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Bremen. Stadtwerder

Davor

Miriam und Franziska saßen nebeneinander im Garten auf der verwitterten Bank, von der man auf das kleine Kaisenhaus sehen konnte. Sie hatten bereits einen Gin Tonic intus und den zweiten in der Hand. Sie hatten geredet. Belangloses Zeug. Jetzt schwiegen sie und beobachteten, wie die Nacht das letzte blaue Abendlicht vertrieb.

Etwas stand zwischen ihnen. Miriam musste so sehr an die bizarre Szene von vor einer Stunde denken, an den nackt im Regen tanzenden Karsten, dass Franziska ihre Gedanken schon fast hören musste, so kam es Miriam vor.

Sie hätte Franziska den Vorfall erklären können. Zumindest soweit der Vorfall zu erklären war. Was Karsten dazu bewogen haben könnte, nackt im Regen durch den Garten zu tanzen, konnte sie auch nicht sagen. Doch wer war sie, dass sie das kritisieren oder seltsam finden könnte? Solche Aktionen, wie nackt durch den Regen tanzen, würde man eher ihr zutrauen als Karsten. Nach den heißen Wochen ohne einen Tropfen Regen, nach diesem extrem schwülen Tag und nach der offensichtlichen Verstimmung, die Matze und Enrico bei Karsten hervorgerufen hatten, war es durchaus verständlich, einem solch befreienden Impuls nachzugeben. Oder etwa nicht? Miriam entschloss sich, Franziska nichts von Karstens Regentanz zu erzählen. Es war schließlich nichts passiert. Wenn sie davon erzählte, würde erst etwas daraus werden. So war es nichts, gar nichts.

Miriam konnte schon gar nicht mehr nachvollziehen, was Franziska und sie geritten hatte, in die Einladung nach Sylt einzuwilligen. Auf den ersten Blick war ihr klar gewesen, dass Matze und Enrico Blender waren, vermutlich reiche Söhnchen, die nichts besser konnten, als auf dicke Hose zu machen. Sie selbst hatte auch abgewinkt und auf ihre Freunde verwiesen. Franziska war es dann gewesen, die mit Matzes Cayenne zum Café Sand fahren wollte, um Lorenz und Karsten zu suchen und zu fragen. Ein Cayenne, Miriam lachte. Was für ein Klischee!

»Warum lachst du?« Franziska sah sie fragend an. Sie wirkte, als ob sie auch gerne lachen würde.

»Ich dachte nur gerade: Wenn ich hätte raten müssen, was für ein Auto Matze fährt, ich hätte sofort auf einen Cayenne getippt.«

Franziska schmunzelte und zuckte mit den Schultern.

»Meinst du, er hat nichts in der Hose und braucht ein dickes Auto zum Kompensieren?«, legte Miriam nach.

Franziska prustete. Sie hatte im falschen Moment einen Schluck aus ihrem Glas genommen. Hustend und lachend wand sie sich auf der wackelnden Bank.

»Kann doch sein«, sagte Miriam, jetzt auch lachend. »Das sagt man doch immer: je größer das Auto, desto kleiner der Pimmel!«

»Miriam!« Franziska tat empört, konnte aber ihr Lachen nicht unterdrücken. »So ’n Spruch aus deinem Mund?«

»Cheers!« Sie stießen an.

»Karsten und Matze haben ein Problem miteinander, oder? Weißt du was darüber?«

»Ganz lange Geschichte.« Franziska winkte ab.

»Erzähl doch mal!«, bohrte Miriam nach. »Oder soll ich ihn selbst fragen?«

»Nee, lass mal. Sonst ist er wieder tagelang schlecht drauf. Karsten ist im letzten Schuljahr ein paar Monate zweigleisig gefahren.«

Miriam musste ein Schmunzeln unterdrücken. Warum überraschte sie das nicht?

»Eigentlich wollte er mit seiner Freundin Schluss machen und mit seiner Affäre richtig zusammen sein, aber er hat es einfach nicht gebacken bekommen. Schuldgefühle und so weiter. Karsten war dann irgendwann kurz vorm Durchdrehen und hat sich schließlich – halt dich fest – ausgerechnet Matze anvertraut.«

»Ach nee!« Miriam lachte. »Der wirkt ja eigentlich nicht so wie ein Psychologe.«

»Nicht ganz«, nickte Franziska. »Aber jetzt kommt’s: Zwei Wochen, nachdem sich Karsten bei Matze ausgeheult hatte, waren Matze und Karstens Affäre plötzlich zusammen. Daraufhin konnte Karsten dann doch mit seiner Freundin Schluss machen, und bei der wiederum hat es auch nur zwei Wochen gedauert, bis sie einen Neuen hatte.«

»Oh je!« Miriam seufzte. Das ist ja wie in einer Soap.«

»Genau. Und Karsten war so runter mit den Nerven, dass er beinahe das Abi geschmissen hätte. Anscheinend musste Lorenz ihn jeden Tag zur Schule schleifen und ihn in den Arsch treten, damit es doch noch geklappt hat.«

Miriam sah auf. Karsten stand in der Haustür, nur wenige Meter entfernt, und sah sie ungläubig an. Wie lang stand er dort schon?

»Ihr redet über mich?«, fragte er leise.

Franziska sprang auf, lief zu ihm und umarmte ihn. Er ließ es etwas steif über sich ergehen.

»Miriam hat gefragt, was zwischen Matze und dir vorgefallen ist, da hab ich’s ihr erzählt.«

Karsten löste sich aus Franziskas Umarmung. »Und? Habt ihr euch gut amüsiert?«

»Gar nicht!«, widersprach Miriam. »Ganz schön üble Geschichte.«

»Schnee von gestern«, brummte Karsten. »War zwar hart, eine scheiß Zeit, aber es ist vorbei. Ich hab gelitten wie ein Hund, aber ich hab es überlebt.«

Miriam sah Franziska an, dann prusteten beide los.

»Was ist?«, fragte Karsten irritiert. »Hab ich was Komisches gesagt?«

»Oh, Kasi«, kicherte Franziska, »du bist ja so ein Held!«

»Ja!«, rief Miriam, »ein echter Überlebenskünstler!«

»Ich finde es eigentlich nicht so komisch«, sagte Karsten tonlos.

Miriam hörte auf zu lachen und sah Karsten aufmerksam an. Alle Farbe schien aus seinem Gesicht gewichen zu sein.

»Armer kleiner Kasi«, legte Franziska nach. »Die Welt ist so gemein zu dir!«

Und da brüllte Karsten plötzlich los: »Hört doch auf! Vergesst es einfach! Es geht euch beide eh einen Scheiß an!«

Tränen liefen über seine Wangen. Jetzt tat er Miriam plötzlich leid. Und auch Franziska hatte aufgehört zu lachen.

»Entschuldigung«, sagte Franziska sanft. »Wir wollten dir nicht wehtun.«

Karsten schwieg.

»Weißt du«, fuhr sie fort, »du machst ein ganz schön großes Drama um diese Sache.«

»Weißt du«, äffte Karsten wütend Franziska nach. »Das war die beschissenste Zeit meines Lebens. Ich hab noch mehr gelitten als nach dem Tod meiner Mutter.«

Miriam horchte auf. Karstens Mutter hatte sich umgebracht und Karsten sie gefunden, das hatte Franziska ihr mal erzählt. Anscheinend war seine Mutter depressiv gewesen und hatte Karsten alle möglichen Vorwürfe und ein schlechtes Gewissen gemacht.

»Ja«, sagte Franziska gedehnt, »das kann ja sein. Aber es ist jetzt schon ziemlich lang her. Und trotzdem reagierst du auf das Thema immer noch, als wäre es erst letzte Woche passiert. Du suhlst dich in Selbstmitleid. Dabei warst du ja auch nicht ganz unschuldig daran, wie es gekommen ist.«

»Darf ich die Geschichte dann wenigstens mal aus meiner Perspektive erzählen?«

Wahrheit oder Sylt

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