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Europa als geographischer Begriff
ОглавлениеDie geographische Aufteilung der Erde im Mittelalter
„Divisus est autem orbis trifarie, e quibus una pars Asia, altera Europa, tertia Africa nuncupatur“ – Aufgeteilt ist die Erde aber in drei Teile, von denen der eine Asien, der andere Europa, der dritte Afrika genannt wird. – In seinen in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts entstandenen „Etymologiae“, dem wohl bekanntesten Nachschlagewerk des Mittelalters, definierte der spanische Bischof Isidor von Sevilla Europa primär geographisch. Dabei griff er auf Überlegungen zurück, die auf Äußerungen des Kirchenvaters Augustin beruhten, dessen Auslegung der Trinitätslehre ihren Niederschlag ebenfalls in dem Bild von einer dreigeteilten Welt gefunden hatte. Der jüdisch-christlichen Tradition zufolge hatten Sem, Ham und Japhet als die drei Söhne des Erzvaters Noah je einen Erdteil als Erbe erhalten: Sem, der älteste, Asien, Ham, der mittlere, Afrika und Japhet, der jüngste, Europa. Schon im Mittelalter sprach man den Bewohnern dieser Erdteile bestimmte Merkmale und Charaktereigenschaften zu, zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert sollten diese dann als Unterscheidungskriterium in der neuen Lehre von der Ungleichheit der menschlichen Rassen dienen. Hinweise auf die Dreigliederung des Erdkreises finden sich öfter in mittelalterlichen Chroniken, so beispielsweise auch bei Beda Venerabilis im 8. oder bei Martin von Troppau im 13. Jahrhundert. Die verschiedenen Texte spiegeln allerdings unterschiedliche Vorstellungen von der Größe der einzelnen Erdteile und dem Verlauf der Grenzen zwischen ihnen. So liest man in Otto von Freisings „Historia de duabus civitatibus“ dazu: „Die früheren Schriftsteller erklären, es gebe drei Erdteile: Asien, Afrika und Europa. Deren ersten setzten sie an Größe den beiden anderen zusammengenommen gleich, manche nehmen jedoch nur zwei Erdteile an, nämlich Asien und Europa, wobei sie Afrika wegen seiner Kleinheit zu Europa rechnen.“
Jerusalem im Mittelpunkt des mittelalterlichen Weltbildes
Im Zentrum der mittelalterlichen Vorstellungswelt stand mit Asien jener Erdteil, in dem Jerusalem als Stadt des Heilsgeschehens lag. Unsicher war der Grenzverlauf zwischen den Erbteilen Sems und Japhets, also zwischen Asien und Europa. Die schriftlichen Überlieferungen erlauben die Rekonstruktion einer relativ klaren Trennungslinie von Bosporus und Dardanellen in Richtung Nil. Demzufolge galt Ägypten als ein Teil Asiens, während Afrika, auch Libyen genannt, wenn es überhaupt als eigenständiger Erdteil wahrgenommen wurde, westlich davon platziert wurde. Nördlich des Bosporus diente die Donaumündung, gelegentlich auch die Donmündung als Fixpunkt der Grenzmarkierung. Je weiter sich der Blick aber nach Norden richtete, desto unsicherer wurde der Befund. Mitte des 11. Jahrhunderts reichte er bis an die Nord- und Ostsee, Skandinavien hingegen wurde als eine „Insel“ jenseits des europäischen Kontinents wahrgenommen.
Damit wäre der im Mittelalter geläufige geographische Rahmen Europas abgesteckt. Er spiegelt im Wesentlichen den Kenntnisstand seit der Antike. Seit jeher hatte dabei die Abgrenzung Europas gegenüber Asien ein Hauptproblem dargestellt. In gewisser Weise gilt das noch heute, auch wenn der geographische Befund vergleichsweise klar ausfällt: Europa – das ist der flächenmäßig viertgrößte, an der Zahl seiner Einwohner gemessen sogar zweitgrößte Erdteil. Seitdem 18. Jahrhundert gilt der Ural als seine Ostgrenze zu Asien, obwohl dieses Mittelgebirge keine topographisch markante Barriere darstellt. Weiter nach Süden folgt der Grenzverlauf zu Asien dem Fluss Ural bis zum Kaspischen Meer, von hier aus verläuft er von der Manytschniederung zum Schwarzen Meer und, über Bosporus und Dardanellen, bis zur Ägäis. Mittelmeer, Atlantik, Nordmeer und Barentssee markieren die weiteren Grenzen des Kontinents als der stark gegliederten westlichen Halbinsel Asiens, die zusammen mit Asien die eurasische Landmasse bildet.
Der heutige Verlauf der geographischen Grenzen Europas
Die nicht zwingenden geographischen Gegebenheiten folgende Ostgrenze Europas deutet bereits an, dass es neben der Geographie noch andere Gesichtspunkte gibt, die die Selbständigkeit Europas als eines eigenständigen Kontinents gerechtfertigt erscheinen lassen. Insbesondere sind das seine geschichtlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Besonderheiten. Um aber den Raum von Lissabon im Westen bis Astrachan im Osten, von Hammerfest im Norden bis Palermo im Süden als eine geschichtliche, ökonomische und kulturelle Einheit aufzufassen, bedarf es fraglos eines sehr weiten Blickwinkels, da er bekanntlich von einer Vielzahl regional begrenzter Sonderentwicklungen geprägt wurde. Offensichtlich müssen weitere Binnendifferenzierungen vorgenommen werden, um die Besonderheiten des „gemeinsamen Hauses Europa“ zu begreifen. Die Dichotomie „Russland und Europa“ allein genügt nicht, da die russische Dimension weit über Europa hinausreicht und damit das bedeutendste Bindeglied der eurasischen Landmasse darstellt.
Das „gemeinsame Haus Europa“
Dieser Tatsache trägt die begriffliche Ambivalenz des russischen Europabegriffs Rechnung, denn auch wenn Michail Gorbatschow in den 1980er Jahren die Formulierung vom „gemeinsamen europäischen Haus“ geprägt und ihr eine zentrale Bedeutung in seinem politischen Zielkatalog beigemessen hatte, blieb unklar, was genau er darunter verstand, abgesehen davon, dass es in dem Haus friedlich zugehen und es Raum für verschiedene politische Systeme bieten sollte. Europa und Russland wurden als Synonyme gebraucht und so eine Perspektive genutzt, die der der Sibirier ähnelt, die unter Europa üblicherweise alles Land westlich des Urals verstehen. Jedoch gab es immer auch andere russische Blickwinkel auf Europa. So wollte Zar Peter der Große, als er mit dem Bau Sankt Petersburgs begann, erklärtermaßen „ein Fenster nach Europa öffnen“ – und nahm mit dieser Baubeschreibung nolens volens eine klare Trennung zwischen Russland und Europa vor.