Читать книгу Wahrheit oder Sylt - Jacob Walden - Страница 7
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ОглавлениеDer Arzt ist noch jung, keine 30, schätzt er. Verschlafen und übernächtigt, die schlecht geschnittenen braunen Haare stehen in alle Richtungen. Der weiße Kittel und das Stethoskop verleihen ihm eine Aura von Autorität, die jedoch nicht vollständig seine Milchbubigkeit überdecken kann.
»Waldmann«, stellt er sich vor. »Ich bin der diensthabende Internist.« Erwartungsvoll sieht er ihm in die Augen. »Können Sie mir sagen, wie Sie heißen?«
»Ich weiß es nicht.« Flüstern, mehr nicht. Sein Mund fühlt sich an, als hätte er einen Prittstift gegessen.
Waldmann nickt. »Wie geht’s Ihnen?«
»Kopfweh. Durst.«
Waldmann nimmt eine Flasche vom Nachttisch und gießt Wasser in einen daneben stehenden Becher, auf den er einen Deckel mit schnabelförmiger Öffnung steckt.
»Nicht aufsetzen«, mahnt er. »Ich helfe Ihnen beim Trinken.«
Waldmann hält ihm den Becher an die Lippen. Er hebt vorsichtig den Kopf, nur ein Stückchen. Das Wasser in seinem Mund fühlt sich an, als müsse es dort eine Feuersbrunst löschen.
»Wissen Sie, wo Sie sind?«
»Krankenhaus?«
»Gut! Sehr richtig!«, lobt Waldmann. »Und zwar auf der Intensivstation. Aber keine Angst, bislang sieht alles gut aus. Wir haben uns allerdings etwas Sorgen um Sie gemacht.« Wieder Pause und erwartungsvoller Blick. Waldmann scheint darauf zu warten, dass er sich an irgendetwas erinnert, etwas erklären kann. Doch er kann nicht. Er hat keine Ahnung, nur einen alles verschleiernden Nebel im Kopf und diese Angst, die immer beklemmender wird.
»Wissen Sie, in welcher Stadt wir uns befinden?«
»Hamburg?«
»Warum Hamburg? Kommen Sie aus Hamburg?«
Er sieht den Arzt unsicher an. »Weiß nicht.«
»In Hamburg sind wir nicht. Sonst eine Idee?«
»Nein.«
»Vielleicht ungefähr die Gegend? Harz? Bodensee? Sauerland?«
Es summt kurz in seinem Kopf, ein Vibrieren, dann Pfeifen im linken Ohr. Schwindel. Er schließt die Augen. Blitzen. Licht, Sonne, ein Strand, Wasser, Wellen.
»Sylt?«, haucht er.
»Sehr gut«, lobt Waldmann erneut. »Und können Sie mir auch sagen, wie Sie auf Sylt ins Krankenhaus geraten sind?«
Wie in einem dunklen Keller, in dem die einzige Glühbirne durchgebrannt ist, tastet er sich an den spärlichen Bildern entlang, die der Schleier in seinem Kopf gerade freigibt.
Haus in den Dünen. Gesichter, die ihm vage bekannt vorkommen. Reden. Lachen. Geschrei. Aufregung. Wut. Etwas ist passiert, ist aus dem Ruder gelaufen. Er versucht, weiter in seine Erinnerung vorzudringen, doch je mehr er sich anstrengt, desto mehr verschwimmt alles in undurchsichtigem Nebel.
»Kommt die Erinnerung zurück?«, hört er den Arzt von weit entfernt fragen. »Wissen Sie wieder, wie Sie heißen?«
Er schüttelt den Kopf, was dieser mit erneutem Dröhnen quittiert. Ohnehin fühlt sich sein Kopf an, als wäre er viel zu weit weg, fast so, als wäre er durch einen Giraffenhals mit dem Rest des Körpers verbunden.
»Was ist das Letzte, woran Sie sich erinnern können?«, fragt der Arzt.
Schweigen.
»Mit wem sind Sie auf Sylt?«
Gesichter. Bekannte und weniger bekannte. Freundliche. Sympathische. Verzerrte. Abneigung. Ekel. Matze. Unwillkürlich zuckt er zusammen. Schmerz schießt durch seinen Kopf und von dort in den ganzen Körper. Er beginnt zu zittern.
»Freunde«, krächzt er. »Mit ein paar Freunden.«
Waldmann sieht ihn ernst an. »Was ist Ihnen eben eingefallen?«
»Nichts, nur …«
»Ja?«
»Nichts.«
Waldmann nickt langsam.
»Wo wohnen Sie auf Sylt?«
»Ein Haus in den Dünen, mit Reetdach, in der Nähe vom Strand.«
»Hmmm«, macht der Arzt und lächelt milde. »Ich fürchte, das bringt uns nicht wirklich weiter.«
»Hat niemand nach mir gefragt?«
Waldmann sieht ihn einige lange Sekunden stumm an.
»Okay«, sagt er schließlich. Er zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich neben das Bett. »Ich werde Ihnen jetzt erzählen, was wir über die Umstände wissen, die Sie hierher gebracht haben. Unterbrechen Sie mich, wenn das irgendwelche Erinnerungen bei Ihnen wachruft.«