Читать книгу Die europäische Integration - Jürgen Elvert - Страница 12

Socialitas, Balance of Power und Ewiger Frieden

Оглавление

Hugo Grotius prägt eine neue europäische Rechtsauffassung

Wesentlichen Anteil an der Ausdifferenzierung dieser neuen europäischen Rechtsauffassung hatte der niederländische Rechtsphilosoph Hugo Grotius, der ebenso als Theologe, Humanist, Historiker und Politiker hervortrat und heute als Mitbegründer des modernen Völker- und Natur- bzw. Vernunftrechts gilt. Das Europaverständnis Grotius’ war noch stark vom Gedanken der christianitas beeinflusst. In ihrem Sinne wollte er die europäische Christenheit unter Berücksichtigung konziliarer Gesichtspunkte neu ordnen. Die Funktionsfähigkeit des europäischen Staatensystems sollte durch den Aufbau korporativer Strukturen sichergestellt werden. Dafür schlug Grotius beispielsweise die Einrichtung eines europäischen Staatenkongresses und eines höchsten europäischen Schiedsgerichts vor, das für die Lösung interstataler Konflikte zuständig sein sollte.

Societas gentium und socialitas der europäischen Völker

Im Mittelpunkt seiner Überlegungen stand die Frage nach einem Regelwerk, das das Funktionieren eines Europas als Verband christlicher Staaten gewährleisten konnte. Zeit seines Lebens widmete er sich daher der Suche nach Möglichkeiten, wie eine Wiederherstellung der Einheit der in Konfessionen zerfallenen lateinischen europäischen ecclesia zu erreichen war. Seiner Meinung nach mussten dafür die Rahmenbedingungen der neuen Verhältnisse zwischen Staat und Kirche, Herrscher und Volk, Völkern und Staaten, die allesamt unter dem „natürlichen Recht des Menschen und der Menschheit“ standen, adäquat formuliert werden. Damit schuf er die Grundlage für ein primär naturrechtlich hergeleitetes Verständnis von der „societas gentium“, das als Ausgangspunkt beinahe aller späteren Entwürfe für eine socialitas der europäischen Völker dienen sollte. Zwar strebten auch nach Grotius die großen europäischen Nationen unter Vorherrschaft der führenden Häuser (insbesondere Spanien und Frankreich bzw. der Häuser Habsburg und Bourbon) nach einer hegemonialen Rolle auf dem Kontinent. Je näher aber die Höfe der Suprematie zu sein glaubten, umso heftiger wurde der Widerstand der bedrängten Europäer gegen „viehische Servitut“ und Universalmonarchie. Wer immer hegemoniale Pläne zu Fall gebracht hatte, galt als „großer Europäer“. Ein prominentes Beispiel dafür wäre Wilhelm III. von Oranien. Dieser widersetzte sich als vom englischen Parlament eingesetzter Monarch nicht nur erfolgreich den Versuchen Jakobs II., die englische Krone zurückzugewinnen, sondern verzichtete zudem in der „Declaration of Rights“ (1689) auf bestimmte königliche Prärogative zugunsten des Parlaments.

Englische Ordnungsmodelle

Die Entwicklung im England des ausgehenden 17. Jahrhunderts stand in einem direkten Verhältnis zu den Ereignissen in Kontinentaleuropa, wo die Häuser Habsburg und Bourbon sich in einer verbissen geführten Auseinandersetzung um die Hegemonie in Europa gegenseitig paralysierten. Dieser Konflikt endete 1713 im Frieden von Utrecht. In Artikel II des Friedensvertrages wurde festgehalten, dass fortan die Ruhe und der Frieden des christlichen Erdkreises auf ein gerechtes Gleichgewicht der Macht (iusto potentiae equilibrium) gegründet werden sollen. Deshalb gilt der Vertrag als erstes Musterbeispiel für die Umsetzung eines Leitmotivs europäischer Politik, das sich in den einschlägigen Politikentwürfen des 17. Jahrhunderts herauskristallisiert hatte: das Gleichgewichtsprinzip. Es entwickelte sich aus der Erkenntnis heraus, dass es zwischen den werdenden souveränen Staaten Europas weder eine institutionalisierte Form der Zusammenarbeit noch allgemein anerkannte Prinzipien für das Regulieren der Machtverhältnisse gab. Für diese Erkenntnis spielten staatstheoretische Konzeptionen eines Bodin oder Machiavelli, aber auch eines Thomas Hobbes oder John Locke eine wichtige Rolle, die unter dem Eindruck der Entstehung eines neuen, die zwischenstaatlichen Beziehungen regelnden Rechts sowie als Ausdruck des humanistischen Bildungsbegriffs formuliert wurden. Sie prägten seit dem frühen 16. Jahrhundert die Vorstellung, das Verhältnis der europäischen Staaten unter- und zueinander könnte auf dem Prinzip des Gleichgewichts ruhen.

Das Balance-Prinzip

Zunächst als regionales Ordnungsprinzip von Francesco Guicciardini für die italienische Staatenwelt entwickelt, empfahlen venezianische Diplomaten das Prinzip vor dem Hintergrund der spanisch-französischen Machtrivalität als Ordnungsmodell für den europäischen Kontinent insgesamt. Seither finden sich immer wieder in staatstheoretischen Entwürfen Hinweise auf das Balanceprinzip als empfehlenswerter Ausweg aus zwischenstaatlichen Krisen. So erklärte Francis Bacon das Staatengleichgewicht zu dem vernünftigsten Gestaltungsprinzip für alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens. James Harrington ließ seine Idealrepublik Oceana (1656) im Inneren wie im Äußeren auf dem Gleichgewichtsprinzip ruhen. Und der kaiserliche Diplomat Franz Paul von Lisola brachte die neue raison d’être der europäischen Gleichgewichtspolitik auf den Punkt, als er es 1673 als eine jederzeit gehandhabte Staatsmaxime bezeichnete, die Staaten Europas so zu balancieren, „dass keiner unter ihnen zu solcher Größe gelangt, dass er den anderen furchtbar wird“.

Offensichtlich passte das Balanceprinzip in die Zeit. In ihm schien sich das im Bereich der Politik realisiert zu haben, was die aufblühende Naturwissenschaft auch als Bauprinzip von Mensch und Universum entdeckt zu haben glaubte. So ging beispielsweise die zeitgenössische Medizin von einem Gleichgewicht der verschiedenen Körpersäfte als Voraussetzung für Gesundheit aus. Isaac Newton zufolge musste sogar das ganze Weltall als ein gigantisches Equilibrium verstanden werden. Und in der Moralphilosophie der Zeit galt die Harmonie von Vernunft und Leidenschaften als Ausdruck der höchsten Form menschlicher Existenz.

Besondere Popularität genoss das Modell vom Gleichgewicht als politischem Ordnungsprinzip in Großbritannien, wo die politischen Entscheidungsträger im 18. Jahrhundert erkannten, dass das kontinentaleuropäische Staatengleichgewicht den Britischen Inseln wirtschaftliche Unabhängigkeit sicherte und die Machtentfaltung in Übersee ermöglichte. In dieser Hinsicht erwies sich die britische Randlage in Europa durchaus als Vorteil. So kann es nicht überraschen, dass das Gleichgewichtsprinzip in vielerlei Hinsicht auch Gegenstand von staatstheoretischen Überlegungen war. David Hume beispielsweise unternahm in seinem Essay „On the Balance of Power“ (1752) den Versuch, dem Gleichgewichtsprinzip historische Dignität zu verleihen. Dabei diente ihm die Antike als Vorbild, in der schon Polybios ausdrücklich gefordert habe, dass „man niemals die Vorsicht außer Acht lassen darf, niemals einer Macht zu einer solchen Höhe verhelfen darf, dass man ihr gegenüber nicht einmal die vertraglich festgelegten Rechte zu behaupten vermag“. Hume folgerte daraus, dass Großreichsbildungen der menschlichen Natur an sich widersprachen.

Aber auch jenseits der britischen Grenzen dominierte der Gleichgewichtsgedanke. Durch die Aufklärung begünstigt, erhoben ihn manche Denker geradezu zu einem geschichtsphilosophischen Prinzip. So konnte Jean-Jacques Rousseau etwa zeitgleich mit Hume feststellen, dass das „vielgerühmte Gleichgewicht“ von niemandem geschaffen, sondern einfach da sei und nur sich selbst brauche, um sich zu erhalten. Wenn man es auch nur vorübergehend in einem Punkt verletzte, würde es sich alsbald in einem anderen wiederherstellen. Eine ähnliche Meinung spiegelt sich in der Geschichtsphilosophie Johann Gottfried Herders. Auch für ihn galt ein Zustand von Harmonie und Gleichgewicht als ein Meilenstein auf dem Weg der Menschheit zur wahren Humanität. Dieser Prozess verlaufe jedoch, so Herder, nicht gradlinig. Stattdessen werde das „Gleichgewicht der Vernunft“ immer wieder durch Leidenschaften gestört. Er zweifelte aber nicht daran, dass sich Vernunft und Billigkeit, das Gleichgewicht gegeneinander strebender Kräfte, letztlich immer durchsetzen würden, da auf dieser Harmonie „der ganze Weltbau“ ruhe.

Immanuel Kant hingegen glaubte nicht daran, mittels einer Machtbalance in Europa zu einem dauerhaften Frieden gelangen zu können. Aber auch wenn er dies für ein „Hirngespinst“ hielt, ging er trotzdem davon aus, dass der zu erstrebende Zustand der öffentlichen Staatssicherheit die Menschen nötigen würde, ein Gesetz der Balance und eine vernünftige vereinigende Gewalt, die demselben Nachdruck geben müsse, aufzufinden. Damit entwickelte Kant das Konzept eines universalen Gleichgewichts der politischen Welt als mögliche und moralisch notwendige Vorstellung eines „ewigen Friedens“. Dass dieser Frieden letztlich ein europäischer Frieden sein würde, liegt in der Logik seiner Gedankenführung. So gesehen, sind auch die Friedensutopien des 18. Jahrhunderts Ausdruck eines Europabewusstseins, das die Staaten trotz der blutigen Kriege, die sie untereinander führten, als Mitglieder einer Völkergemeinschaft verstand. Eine solche Sichtweise findet sich in zahlreichen Schriften der Zeit. Voltaire begriff Europa ausdrücklich als eine literarische Republik, bei Edmund Burke lesen wir von dem „Bürger Europas“, der sich nirgendwo auf dem Kontinent wirklich als Fremder fühlen könne.

Die europaweite Rezeption und Diskussion des Gleichgewichtsgedankens im 18. Jahrhundert warf die Frage nach dem Inhalt des Europabegriffs auf. Dass es sich bei dem europäischen Staatensystem um ein Phänomen handelte, dessen einzelne Gliedstaaten nur im Rahmen einer europäischen Lösung durch die Errichtung eines zwischenstaatlichen Gleichgewichts Schutz vor allzu machthungrigen Großmächten finden konnten, wurde in vielen Schriften politischer Publizisten thematisiert. Aus Sicht der Aufklärung schien ein solcher Lösungsweg nicht nur vernünftig zu sein, sondern geradezu einen Königsweg zur Herstellung internationaler politischer Stabilität darzustellen. Gleichwohl scheiterte die Realisierung dieses Konzepts Ende des 18. Jahrhunderts an der Französischen Revolution und damit an einer Bewegung, der es ursprünglich nur um die nationale Erneuerung Frankreichs gegangen war, deren Dynamik jedoch rasch ganz Europa erfassen sollte.

Die europäische Integration

Подняться наверх