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4.2 Konflikte fördern Sozialisation, Georg Simmel

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Georg Simmel definiert Soziologie als eine Wissenschaft, die sich mit den Formen des zwischenmenschlichen Zusammenlebens beschäftigt.68 Damit grenzte er die neu entstehende Soziologie ab von anderen bereits etablierten Geisteswissenschaften wie Rechtswissenschaft, Ökonomie oder Geschichte. Max Weber drückte diese Art von Verallgemeinerung mit dem Konzept des Idealtypus aus.

Soziologie befasst sich mit der Gesellschaft. Simmel versteht unter Gesellschaft alle Wechselwirkungen, die Individuen untereinander haben. Soziologie interessiert sich dann für diese Wechselwirkungen, wenn sie eine „Form der gegenseitigen Beeinflussung“ ausmachen. Das heisst, dass sich die Individuen durch diese Wechselwirkung verändern. Gesellschaft lässt sich deshalb gleichsetzten mit der Veränderung des Individuums durch soziale Wechselwirkung. „Gesellschaft ist Vergesellschaftung.“69

In Bezug auf Konflikte interessieren sich Soziologinnen und Soziologen nach Simmel für die Formen von Streit70, sie suchen von spezifischen historischen Konflikten zu abstrahieren und allgemeine Aussagen zu machen. Wie andere Gegenstände der Soziologie ist Konflikt eine Form der sozialen Wechselwirkung und somit der Vergesellschaftung. Dem Konflikt als Form kommt somit nicht nur eine negative Bedeutung zu, sondern auch eine positive: Konflikt sozialisiert die Individuen und ist Motor der Vergesellschaftung.

Konflikt als Form der Vergesellschaftung kommt dieselbe Funktion zu wie etwa Familie oder Freundschaft. Konflikte als Form der Vergesellschaftung sind daher Gesellschaft; sie sind nicht Ausnahme oder Gefahr für die Gesellschaft, sondern Konflikte konstituieren neben anderen Formen die Gesellschaft.

Simmel unterscheidet verschiedene Formen von Konflikten, als Kriterium dazu dient ihm der Grad der direkten Interaktion, in der individuelle Gefühle den Konflikt bestimmen. So lassen sich die Konfliktformen zwischen zwei Polen einordnen. Ein Konflikt kann auf der einen Seite die rein persönliche Angelegenheit zweier bestimmter Menschen sein. Der Konflikt ist in diesem Fall weitgehend ein Faktor der Persönlichkeiten der zwei Konfliktparteien. Auf der anderen Seite steht das Extrem eines absolut unpersönlichen Konfliktes, der eine rein gesellschaftliche Funktion hat; ein Beispiel ist die Interaktion meiner Unfallversicherung mit der Haftpflichtversicherung jener Autofahrerin, die mich angefahren hat, darüber, welche Versicherung die Arztkosten zu übernehmen hat. Verschiedene Formen des Konfliktes sind Kampf, Streit oder Konkurrenz. Diese Formen lassen sich zwischen den zwei Polen einordnen.


Grafik 6: Georg Simmel: Formale Dimensionen von Konflikten

Der Kampf steht als direkte Auseinandersetzung zwischen zwei Personen und mit der Anwendung von physischer Gewalt nahe am Pol der rein persönlichen Angelegenheit.

Der Streit als allgemeine Konfliktform steht in der Mitte zwischen den Polen, scheint aber je nach Art des Streites weit gegen beide Extreme auszugreifen. Als Rechtsstreit ist diese Konfliktform losgelöst von individuellen Motiven, es geht um eine rein sachliche Frage, nämlich wie die Streitfrage nach geltendem Recht zu entscheiden ist. Interessant ist diesbezüglich die doppelte Formalisierung: Sowohl das Recht in Form allgemeiner und festgehaltener Sätze wie das Rechtsverfahren unterliegen einer institutionalisierten Form.

Eine besonders nahe am unpersönlichen Pol einzuordnende Konfliktform ist die Konkurrenz. Konkurrenz ist ein Konflikt ohne direkten Gegnerinnen und Gegner, im Idealfall geht es einzig um das Ziel. Konkurrenz ist daher selten ein Nullsummenspiel; oft ist es möglich, dass alle Parteien als Sieger aus der Konkurrenzsituation hervorgehen.

Der moderne Mensch individualisiert sich. Er bewegt sich durch eine zunehmende Differenzierung der Gesellschaft in verschiedenen Bereichen, Simmel nennt sie „soziale Kreise“. Diese soziale Differenzierung fördert die Individualisierung. Moderne Menschen werden einzigartig durch die Kombination von sozialen Kreisen, denen sie angehören. Soziale Differenzierung und Individualisierung schaffen für das Individuum Konflikte. Einmal stellen die verschiedenen sozialen Kreise Ansprüche an das Individuum, die schwierig zu erfüllen sind oder sich widersprechen. Darüber hinaus nehmen Konflikte zwischen den Individuen zu.

Warum zerbrechen moderne Gesellschaften nicht an den Konflikten, die durch Differenzierung und Individualisierung zunehmen? Hier kommt die vergesellschaftende Funktion von Konflikten zum Tragen. Konflikte trennen Menschen, sie vergesellschaften und verbinden aber auch. Dies auf verschiedene Arten: Konflikte bilden und stärken Gruppen. Simmel stellt fest, dass „die gemeinsame Gegnerschaft gegen einen Dritten unter allen Umständen zusammenschliessend wirkt, und zwar mit sehr viel grösserer Sicherheit so wirkt, als die gemeinsame freundschaftliche Beziehung zu einem Dritten“71.

Konflikte haben eine Dauer, sie beginnen und sie enden. Simmel stellt vier Gründe fest, die zur Beendigung eines Konfliktes führen: Das Objekt des Konfliktes fällt weg, eine Partei siegt über die andere, die Parteien versöhnen sich, es wird ein Kompromiss geschlossen.

Wenn das Objekt des Konflikts wegfällt, geschieht das plötzlich, die Parteien können sich nicht auf die neue Situation vorbereiten, daher dauert es nach dem Verschwinden des Objekts eine gewisse Zeit, bis die Beendigung des Konfliktes realisiert wird.

Der Sieg einer Partei über die andere ist die einfachste und zugleich radikalste Beendigung eines Konfliktes. Die Radikalität auf den ersten Blick wird jedoch gemildert durch Vergesellschaftung, die selbst hinter einem Sieg steckt. Der Sieg findet nicht einfach statt, sondern muss erklärt und anerkannt werden. Einen wichtigen Stellenwert nimmt das „sich für besiegt erklären“ der unterlegenen Partei ein. Sie kann dadurch aktiv an der folgenden Friedensordnung mitarbeiten und verhindert eine vollkommene Unterwerfung unter die Macht des Siegers.

Versöhnung ist eine stark emotional motivierte Beendigung eines Konflikts. Motor ist eine starke soziale Bindung unter den Konfliktparteien, Versöhnung geschieht unabhängig vom Zweck und Ziel des Konfliktes.

Der Kompromiss ist für Simmel die soziologisch interessanteste Form der Konfliktbeendigung. Er bezeichnet sie als „eine der grössten Erfindungen der Menschheit“.72. Kompromiss ist eine stark objektivierte Form, von subjektiven Bedürfnissen wird weitgehend abstrahiert. Der Kompromiss entspricht als rein gesellschaftliche Form der Konfliktbeilegung der Konfliktform der Konkurrenz. Ein den Parteien gemeinsamer Wertmassstab ermöglicht das „Geben und Nehmen“ im Kompromiss. Die ursprüngliche Form des Kompromisses ist der Tausch. Um Kompromisse eingehen zu können, brauchen die Parteien einen gemeinsamen Wertmassstab. Der übernimmt in der modernen Gesellschaft das Geld, das – wo es als Tauschmittel anerkannt ist – eine Lösung der Konkurrenzsituation ermöglicht, bevor ein Konflikt ausbricht.

Der Friede, der dem Konflikt folgt, ist nicht nur die Abwesenheit von Konflikt, sondern auch Motiv für Versöhnung oder Kompromiss. Der Konflikt verändert die Beziehung der Parteien auch insofern, dass sie den Wunsch nach Frieden entwickeln.

Ich stelle in dieser Untersuchung die Frage, wie die Bergbaukonflikte in Cajamarca sich auf die Gesellschaft und die Politik auswirken. Um einen geschärften Blick für die Veränderungen der Gesellschaft in Cajamarca zu entwickeln, frage ich: Was heisst Sozialisation in Cajamarca?

– Die Konfliktparteien entwickeln den Wunsch nach friedlichem Zusammenleben.

– Die Gesellschaft entwickelt über die Grenzen der Konfliktparteien hinweg gemeinsame Wertmassstäbe.

– Die Bereitschaft, Kompromisse einzugehen, steigt.

– Die Kraft und Akzeptanz der Institutionen steigt, so dass sie in der Lage sind anstehende Probleme zu lösen.

– Eine Zivilgesellschaft entsteht.

Bergbaukonflikte in Cajamarca, Peru, und gesellschaftlichpolitische Entwicklung

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