickige wunderbaumaromatisierte Luft ein. Eine warme Welle vertrauter Geborgenheit überschwemmt ihn und schwappt als Tränen in seine Augen, die er mit dem Handrücken beiseite wischt.

Er öffnet das Handschuhfach. Er hat gehofft, sein Handy dort zu finden, aber da ist nichts.

Was auf Sylt passiert, bleibt auf Sylt. Er sieht hoch und betrachtet die Kiefernzweige, die über die Windschutzscheibe wischen. Woher kommt jetzt dieser Satz? Er schüttelt den Kopf, und dann sieht er es plötzlich wieder deutlich vor sich, als habe jemand ein Fenster geöffnet.

Wahrheit oder Sylt

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