Читать книгу Bergbaukonflikte in Cajamarca, Peru, und gesellschaftlichpolitische Entwicklung - Josef Lustenberger - Страница 32
4.3 Anomischer Staat, Peter Waldmann
ОглавлениеUm Staatswesen in Südamerika zu beschreiben, hat der Jurist und Soziologe Peter Waldmann das Konzept des anomischen Staates entworfen.73 Ich stelle im Folgenden Waldmanns Konzept des anomischen Staates vor, zeige zwei Abweichungen auf, wie ich den Begriff brauche, und grenze schliesslich den Begriff des „anomischen Staates“ von ähnlichen Begriffen „Quasi-Staat“, „Para-Staat“ und „gescheiterter Staat“ ab.
Der anomische Staat ist nicht in der Lage oder willens, Leistungen zu erbringen, die wir heute als grundlegend betrachten: Ordnung und Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger, Gewaltmonopol, Aufrechterhaltung der Infrastruktur, effizientes Bildungssystem etc. Diese Leistungen sind zwar formal garantiert, werden jedoch in Realität nicht oder nur ansatzweise erbracht.
Die Theorie des anomischen Staates lässt sich in vier Punkten zusammenfassen:74
1. Der anomische Staat stellt seinen Einwohnerinnen und Einwohnern keinen Ordnungsrahmen zum Verhalten im öffentlichen Raum zur Verfügung. Er ist im Gegenteil Quelle für Unordnung. Statt dass er die Bedingungen für Sicherheit und Orientierung schafft, trägt er zur Verunsicherung und Desorientierung bei. Dies aus zwei Gründen:
2. Der anomische Staat erhebt zum einen Anspruch auf Regulierung, wo er faktisch nicht in der Lage ist zu herrschen und zu kontrollieren. Die Schwäche des Staates bei der Durchsetzung seiner eigenen Normen lädt konkurrierende gesellschaftliche Gruppen ein, die rechtlosen Räume und Verhaltensbereiche zu besetzen. Die Einwohnerinnen und Einwohner wissen in der Folge nicht, welche Regeln jetzt gelten und verbindlich sind, die universalistischen staatlichen Normen oder die partikularistischen der besagten Gruppe.
3. Das Staatspersonal des anomischen Staates ist zum anderen selbst zur Ursache für Irritation, Unsicherheit und Ängste der Einwohnerinnen und Einwohner. Obwohl Polizisten, Richter, Lehrer, Staatsangestellte der Verwaltung etc. vom Staat ihren Lohn erhalten und sich zur Loyalität verpflichtet haben, halten sie sich nicht an die Normen dieses Staates. Statt zuverlässig und berechenbar zu sein, konzentriert sich bei ihnen Willkür und Normenverletzungen. Privilegien, die Staatsangestellte bezüglich ihrer Funktion geniessen, missbrauchen diese für eigennützige Zwecke.
4. Der anomische Staat kann die Grundbedürfnisse seiner Einwohnerinnen und Einwohner nach Sicherheit und Ordnung nicht erfüllen, deswegen entbehrt er einer Basislegitimation.75 Der Ordnungsrahmen für staatliches und gesellschaftliches Verhalten fehlt, was Interaktionen mit dem Staat und Individuen und Gruppen darin unberechenbar macht. Soziale Interaktionen bleiben so störanfällig und voller Risiko. Letztlich geht es bei der Basislegitimation um eine Rechtfertigung von Staatlichkeit, die jeder inhaltlichen Legitimation wie zum Beispiel demokratischer Verfahren vorgelagert ist.
Emil Durkheim führte den Begriff Anomie um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jh. ein. Er verstand darunter soziale Situationen und Bereiche, die durch Regellosigkeit oder zu wenig Regelung charakterisiert waren. Nun sind soziale Situationen, die durch fehlende soziale Regulierung gekennzeichnet sind, Ausnahmefälle; dies gilt insbesondere auch für lateinamerikanische Staaten. Waldmann knüpft direkt bei Emil Durkheim an, erweitert jedoch den Begriff auf widersprüchliche und unübersichtliche normative Verhältnisse: „Wir schlagen vor, von einer anomischen sozialen Situation dann zu sprechen, wenn es an klaren, konsistenten, bis zu einem bestimmten Grad sozial akzeptierten sowie sanktionsbewehrten Normen bzw. Regeln fehlt, um soziales Verhalten zu steuern und ihm eine Orientierung zu geben.“76
Anomie lässt sich klarer fassen, wenn man sie vor dem Hintergrund funktionierender Normensysteme betrachtet. Funktionierende Normensysteme zeichnen sich durch drei zentrale Merkmale aus:77 Erstens sind sie sprachlich klar und verständlich. Zweitens akzeptiert und trägt ein Grossteil der Betroffenen die Normen. Drittens kontrolliert und sanktioniert der Staat Verstösse gegen die Normen. Diese drei Anforderungen eines funktionierenden Normensystems können auch nur teilweise erfüllt sein. Das heisst, dass es unterschiedliche Grade funktionierender Normensysteme und der Anomie gibt.
Das Konzept des anomischen Staates geht von der Hypothese aus, dass Staaten anomische Verhältnisse zeigen und fördern können, so dass man eben von einem „anomischen Staat“ sprechen kann. E. Durkheim und nachfolgende Soziologen gingen davon aus, dass Anomie dort entsteht, wo der Staat nicht fähig ist, die durch schnelle soziale Wandel veränderte Gesellschaft zu regulieren.
Auf den ersten Blick widersprechen sich Anomie und Staat, sofern sie im Begriff „anomischer Staat“ zusammenfallen.78 Nach unserer westlichen Tradition besteht seit der Antike die zentrale Aufgabe des Staates darin, Ordnung und Sicherheit zu schaffen und zu garantieren. Er tut dies mit abstrakten und allgemeinen Gesetzen, die er erlässt und deren Einhaltung er durchsetzt, kontrolliert und bei Verstössen dagegen sanktioniert. Aus einer Binnenperspektive ist der anomische Staat ein unvollkommener Staat. Er leistet als Institution nicht, was er durch Verfassung und Gesetz zu leisten verpflichtet ist, und was in politischer Rhetorik immer wieder versprochen wird.
Betrachten wir den anomische Staat jedoch als Instrument, das der Wahrung der Interessen einer privilegierten Gruppe dient, so erfüllt er diese Funktion sehr gut. In einer Demokratie, in der die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger arm sind, verhindert die wirtschaftliche und politische Elite, dass die politische Machtübernahme auch zu einer Änderung der sozioökonomischen Verhältnisse führt. Die wirtschaftlich starken Privatpersonen und Unternehmen werden nicht gemäss ihren finanziellen Möglichkeiten besteuert und tragen daher nur wenig zur Finanzierung der Staatsausgaben bei. Die fehlenden staatlichen Leistungen braucht die finanziell potente Minderheit nicht zu stören. Auf den Schotterpisten mit Schlaglöchern, die auch heute noch selbst grössere Städte in den Anden erschliessen, kann man mit Geländewagen fahren oder sich hinfliegen lassen. Die Kinder der privilegierten Elite besuchen teure Privatschulen – nicht die qualitativ schlechten staatlichen Schulen. Private Sicherheitsleute bewachen das Quartier oder das Haus. Eine Privatklinik in Lima oder gleich in den USA führt eine notwendige medizinische Operation durch etc.
Selbst ein grosser Teil der Staatsangestellten hat ein Interesse, den Staat schwach und ineffektiv zu halten.79 Einkünfte aus Begünstigungen, Bestechungen und Unterschlagungen übersteigen die kleine staatliche Vergütung bei weitem, so dass ein Einkommen zusammenkommt, mit dem sich gut leben lässt.
Um das Konzept des anomischen Staates schärfer zu fassen, vergleiche ich es mit den Begriffen „fragiler Staat“ und „gescheiterter Staat“. Beide Begriffe haben sich international auf Englisch „fragile state“ und „failed state“ durchgesetzt.
Ein fragiler Staat ist mit folgenden Merkmalen verknüpft:80 Die staatliche Legitimität nach innen und aussen ist gering. Die Handlungs- und Funktionsfähigkeit des Staates ist eingeschränkt. Der fragile Staat kann insbesondere Kernfunktionen wie die physische Sicherheit seiner Einwohnerinnen und Einwohner und eine minimale soziale Grundversorgung nicht mehr gewährleisten. Der gesellschaftliche Zusammenhalt zwischen den sozialen, religiösen, ethnischen oder sprachlichen Gruppen ist schwach. Die einzelnen Gruppen orientieren sich nicht am Gemeinwohl, sondern betrachten den Staat primär als Ressource, um die Interessen der eigenen Gruppe zu befriedigen. Nachbarstaaten, die Region oder die internationale Gemeinschaft sind geschwächt.
Die Bevölkerung in fragilen Staaten leidet unter Armut, Gewalt, Korruption und politischer Willkür.81 Zwischen der Bevölkerung und der politischen Gewalt besteht keine konstruktive Beziehung.
In einem gescheiterten Staat sind die Merkmale eines fragilen Staates so stark ausgeprägt, dass der Staat grundlegende Funktionen nicht mehr erfüllt.82 Beispiele gescheiterter Staaten sind Somalia, die Republik Tschad oder der Sudan. Die Bevölkerung in gescheiterten Staaten leidet unter grosser Armut und ist Gewalt ausgesetzt. Staatliche Institutionen erfüllen ihre Aufgaben nicht mehr und geniessen keine Legitimität mehr.
Mein Umgang mit der Theorie des anomischen Staates von Waldmann erfährt zwei Verschiebungen, die das Konzept jedoch erlaubt, ohne daran Wesentliches zu verändern.
Die zeitliche Verschiebung: Das Konzept des anomischen Staates entstand in der Auseinandersetzung mit lateinamerikanischen Diktaturen der 70er und frühen 80er Jahren.83 In dieser Arbeit wende ich das Konzept jedoch auf Peru in den letzten drei Jahrzehnten an, also auf Zeit der Diktatur Alberto Fujimoris und ab 2000 auf das demokratische Peru. Das ist möglich, weil ich davon ausgehe, dass der anomische Staat sowohl ein diktatorischer wie ein formell demokratischer sein kann.
Die thematische Verschiebung: Das Konzept zielte ursprünglich besonders auf die Bereiche der Steuerhoheit und des Gewaltmonopols ab. Beide Bereiche des staatlichen Handelns vermögen südamerikanische Staaten nur unvollkommen durchzusetzen. In dieser Arbeit spielen beide Bereiche eine Rolle. Die Besteuerung der Einkünfte der Bergbauunternehmen ist Gegenstand von De-batten zwischen linken und rechten Kommentatoren und Politikerinnen und Politikern. Internationale Bergbaukonzerne wie Minera Yanacocha verletzen das Gewaltmonopol des Staates, indem sie eigene bewaffnete Sicherheitskräfte auch ausserhalb des eigentlichen Operationsgebietes einsetzen und enge Verbindungen mit der nationalen Polizei Perus (PNP) unterhalten. Die Grenzen zwischen staatlichen und privaten Ordnungskräften sind diffus. Bei Demonstrationen gegen Bergbau wenden privaten Bewachungsfirmen physische Gewalt an. Als weiteren, dritten Bereich untersuche ich in dieser Arbeit, ob und wie der Staat fähig ist, Konflikte zu verwalten, zu transformieren oder eventuell gar zu lösen. Es gehört zu den Kernaufgaben eines Staates, Konflikte zwischen Gruppen innerhalb des Staatswesens zu erkennen, zu artikulieren und Lösungen zu finden.