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Ich zähle nicht zu jenen, die der Meinung sind, dass Tränen und Trauer nur zu den Frauen gehören. Descartes, 1640

Als Philosoph und Mathematiker ist Descartes einer der genialsten Denker der Menschheitsgeschichte. Sein Werk stellt den Übergang von der mittelalterlichen Scholastik zur modernen Philosophie dar. Als Mathematiker begründete er die analytische Geometrie.

René Descartes wurde am 31. März 1596 in der Touraine, in La Haye – heute La Haye Descartes – als jüngster Sohn eines Juristen geboren. Der Vater nannte seinen geistig sehr frühreifen Sohn »mon philosophe« und schickte ihn bereits mit zehn Jahren an das Jesuitenkolleg von La Flèche, wo er acht Jahre lang studierte. 1618 reiste Descartes nach Holland, um eine militärische Ausbildung zu erhalten. Zu Beginn des 30-jährigen Krieges nahm er vorübergehend Kriegsdienste in der Armee des Herzogs von Bayern. Im November 1619 träumte er von einer »wunderbaren Wissenschaft« (»science admirable«) und erblickte darin ein Zeichen des Himmels, dass er den Rest seines Daseins der Wahrheitssuche widmen solle. Von 1628 bis 1649 lebte er in verschiedenen Städten in Holland, wo er, ungestört von allen Verwandten und Bekannten, die vollkommene Muße zum Forschen wie auch Sicherheit und Forschungsfreiheit fand. Als Galilei 1633 von der Inquisition verurteilt wurde, verzichtete Descartes aus Vorsicht auf die Veröffentlichung seines »Traité du Monde«.

Seine Devise lautete: »Hoc theatrum mundi conscensurus, larvatus prodeo.« (»Wenn ich diesen Schauplatz der Welt betrete, trage ich eine Maske.«) Gemäß diesem Wahlspruch versuchte Descartes, ein eher zurückgezogenes Leben zu führen und wenig Einblick in sein Privatleben zu gewähren. In einem Brief des Jahres 1647 befindet sich ein kurzer Satz über seine Kindheit: »Als ich noch ein Kind war, liebte ich ein Mädchen meines Alters, das ein wenig schielte …« (»Lorsque j’étais enfant, j’aimais une fille de mon âge qui était un peu louche …«). In den Taufregistern von La Haye des Jahres 1596 befinden sich zwei Mädchen, die beide Françoise hießen. Man vermutet, dass eine davon seine Kindheitsfreundin war, denn als ihm später eine Tochter geboren wurde, ließ er sie auf den Vornamen Francine taufen.

Helene und Francine

Nach einem Aufenthalt in Deventer wohnte Descartes in den Jahren 1633 bis 1635 am Westermarkt in Amsterdam, zwischen der Prinsengracht und der Kaisergracht. Den Haushalt führte eine holländische Dienstmagd aus Deventer, Helene, die der Gelehrte seit einigen Jahren kannte und mit der er ein Verhältnis hatte. Sein Biograph, der Geistliche Baillet, schrieb 1691, dass es eine »so geheime Eheverbindung« gewesen sei, dass auch die subtilsten Kanoniker sie beim besten Willen nicht vom Konkubinat unterscheiden könnten. Entschuldigend fügte er hinzu, dass es »für einen Mann, der sein ganzes Leben die seltsamsten Operationen der Anatomie durchführen musste, schwierig war, die Tugend des Zölibats streng zu praktizieren.«

Als »cartesianischer« Mensch notierte Descartes gewissenhaft die wichtigen Ereignisse seiner Existenz. So hielt er auf der ersten Seite eines Buches fest, dass er am Sonntag, dem 15. Oktober 1634, mit seiner Magd Helene ein Kind gezeugt hatte.

Das Kind kam am 19. Juli 1635 in Deventer zur Welt und wurde am 7. August in der dortigen reformierten Kirche auf den Namen »Fransintge« getauft. Im Taufregister finden sich folgende Eintragungen: »Vader: Reyner Jochems (René, Sohn des Joachim). – Moeder: Hijlena Jans (Helene, Tochter des Johannes). – Kint: Fransintge«. Es wird allgemein angenommen, dass die Jahre, die Descartes als Vater einer kleinen Tochter verbrachte, zu den glücklichsten seines Daseins zählten. Seine Korrespondenz in diesen Jahren ist von einer seltenen Heiterkeit geprägt. Auffallend ist ebenfalls, dass er in diesem kurzen Zeitraum von 5 Jahren seine bedeutendsten Werke schrieb: »Discours de la Methode«, die drei »Essais«: »La Dioptrique«, »Les Météores«, »La Géométrie« und »Les Méditations métaphysiques«. Als französischer Edelmann hatte er allerdings Bedenken, sich öffentlich zu dieser »unebenbürtigen« Beziehung zu bekennen und das uneheliche Kind zu legitimieren. Immerhin hatte er die Absicht, Francine später nach Paris zu schicken und einer Verwandten anzuvertrauen. Da Madame du Tronchet die Mutter eines Kanonikus der Sainte-Chapelle war, nimmt man an, dass Descartes seiner Tochter eine katholische Erziehung geben wollte, oder, wie der Biograph de Sacy schreibt, sie der »Religion seiner Amme und seines Königs« zurückzugeben. (»La rendre à la religion de sa nourrice et de son roi.«)

Nach der Veröffentlichung des »Discours« im Sommer 1637 ließ Descartes sich in Sandport am Meer nieder und gab Francine als eine Nichte aus, die er um sich haben wollte. Der Vermieterin stellte er Helene als die Erzieherin des Kindes vor. So hatte diese nichts gegen die Anwesenheit der beiden einzuwenden. Ähnliche Verhältnisse waren im toleranten Holland damals keine Seltenheit. Auch Rembrandt lebte in Amsterdam mit seiner Dienstmagd Hendrikje Stoffels zusammen, die ihm die Tochter Cornelia gebar.

Dennoch gab es Menschen, die Anstoß an der freien Beziehung des Philosophen nahmen, die hässliche Verleumdungen und Gerüchte darüber ausstreuten. So unterstellten sie ihm z.B., er habe mehrere uneheliche Kinder. Darauf erwiderte Descartes mit entwaffnender Offenheit in einem Brief an Voetius: »Und wirklich, wenn ich solche hätte, würde ich sie nicht verleugnen: vor kurzem noch war ich ein junger Mann und auch jetzt noch bin ich ein Mensch und ich habe nie ein Keuschheitsgelübde abgelegt (›neque umquam castitatis votum feci‹).«

Die Trauer eines Philosophen

In einem 1996 erschienenen pseudo-autobiographischen Werk von Brigitte Hermann »Histoire de mon esprit« schildert Descartes seine Vaterfreuden mit Francine, seine Spiele, seine Spaziergänge mit dem Kind am Meeresstrand … Das Familienidyll dauerte jedenfalls nicht sehr lange. Als er 1640 in Leiden weilte, um einen Verleger für seine »Méditations« zu finden, erreichte ihn am 30. August ein ängstliches Schreiben von Helene, der Körper Francines sei ganz von Röte bedeckt. Descartes eilte nach Hause, aber er musste ohnmächtig zusehen, wie das Scharlachfieber sich verschlimmerte und das Kind dahinraffte. Francine starb in Amersfoort am 7. September 1640.

Der schon erwähnte Roman widmet dieser Agonie mehrere ergreifende Seiten, die sicher nicht weit an der Wirklichkeit vorbeitreffen. »Es war ein leises Absteigen in den Tod, und diese beiden Wesen, die ich liebte, Helene und Francine, die ich nur gewagt hatte, Dienstmagd und Nichte zu nennen, teilten meinen Schmerz und meine Verzweiflung. Sie lag im Sterben! Ich hoffte noch auf das Unmögliche, und dennoch sah ich sie vor meinen Augen ersticken, ohne dass ihre Lungen sich noch entfalten konnten. Mein Herz zersprang beim Gedanken, dass ich auf immer von diesem kindlichen und liebenden Geschöpf getrennt würde, dass ihm die Zukunft und das Leben verweigert würden … Ich empfahl meine geliebte Kleine der Muttergottes, ich rief Christus und alle Heiligen an, über sie zu wachen und sie zu retten … Ich warf mir heftig vor, meine Tochter vernachlässigt zu haben …«

Der erste Biograph, der Geistliche Baillet, erwähnt diese Vaterschaft des Philosophen nur sehr kurz, man spürt seine Verlegenheit bei dieser »fleischlich-sündigen Verirrung« des großen Gelehrten. Dennoch muss er bekennen: »Er beweinte sie mit einer Zärtlichkeit, die ihm zu fühlen gab, dass die Philosophie die natürlichen Gefühle nicht erstickt.« (»II la pleura avec une tendresse qui lui fit éprouver que la philosophic n’étouffe point le naturel.«) Dann folgt eine Aussage, die eindeutig belegt, dass hier der Philosoph des »Cogito ergo sum«, des gefühlsscheuen Rationalismus, zutiefst getroffen war, wie nie mehr sonst in seinem Leben: »Er beteuerte, dass sie ihm durch ihren Tod den größten Schmerz gegeben, den er je in seinem Leben empfunden habe.« (»Le plus grand regret qu’il eût jamais senti de sa vie.«) In einem vier Monate später geschriebenen Brief machte er auch das bezeichnende Eingeständnis, dass »er nicht zu jenen zähle, die der Meinung seien, dass Tränen und Trauer nur zu den Frauen gehören.«

Mitte Januar 1641 schrieb Descartes über seine Trauer: »Ich habe seit kurzem den Verlust von zwei Personen erfahren, die mir sehr nahe standen (der Vater Joachim war am 27. Oktober im 78. Jahr verstorben). Ich habe die Erfahrung gemacht, dass diejenigen, die mir die Trauer verbieten wollten, diese hervorriefen, wohingegen ich getröstet wurde durch das Mitgefühl jener, die ich von meinem Unglück betroffen sah.« (»J’ai senti depuis peu la perte de deux personnes qui m’étaient très proches et j’ai éprouvé que ceux qui me voulaient défendre la tristesse, l’irritaient, au lieu que j’étais soulagé par la complaisance de ceux que je voyais touchés par mon déplaisir.«)


Descartes am Sterbebett seiner Tochter

In seinem Briefwechsel mit der Prinzessin Elisabeth, der Tochter des abgesetzten Königs von Böhmen, vertiefte Descartes gewisse Punkte seiner Philosophie. Vor allem legte er dar, fast wie ein Beichtvater, wie die Seele aus eigener Kraft alle Widrigkeiten des Schicksals überwinden könne. Er bemühte sich, die souveräne Überlegenheit der Tugendübung über alle irdischen Güter, wie Ehre, Reichtum und Macht, zu beweisen. Als unmittelbare Folge dieser fast stoischen Tugendlehre trennte er sich von Helene. Baillet stellte erleichtert fest, dass sein Geistes- und Tugendheld sich schnell von seinem Fall erhoben habe (»relevé promptement de sa chute«) und dass er »sein Zölibat in seiner ersten Vollkommenheit wiederhergestellt habe.«

In seinem letzten Werk, dem Traktat der Leidenschaften (»Les Passions de l’âme«, 1649) kam er zwar zur Schlussfolgerung, dass alle Leidenschaften gut seien (»elles sont toutes bonnes«), d.h., dass sie eine nützliche Rolle bei der Erhaltung des Lebens spielten, aber man müsse auch die Mittel kennen, um sie geschickt zu beherrschen. So könnten sie den Menschen berühren, ohne ihn zu versklaven. Dann gesteht er den Leidenschaften zu, dass sie dem Menschen erlauben, »die größte Süßigkeit in diesem Leben zu kosten« (»de goûter le plus de douceur en cette vie«).

Descartes starb in Stockholm, wohin ihn die schwedische Königin Christine eingeladen hatte. Jeden Morgen früh um 5 Uhr ließ sie ihn zu sich kommen, um mit ihm zu philosophieren und die Pläne einer Akademie zu besprechen. Der Philosoph erkältete sich im »Lande der Bären«. Am 2. Februar verrichtete er noch alle Frömmigkeitsübungen, nahm das Abendmahl und wurde bettlägerig. Er starb an einer Lungenentzündung am 11. Februar 1650, im Alter von 53 Jahren. Ironie des Schicksals: Der Hauptbegründer der modernen Verstandesphilosophie wurde als Katholik auf dem »Friedhof für ungetaufte und verstandesunreife Kinder« beigesetzt. Seine sterblichen Überreste wurden später getrennt – der Körper 1667, der Schädel 1821 – nach Frankreich übergeführt.


Descartes unterrichtet die Königin von Schweden

Im Jahr 1798 (An VII) gab Nicolas Ponce (1746–1831) sein Werk »Les Illustres Français« heraus. Das Portrait des Philosophen ist von einigen Szenen umgeben. Die ergreifendste davon zeigt Descartes, wie er seine Arme nach seiner Tochter ausstreckt, die sich auf ihrem Sterbebett ihm entgegenhebt. Der Bildtext lautet: »Seine fünfjährige Tochter stirbt in seinen Armen. Er ist untröstlich darüber.« (»Sa fille âgée de cinq ans meurt dans ses bras. II en est inconsolable.«) Ein anderes Bild illustriert die Ursache seiner tödlichen Erkältung: »Er erteilt der Königin Christine von Schweden Unterricht um 5 Uhr morgens im Winter.«

Adrien Baillet: La vie de Monsieur DesCartes. Paris 1691.

Brigitte Hermann: Histoire de mon esprit ou le roman de la vie de René Descartes. Bartillat 1996.

Andre Glucksmann: Descartes, c’est la France. Flammarion. Paris 1987.

Germaine Lot: René Descartes. Esprit-Soleil. Seghers. Paris 1966.

Geneviève Rodis-Lewis: Descartes. Calmann-Lévy. Paris 1995.

Samuel de Sacy: Descartes. Seuil. Paris 1996.

Requiem für ein Kind

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