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4.11 Konflikt als Struktureffekt, Ralf Dahrendorf

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Bei Ralf Dahrendorf fallen Gesellschaftstheorie und Konflikttheorie eng zusammen.101 Konflikte sind der Schlüssel, um strukturelle Wandlungen von Gesellschaften zu erklären. Eine Theorie des Konfliktes ist zentral für eine soziologische Theorie der Gesellschaft.

Die Konflikttheorie Dahrendorfs ist ein Work in progress. In den 1950er Jahren ging Dahrendorf noch sehr stark von der Marx’schen Auffassung des Klassenkampfes aus, revidierte Marx jedoch im Laufe der Zeit: Nicht mehr die ökonomischen Besitzverhältnisse waren für die Klassen konstituierend, sondern allgemeiner die Machtverhältnisse. Später löste sich Dahrendorf von der Idee des Klassenkampfes und der damit verbundenen historischen Notwendigkeit.

„Gesellschaft ist Konflikt um menschliche Lebenschancen. Freie Gesellschaft ist gestatteter, ausgetragener, geregelter Konflikt, der schon durch diese Merkmale das Grundniveau der Lebenschancen höher ansetzt, als alle Spielarten der Unfreiheit es können.“102 Liberalismus ist somit die politische Form, die einen vorteilhaften Umgang mit Konflikten erlaubt.

Die vorherrschenden soziologischen Systemtheorien fragen vor allem danach, was Gesellschaften zusammenhält. Dahrendorf dagegen interessiert sich dafür, was die Gesellschaft vorwärts bringt. Während er in der Frage des Fortschritts eng an Marx anschliesst, geht er beim Gesellschaftsmodell ganz anders vor. Er nimmt vier Grundannahmen an: „1.) Jede Gesellschaft und jedes ihrer Elemente unterliegt zu jedem Zeitpunkt dem Wandel (Annahme der Geschichtlichkeit). 2.) Jede Gesellschaft ist ein in sich widersprüchliches und explosives Gefüge von Elementen (Annahme der Konfliktivität). 3.) Jedes Element in einer Gesellschaft leistet einen Beitrag zu ihrer Veränderung (Annahme der Dysfunktionalität oder Produktivität). 4.) Jede Gesellschaft erhält sich durch den Zwang, den einige ihrer Mitglieder über andere ausüben (Annahme des Zwanges).“103 Dieses Gesellschaftsmodell wird dem Consensus-Modell der Systemtheorie entgegengestellt. Dahrendorf sieht diese zwei Modelle jedoch als komplementär und nicht als sich gegenseitig ausschliessend. Weder dem eigenen Gesellschaftsmodell noch dem Consensus-Modell spricht er einen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit zu.

Eine nicht allgemein gültige Theorie macht eine Abgrenzung des Gegenstands- und Gültigkeitsbereichs nötig. Dazu dienen zwei Typologien, die Konflikte einteilen einerseits nach der sozialen Einheit, innerhalb derer der Konflikt ausgetragen wird, und andererseits nach dem Rangverhältnis. Konflikte finden innerhalb von Rollen, Gruppen, Sektoren, Gesellschaften oder übergesellschaftlichen Verbindungen statt. Das hierarchische Verhältnis kann gleich gegen gleich, übergeordnet gegen untergeordnet oder Ganzes gegen Teil sein. Aus diesen zwei Typologien kombiniert ergeben sich 15 Konflikttypen.

Dahrendorf erachtet den Geltungsbereich seiner Konflikttheorie, die Konflikte als Struktureffekte betrachtet, vor allem im Bereich D2 für zentral, hält sie aber auch in den Bereichen B2 und C2 für wichtig. Hier lassen sich die gesamte Gesellschaft, Gruppen und Sektoren der Gesellschaft und als Herrschaftsverbände betrachten.

Die Konflikttheorie Dahrendorfs besteht jedoch aus verschiedenen Elementen, von denen einige alle sozialen Konflikte betreffen. Für die Fragestellung dieser Arbeit sind die Unterscheidung zwischen latenten und manifesten Konflikten und die dazu gehörende Entfaltung von Konflikten interessant.

A) Rollen B) Gruppen C) Sektoren D) Gesellschaften E) übergesellschaftliche Verbindung
1) gleich gegen gleich
2) übergeordnet gegen untergeordnet B2 Wichtig C2 Wichtig D2 für Dahrendorf zentral
3) Ganzes gegen Teil

Tabelle 3: Dahrendorf, Typologie nach sozialer Einheit und Rangverhältnis

Latente Konflikte sind den Konfliktparteien nicht bewusst. Da Dahrendorf mit einem sehr weiten Konfliktbegriff arbeitet104, sind auch strukturelle Bedingungen, aus denen soziale Gegensätze entstehen, mögliche, aber noch nicht artikulierte Konflikte. Die Gegensätzlichkeit ist objektiv, was so viel heisst wie, von den Parteien nicht erkannt, jedoch von einer aussen stehenden Beobachterin oder einem aussen stehenden Beobachter erkennbar. Manifeste Konflikte dagegen sind den Parteien bewusst und werden ausgedrückt. Daher werden sie als subjektiv bezeichnet.

Zwischen latentem und manifestem Konflikt liegt ein Prozess der Entfaltung, der bei allen Formen von Konflikten beobachtbar ist.105 In einer ersten Etappe lassen sich aufgrund der Strukturmerkmale zwei Quasi-Gruppen von Trägern sozialer Positionen feststellen. Es lässt sich noch nicht von eigentlichen Gruppen sprechen, da die Gemeinsamkeiten den Mitgliedern eventuell noch gar nicht bekannt sind. In einer zweiten Etappe werden die Träger der sozialen Positionen sich ihrer Interessen bewusst. Sie werden somit zur Gruppe. In einer dritten Etappe schliesslich ist der Konflikt manifest; es bestehen Parteien mit klar erkennbarer Identität, die sich organisieren.

Dahrendorf unterscheidet drei Einstellungen zu sozialen Konflikten, von denen nur die dritte, die Regelung, rational, d.h. der Natur von Konflikten angepasst, ist.106

Konflikte lassen sich unterdrücken. Das kam und kommt immer wieder vor, obwohl moralisch verurteilt und als längerfristig unwirksam erkannt.

Konflikte lassen sich lösen. Darunter versteht Dahrendorf den Versuch, die Gegensätze und Widersprüche ermöglichenden Strukturen zu beseitigen. Konfliktöse Strukturen, solche liegen für Dahrendorf alle sozialen Konflikte mindestens teilweise zugrunde, lassen sich grundsätzlich nicht beseitigen. Wie bei der Unterdrückung lassen sich Strukturen jedoch für eine gewisse Zeit gewaltsam ausschalten. Konflikte lassen sich in diesem Sinne nicht lösen.

Konflikte lassen sich schliesslich regeln. Einzig die Regelung von Konflikten ist vernünftig. Konflikte verschwinden deswegen nicht, sie werden jedoch kanalisiert und so kontrollierbar gemacht. Auf diese Weise gelingt es, die vergesellschaftende Wirkung von Konflikten zu geniessen: Es können sich allmählich besser angepasste Strukturen entwickeln.

65 Vgl. die Überlegungen zu verschiedenen Arten von Theorien im Kapitel 3 Überlegungen zur Methode

66 Vgl. den Art. „Soziale Konflikte“ in: Historisches Lexikon der Schweiz (2002–2014), Bd. 11

67 Defensoría del Pueblo (2005a), S. 12

68 Simmel (2013), Kapitel IV Der Streit; vgl. Stark, Carsten: Die Konflikttheorie von Georg Simmel, in: Bonacker (2005), S. 83–96

69 Stark, Carsten: Die Konflikttheorie von Georg Simmel, in: Bonacker (2005), S. 84

70 Simmel braucht den Begriff „Streit“ im Sinne von „sozialer Konflikt“. Allerdings braucht Simmel den Begriff in einem umfassenderen Sinn als oben beschrieben, wenn er ihn auch auf Konflikte zwischen zwei Personen oder innerhalb einer kleinen Gruppe anwendet.

71 Simmel (2013)

72 Simmel (2013), S. 375

73 Eine kurze Beschreibung des Konzeptes findet sich in Mücke (2008), S. 499. Grundlegend für das Konzept ist Waldmann (2002). Waldmann schliesst wenige Staaten Süd- und Mittelamerikas vom Konzept des anomischen Staates aus: Chile, Costa Rica und eventuell Uruguay.

74 Vgl. Waldmann (2002), S. 14/15

75 Der Begriff geht auf Heinrich Popitz zurück.

76 Waldmann (2002), S. 9

77 Vgl. Waldmann (2002), S. 9

78 Vgl. Waldmann (2002), S. 8‒11

79 Vgl. für diesen interessanten Hinweis Mücke (2008), S. 499

80 Klemp / Poeschke (2005), S. 23

81 Vgl. den Art. „Fragile Staaten – Armut, Instabilität und Gewalt“ auf: www.eda.admin.ch/deza/de/home/themen/fragile-kontexte-und-praevention/kennzeichen-fragiler-kontexte.html, letztmals konsultiert am 31.12.2016

82 Vgl. www.laenderdaten.de/indizes/failed_state_index.aspx, letztmals konsultiert am 31.12.2016

83 Vgl. Waldmann (2002), Kapitel 1. Einleitung: Zum Konzept des anomischen Staates

84 Glasl (2004)

85 Vgl. Glasl (2004), ausführlich zu den Basismechanismen der Eskalationsdynamik Kapitel 8, S. 207–226

86 Zit. nach Glasl (2004), S. 207/108

87 Glasl (2004), besonders Kapitel 10

88 Vgl. zur Idee einer Win-Win-Lösung Fisher / Ury / Patton (2001)

89 Lederach (2003). Das Konzept der Konflikt-Transformation ist kurz dargestellt auf: http://web.archive.org/web/20140818175357/http://www.mediate.com/articles/wrightw2.cfm, letztmals konsultiert am 29.12.2016.

90 Vgl. Lederach (2003), S. 4/5

91 Lederach (2003), S. 14, kursiv gesetzte Stellen vom Originaltext übernommen, für detaillierte Erklärung vgl. S. 14‒22

92 Vgl. Lederach (2003), S. 68‒70

93 Vgl. Nuscheler (2005), Kapitel X

94 Vgl. Nuscheler (2005), Kapitel XXII, u. Schubert / Klein (2011), Art. „Zivilgesellschaft“

95 Auty (2006)

96 Auf Englisch sogenannte Early reform zones (ERZ)

97 Vgl. Diez / Revesz (2006), S. 12/30

98 Vgl. die verschiedenen Definitionen des „sozialen Konfliktes“ in Glasl (2004), S. 14–18

99 Vgl. die Konflikttheorie von Niklas Luhmann, in: Bonacker (2005), S. 267–292

100 Vgl. Hirschmann (2002)

101 Für die Darstellung vgl. Lamala, Jörn: Die Konflikttheorie als Gesellschaftstheorie, in: Bonacker (2005), S. 207–229

102 Dahrendorf (1972), S. 7

103 Dahrendorf (1961): Gesellschaft und Freiheit, München; zit. nach: Lamala, Jörn: Die Konflikttheorie als Gesellschaftstheorie, in: Bonacker (2005), S. 211

104 Dahrendorf (1972), S. 23/24

105 Dahrendorf (1972), S. 35/36

106 Dahrendorf (1972), S. 40

Bergbaukonflikte in Cajamarca, Peru, und gesellschaftlichpolitische Entwicklung

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