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Stadt der blanken Nerven

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Als die Stadt Bern am 6. Dezember 1992 erstmals rot-grün wählte, ahnte niemand, dass daraus mehr würde als ein kurzer Spuk. Aber es wurde die aus damaliger Sicht unvorstellbare Geschichte der bürgerlichen, bedächtigen Verwaltungsstadt, die sich in eine progressive urbane Hochburg verwandelte. Mit Ausnahme von Lugano sind alle Schweizer Grossstädte rot-grün regiert, aber keine von ihnen hat sich seit 1992 so weit nach links bewegt wie Bern.

Die rot-grüne Erfolgsgeschichte inmitten des durch und durch bürgerlichen Kantons Bern mutet an wie ein strategisches Meisterstück. In Tat und Wahrheit war sie eine oft zufällige Abfolge von Geistesblitzen und Fehltritten, von Fleiss und Nachlässigkeit, von Ehrgeiz und Erniedrigung. Mitunter ging es im Erlacherhof, im noblen Sitz des Stadtpräsidenten, in der ­rot-grünen Ära nicht anders zu als an einem Königshof. Man rang und ringt mit bösen Intrigen, listigen Winkelzügen, kleineren und grösseren Gemeinheiten um Einfluss. So, als hätte man den Beweis erbringen wollen, dass auch Linke bereits auf der Stufe Lokalpolitik nicht davor gefeit sind, der Versuchung und der Bequemlichkeit der Macht zu erliegen.

Im Dezember 2019 las der preisgekrönte, umstrittene Schriftsteller Lukas Bärfuss in der Rössli-Bar der Reitschule vor vorwiegend jungem Publikum aus seinem Werk. «Wi isch dr nöi Stapi?», fragte er nach der Bierpause beiläufig und meinte den seit 2017 regierenden Grünen Alec von Graffenried. «Scheisse», tönte es grob zurück. Bärfuss schwieg. So kann es sich anhören im links regierten Bern, das der Reitschule seit bald dreissig Jahren wohlgesinnt ist. Unter der oberflächlichen Harmonie des rot-grünen Wohlgefühls grassieren Neid und Missgunst, so dass beim Regieren und Regiertwerden auch persönliche Verletzungen, Rachegefühle und unverdauter Ärger mitwirken.

Bern, vor dreissig Jahren eine steife, verunsicherte Stadt mit sozialen, finanziellen und ökologischen Problemen, strotzt vor Sauberkeit, Lebendigkeit und Selbstbewusstsein, das bisweilen in Selbstüberschätzung kippt. Das ist, in einem Satz, der Leistungsausweis von Roten und Grünen seit 1992. Dafür wurden sie politisch überproportional entschädigt. Je länger sie an der Macht waren, desto deutlicher bestätigten die Stimm- und Wahlberechtigten den linken Kurs. Die Kehrseite: Rot-Grün konnte sich in den letzten fast dreissig Jahren Skandale, Peinlichkeiten und Unterlassungen leisten, ohne dass die Vormachtstellung gefährdet wurde.

«Was sich veränderte, als Bern plötzlich von einer Rot-Grün-Mitte-Mehrheit regiert wurde, versteht man nur, wenn man weiss, wie es vorher war», sagt der Filmemacher, Journalist und Fotograf Bernhard Giger, Leiter des Kornhausforums. Giger hat sich künstlerisch und journalistisch intensiv mit dem Bern vor und nach der rot-grünen Wende befasst. In seinem Spielfilmerstling «Winterstadt» von 1981 sah man eine finstere, unterkühlte Stadt, durch die nur wenige Menschen schlichen, und die einzigen Orte, an denen widerspenstiges Leben keimte, befanden sich unter der Erde, in den Altstadtkellern der Nonkonformisten.

Bern - eine Wohlfühloase?

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