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„Europäismus“ und Nationalstaat

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Diese Erfahrungen bildeten den Nährboden für ein geistesgeschichtliches Phänomen, den so genannten „Europäismus“ des 19. Jahrhunderts als einer Bewegung, die – wie es zunächst scheint – paradoxerweise in einer Zeit an Bedeutung gewann, die gemeinhin als das Zeitalter des Nationalstaats gilt. Es war eine im Wesentlichen von Intellektuellen getragene Bewegung, die in einem europaweiten Diskurs ihre Überlegungen austauschten und weiterentwickelten. Die mediale Erörterung europäischer Zukunftsentwürfe zur Lösung gegenwärtiger Probleme beeinflusste das Bewusstsein und die Wahrnehmung der Öffentlichkeit stärker als die Politik der Regierungen, die den Zeitgenossen meist verborgen blieb. Europa wurde so unabhängig von der Aktualität jeweiliger politischer Zielsetzungen und unabhängig von fremder Sicht definiert als ein ebenso gedachtes wie gewolltes Europa. Lange Zeit hat die Forschung diesem Phänomen nur verhältnismäßig geringe Beachtung geschenkt. Es spielte in den 1950er und 1960er Jahren besonders in der deutschen, französischen und italienischen Historiographie eine gewisse Rolle, als es darum ging, den europäischen Integrationsprozess in Gang zu setzen. Angesichts vermeintlich oder tatsächlich bedeutenderer Probleme und Fragestellungen geriet es dann über ein Vierteljahrhundert lang in Vergessenheit und wurde erst an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert angesichts der anstehenden EU-Osterweiterung und der damit verbundenen Struktur- und Verfassungsproblematik wiederentdeckt.

Rezeption des napoleonischen Europäismus

Die frühe nachkriegszeitliche Forschung hatte den Nachweis dafür erbracht, dass sich das Europabild im Verlauf des 19. Jahrhunderts tiefgreifend wandelte und keineswegs von irgendeiner politischen Richtung oder geistigen Bewegung exklusiv für sich beansprucht werden konnte. Wie bereits gezeigt wurde, schieden sich schon am Europäismus Napoleons I. die Geister. Für die einen war Napoleon „die Weltseele“ in Person (Hegel) bzw. „der große Klassiker“ (Heine), den schon Goethe und Beethoven bewundert hätten. Die anderen sahen ihn als den Erbauer einer europäischen Militärmonarchie, der sein Reich nur mit militärischen Mitteln zusammenhalten konnte. Unabhängig davon, welches Napoleonbild favorisiert wurde, diente sein europäisches Herrschaftsmodell vielen späteren Konzepten als Ausgangspunkt – im Guten wie im Schlechten, in jedem Fall aber als Matrix für die Entwürfe europäischer Identitäten. Diese waren unterschiedlicher Herkunft, manche stammten aus aufgeklärt-liberal-republikanischen Kreisen, andere Vorstellungen waren erkennbar konservativpragmatisch geprägt, in einigen wurden komplette europäische politische Systeme entworfen, in anderen ging es zunächst um bloße ökonomische Fragen, wieder andere sind so vage, dass sie sich nur schwer zuordnen lassen. Aus der Rückschau betrachtet fällt allerdings auf, dass die kühnen und weitreichenden Entwürfe in der Regel früher entstanden als die eher auf Bewahrung bzw. Sicherung des Erreichten zielenden. Offensichtlich gewannen die europäischen Visionen bis zur Jahrhundertmitte und darüber hinaus an politischem Gehalt. Insbesondere in konservativen Europavorstellungen wurden öfter politische Zielsetzungen mit Machbarkeitsaspekten verbunden. Hier spielten missionarische Beweggründe kaum eine Rolle, stattdessen dominierte die Frage nach der Stellung der europäischen Staaten zueinander sowie, daran anknüpfend, die nach der Stellung des europäischen Kontinents im globalen Kontext.

Republikanische Europakonzepte aus der Zeit des Vormärz

Europa als ein Raum, in dem es eine neue, demokratisch und sozial gerecht organisierte Gesellschaft zu schaffen galt, dominierte dagegen in Konzepten des „fortschrittlichen“ politischen Spektrums, in dem der liberaldemokratische Flügel des Besitzbürgertums ebenso vertreten war wie doktrinäre Sozialisten. Letztere beriefen sich zumeist auf die Schriften Babeufs und Fouriers, besonders aber auf die des Grafen Saint-Simon, der bereits im Jahre 1814 intensiv über eine sozial gerechte Reorganisation der europäischen Gesellschaft nachgedacht hatte. Diese hatten auch in Deutschland zahlreiche Rezipienten gefunden, unter ihnen Georg Büchner und Heinrich Heine, und dienten ihnen als Grundlage ihrer Kritik an den bestehenden Verhältnissen im Deutschen Bund. Aufgrund ihrer regimekritischen Haltung mussten viele europäische Oppositionelle Zuflucht in Frankreich suchen. Allein die deutsche Exilkolonie in Paris zählte Mitte der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts über 20.000 Köpfe, darunter so prominente Querdenker wie Moses Hess, Karl Marx und Arnold Ruge. Die Kontakte zu französischen Oppositionellenkreisen waren eng. Es kam zu durchaus fruchtbarer Zusammenarbeit, die getragen war von gegenseitigem Respekt und dem Willen zu einer Vertiefung der internationalen Kooperation.

Für eine deutliche Mehrheit der europäischen „linken“ Demokraten bestand kein Zweifel daran, dass es neben dem Nationalstaat in der politischen Struktur Europas eine übergreifende Form der kontinentalen Gesamtrepräsentation geben müsse. Saint-Simons Studie von 1814 und besonders seine hierin entwickelten Pläne von der Schaffung eines europäischen Völkerbundes boten dabei einen attraktiven Bezugspunkt, war er doch davon ausgegangen, dass eine solche Einrichtung notwendigerweise dazu beitragen würde, die „Missstände geringfügiger werden, die Unruhen sich legen, die Kriege aufhören“ zu lassen. Dieser Plan sei jedoch nur dann zu verwirklichen, wenn jede europäische Nation von einem Parlament regiert werde, welches wiederum die Oberhoheit eines Generalparlaments anzuerkennen hätte, das über den direkt von den europäischen Bürgern gewählten Nationalregierungen zu stehen habe. Dabei stellte die wirtschaftliche Integration für Saint-Simon die Vorstufe einer engeren politischen Kooperation dar. Er strebte somit eine europäische Konföderation an, die eines Tages vielleicht von einem europäischen König geführt werden, jedoch niemals ohne das ausdrückliche Einverständnis Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands entstehen könnte.

Die Gedanken Saint-Simons boten oppositionellen Kreisen in ganz Europa genügend Ansatz- und Bezugspunkte, um sie in die eigenen Überlegungen mit einzubeziehen. So sorgten Saint-Armand Bazard und Enfantin nach der Juli-Revolution von 1830 in Frankreich für eine veritable Saint-Simon-Renaissance, als sie aus einer dezidiert sozialistischen Perspektive den Staat als „Assoziation der Werktätigen“ organisieren wollten. In Deutschland stießen insbesondere Saint-Simons europapolitische Pläne auf Widerhall. Der Ruf nach einem „könföderierten republikanischen Europa“, der auch auf dem Hambacher Fest (1832) laut wurde, eignete sich trefflich zur Definition des eigenen regierungskritischen Standpunktes, ohne dass daran bereits verbindliche politische Überlegungen oder gar die Aufgabe eigener einheitsstaatlicher Forderungen geknüpft werden mussten. Schließlich setzte die Gründung eines europäischen Staatenbundes die Schaffung des deutschen oder italienischen Nationalstaats erst voraus. Auch schloss das republikanische Element der Konföderation weder die Existenz einer konstitutionellen Monarchie noch die eines sozial gerechten oder sozialistischen Gemeinwesens in einem der Mitgliedstaaten aus.

Die „Giovine Italia“ des Giuseppe Mazzini

Auch in Italien wurde die Frage der demokratisch legitimierten nationalen Einigung im europäischen Kontext intensiv erörtert. Zu den Wortführern zählte Giuseppe Mazzini, der als überzeugter Nationalist und Radikalrepublikaner ebenfalls nach Frankreich flüchten musste, wo er 1831 die „Giovine Italia“ (Junges Italien) gründete. In seinen Schriften stehen Forderungen nach nationaler Unabhängigkeit gleichberechtigt neben solchen nach einem freiwilligen Zusammenschluss der europäischen Nationalstaaten zu einer demokratischen Konföderation. Mitte der 1830er Jahre vereinigten sich die „jungen Italiener“ mit zwischenzeitlich in Deutschland und Polen entstandenen Schwesterorganisationen zum „Jungen Europa“, einer übernationalen Gemeinschaft, die sich den politischen Grundsätzen Mazzinis verpflichtet fühlte, in der es aber von vornherein neben der politisch-liberalen Komponente eine stark von der Romantik beeinflusste literarische Strömung gab. Die Signalwirkung, die von dieser Gründung ausging, war beachtlich: In all jenen Regionen Europas, wo nationale Bewegungen bisher weitgehend auf sich selbst gestellt darum gekämpft hatten, nationale Unabhängigkeit zu erlangen, entstanden neue Schwesterorganisationen, die sich denselben Zielen und Idealen verpflichtet fühlten wie die „jungen Europäer“ von 1834. Die Gründung der wohl letzten nationalen Organisation in dieser Tradition belegt noch einmal nachhaltig sowohl die Reichweite als auch die Tragfähigkeit ihrer Ideen: Als sich Anfang der 1840er Jahre irische Nationalisten zum „Young Ireland“ zusammenschlossen, existierte das „Junge Europa“ bereits seit vier Jahren nicht mehr, es war schon 1836 wieder aufgelöst worden.

Das Junge Deutschland

Manche im Umfeld des „Jungen Deutschland“ entstandenen Überlegungen erinnern an jene vom deutschnationalen Sendungsbewusstsein getragenen Konzepte des frühen 19. Jahrhunderts, die im Geiste der idealistischen Geschichtsphilosophie dem deutschen Volk die Reform der europäischen Staatenwelt quasi als eine von der Vorsehung erteilte Aufgabe zugesprochen hatten. Damit näherten sie sich wiederum den bürgerlich-liberalen und konservativen Denkern an, die von ihrem jeweiligen politischen Standort aus die Gestaltungsmöglichkeiten eines künftigen deutschen Nationalstaates an sich und dessen Position in Europa neu durchdachten. Man könnte sie als „utopische Nationalisten“ bezeichnen, da ihre Interpretation der deutschen Rolle im europäischen Kontext noch immer von den Herderschen Idealen geleitet wurde, was die Anerkennung der anderen europäischen Nationen als gleichberechtigte Partner (mit Ausnahme des als für die „Idee Europa“ gefährlich eingeschätzten Russland) mit einbezog. Wie brüchig ein solches Denkmodell jedoch war und wie groß die Gefahr eines Umschlages von einem offenen und toleranten „internationalen Nationalismus“ zu seinem dumpfen und chauvinistischen Gegenbild bei geeigneten Rahmenbedingungen sein sollte, wurde um 1840 deutlich. Als Folge der Orient- und Rheinkrise überwogen in weiten Kreisen der Bevölkerung beiderseits des Rheins gleichsam „über Nacht“ nationalistische Töne, während europäische Denkansätze weitgehend verschwanden.

Dieser Wandel der öffentlichen Meinung spiegelte sich in staatstheoretischen Konzepten der späten Vormärzzeit. Auch hier ist ein zwar langsamer, jedoch kontinuierlicher Perspektivenwandel festzustellen, der die jeweils eigene Nation zunehmend in den Mittelpunkt der verschiedenen politischen Entwürfe rückte. Allerdings waren diese noch weitgehend frei von dem aggressiven nationalistischen Sendungsbewusstsein, das dann für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts charakteristisch werden sollte. Stattdessen wirkte bei vielen, insbesondere konservativen Staatstheoretikern der 1840er Jahre, Hegels Diktum vom Primat des germanisch-protestantischen Prinzips in Europa weiter fort, das nach dessen Auffassung die Epoche seit der Reformation gekennzeichnet habe. So attestierte beispielsweise der Nationalökonom Lorenz von Stein Deutschland eine Schrittmacherfunktion in der germanischen Welt, um Europa einen Weg aus der als Krise empfundenen Gegenwart zu weisen. Darüber hinaus plädierte er für eine zentraleuropäische Achsenallianz, der neben Gesamtdeutschland Skandinavien im Norden und Italien im Süden angehören und deren vereinte Kraft eine wirtschaftliche Durchdringung des Balkanraums sowie weiter Teile des Nahen und Mittleren Ostens ermöglichen sollte.

Europa als Wirtschaftsraum – Die Überlegungen des Friedrich List

Damit stand er den ebenfalls wirtschaftspolitisch orientierten Überlegungen Friedrich Lists nahe, in denen sich dieser bereits seit etwa Mitte der 30er Jahre intensiv mit der Frage einer Intensivierung der deutschen Handelsbeziehungen zu den Balkanländern beschäftigt hatte. Zur Sicherstellung des wirtschaftlichen Wohlergehens einer rasch wachsenden Bevölkerung in Deutschland und mangels eigenen Kolonialbesitzes hatte List eine Expansion des deutschen Einflussraumes im europäischen Rahmen in bislang (aus wirtschaftlicher Sicht) relativ unerschlossene Gebiete empfohlen, wofür seiner Ansicht nach nur Südosteuropa in Betracht kam, weil es für Deutschland eine ähnliche Funktion als Hinterland habe wie der unerschlossene Westen für Nordamerika. Diese Regionen galt es, infrastrukturell möglichst eng an das „Mutterland“ anzubinden und einen einheitlichen „deutschungarischen Wirtschaftsraum“ zu schaffen, der von der Nord- und Ostsee bis ans Schwarze Meer reichte.

Karl Ludwig Freiherr von Bruck stellt in gewisser Weise das Bindeglied zwischen Friedrich List und Lorenz von Stein dar. Als Handelsminister legte er zwischen 1848 und 1851 den Grundstein für die Modernisierung des maroden österreichischen Wirtschaftssystems. Dabei war er davon überzeugt, dass angesichts des starken internationalen Wettbewerbs nur die Schaffung eines leistungs- und konkurrenzfähigen mitteleuropäischen Zoll- und Wirtschaftsraumes mit dem Deutschen Zollverein und dem Habsburgerreich als Kern langfristig das ökonomische Überleben der Staaten des Deutschen Bundes garantieren könne. Wenn Warenströme und Kapital erst ungehindert zwischen der Nord- und Ostsee und dem Schwarzen Meer hin- und herfließen würden, wäre damit auch der österreichisch-preußische Disput um die Vorherrschaft im Deutschen Bund zu Ende. Österreich hätte aus einer solchen Lösung wahrscheinlich den größeren Nutzen gezogen, da den Habsburger Landen aufgrund ihrer zentralen Lage in einem solchen mitteleuropäischen Wirtschaftsraum automatisch eine Schlüsselrolle zugefallen wäre. Hier lag das Problem, denn Bruck entwickelte seine Pläne zwischen 1849 und 1859 und damit zu einer Zeit, als der preußisch-österreichische Antagonismus immer deutlicher wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich das konservative Europa bereits gegenüber dem revolutionären durchgesetzt, die Erhebungen des Jahres 1848 waren niedergeschlagen worden. Das nationale Denken der 1830er Jahre, das die revolutionäre Bewegung 1848 maßgeblich mitbestimmt hatte, verengte sich unter dem Eindruck der Reaktion endgültig zum chauvinistischen Nationalismus.

Die europäische Integration

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