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Das „Wiener System“

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Die Kongressakte schuf den Rahmen für das Verhältnis der europäischen Staaten zu- und untereinander durch den Versuch, ein Gleichgewicht herzustellen und verschiedene politische Handlungsprinzipien als Grundlagen einer künftigen europäischen Politik festzulegen. Die Balance der Staatenwelt sollte durch die Westverlagerung Preußens an den Rhein, die Bestätigung des österreichischen Einflusses auf dem Balkan und in Ober- und Mittelitalien, die Schaffung des Königreichs der Niederlande aus Belgien und Holland sowie eine erneute Teilung Polens einschließlich der Schaffung eines „Kongresspolens“, das in Personalunion mit Russland stand, erreicht werden. Unter den festgeschriebenen Handlungsmaximen kamen dem Legitimitäts- und dem Interventionsprinzip die größte Bedeutung zu.

Bundes- und Kongressakte als Grundlagen des „Wiener Systems“

Bundes- und Kongressakte bildeten die völkerrechtliche Grundlage des „Wiener Systems“, das auf dem Prinzip der Legitimität und der Intervention, dem der Machtbalance der europäischen Staatenwelt sowie dem der Neuordnung Deutschlands zu einem „unauflöslichen Bund“ von 41 souveränen und prinzipiell gleichberechtigten Staaten ruhte. Talleyrand hatte die Frage der Legitimität von Herrschaft in die Verhandlungen des Kongresses eingebracht. Ursprünglich wollte der Franzose damit den Siegermächten das Recht auf Annexion und Eroberung absprechen. Dabei definierte er Legitimität als nicht von naturrechtlichen oder gottgegebenen Prinzipien hergeleitet, sondern ausschließlich von der Fähigkeit einer Regierung bestimmt, die Gesetzlichkeit, Ordnung sowie die Wohlfahrt der Bevölkerung im Inneren eines Staates zu wahren. Seine Definition wurde im Laufe der Verhandlungen zu einem zentralen Ordnungsbegriff für die europäische Staatenwelt insgesamt weiterentwickelt, die erst dann als legitim gelten durfte, wenn alle beteiligten Mächte die Grundlagen der staatlichen Neuordnung Europas einvernehmlich akzeptiert hatten. Aus dieser Auffassung ließ sich jedoch auch für die Zukunft problemlos das Prinzip der legitimen Intervention für solche Fälle ableiten, wenn irgendwo in Europa die „legitimen“ Grundlagen des Wiener Systems ins Wanken gerieten. Dem dritten Stützpfeiler des Wiener Systems, der Neuordnung Deutschlands, wurde von vornherein eine starke gesamteuropäische Bedeutung beigemessen, denn durch die Aufnahme der Bundesakte in die Kongressakte wurde sie zu einem Bestandteil des „ius publicum Europaeum“.

Die Wahrung des Status quo als vorrangiges Ziel des Wiener Kongresses

Das „Wiener System“ war das Ergebnis vielfältig verschachtelter Macht- und Interessenpolitik, für visionäre Konzepte hingegen gab es keinen Raum. Es wollte die Revolution mittels Restauration, nicht durch Reformen überwinden. In Wien war also folgerichtig nicht von dem Recht der Völker, Vaterländer und Nationen auf individuelle Vervollkommnung die Rede gewesen, sondern von legitimen Monarchien mit legitimen territorialen Ansprüchen, Wünschen und Forderungen, die unter der Federführung Metternichs in ein fein aufeinander abgestimmtes europäisches Vertragssystem eingebunden wurden, das die Aufgabe hatte, künftige revolutionäre Strömungen aufzuhalten und dem Kontinent selbst Frieden zu bescheren. Das „Wiener System“, gelegentlich auch „System Metternich“ genannt, sollte einzelstaatliche Interessen im europäischen Kontext wahren, zwischenstaatliche Konflikte ausgleichen, revolutionäre Tendenzen unterdrücken und so dem Frieden in Europa dienen. Sein Ziel- und Wirkungsbereich war also eindeutig europäisch. Von Anfang an war es darum gegangen, ein wirkliches und dauerhaftes System des Gleichgewichts in Europa, getragen und garantiert von der Pentarchie, den fünf großen europäischen Mächten (Frankreich, Österreich, Preußen, Russland und dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Irland), zu schaffen. Das System gab den dazugehörigen Staaten das Recht, jederzeit gegen illegitime, also revolutionäre, Angriffe in irgendeinem Teil der Gemeinschaft zu intervenieren. Das Legitimitätsprinzip als ein wesentlicher Bestandteil des Systems schuf somit die Grundlagen für ein neues Verständnis zwischenstaatlichen Verhaltens: Um einen bestimmten, für gut befundenen Status quo aufrechtzuerhalten, nahmen sich die Kongressmächte das Recht heraus, jederzeit gegen unliebsame Tendenzen irgendwo in Europa intervenieren zu dürfen. Über die Frage aber, welche Entwicklung bzw. welches Ereignis als „illegitim“ einzuschätzen war, ließ sich kaum Konsens erzielen. Dazu waren die jeweiligen nationalen Interessen der Staaten der Pentarchie zu unterschiedlich, sowohl vor dem Hintergrund des jeweiligen politischen Systems als auch der geopolitischen Lage. Insofern kann es nicht überraschen, dass es nach 1815 nur in Ausnahmefällen gelang, die Pentarchie zu einem einvernehmlichen Handeln zum Zwecke des Erhalts des „Wiener Systems“ zu bewegen. Die Interessendivergenz sorgte so innerhalb weniger Jahre dafür, dass sich das verbindliche „Wiener System“ zur deutlich unverbindlicheren „Wiener Ordnung“ wandelte, die den europäischen Mächten das gestattete, was sie ohnehin für sich reklamierten: größere politische Handlungsfreiheit.

Legitimitätsprinzip im Widerspruch zum Prinzip der Nichteinmischung

Diese Entwicklung hing auch damit zusammen, dass das Legitimitätsprinzip im Widerspruch zu einem anderen Staatsverständnis stand, welches sich in zunehmendem Maße der Sympathien der Bevölkerung Europas erfreute. Dieses ging von dem Anspruch auf Nichteinmischung in innerstaatliche Angelegenheiten einer auf Individualität bedachten Nation aus. Zwangsläufig musste es mit dem Recht auf Intervention kollidieren, das die selbsternannten legitimen Monarchien forderten, die im Wesentlichen die ständische Gesellschaft von vor 1789 repräsentierten. Das konservative Metternichsche System stand also von vornherein in einem ausgesprochenen Spannungsverhältnis zu den modernen politischen Forderungen der liberalen, demokratischen und nationalen Zirkel. Diese mochten zwar über gesellschaftlichen Einfluss verfügen und sich an der Spitze des Fortschritts wähnen, politische Macht besaßen sie nach 1815 kaum. Die befand sich in den Händen – wenigstens der eigenen Einschätzung nach – legitimer Monarchen und ihrer zumeist konservativen Berater. Sie repräsentierten eine europäische politische Ordnung, die zwar zeit ihres Bestehens nur wenig populär war, aber immerhin dem europäischen Kontinent, je nach Interpretation, entweder vier Jahrzehnte, also bis zum Auseinanderbrechen des deutschen Dualismus 1866 bzw. bis zur Gründung des Deutschen Reiches 1871, oder fast ein Jahrhundert lang, bis zum Ersten Weltkrieg, trotz vielfältiger gefährlicher Krisensituationen leidliche Stabilität bescheren sollte.

In Wien hatte man nur am Rande darüber nachgedacht, wie die durch die Französische Revolution und ihre Folgen aufgewühlte Stimmung vieler Menschen der Zeit und wie ihre gesellschaftlichen Verhältnisse dem neuen Gleichgewichtssystem angepasst werden konnten. Möglicherweise hätten weitergehende Überlegungen dazu die Delegierten angesichts der ohnehin komplexen Verhandlungslage in Wien überfordert. Erstaunlich ist allerdings, dass man sich darüber offenbar so gut wie keine Gedanken machte, denn natürlich hing die Haltbarkeit des „Wiener Systems“ auch davon ab, ob es gelang, die revolutionären Ideen in den Köpfen vieler Bürger der europäischen Staaten durch neue, konservativ-restaurative gesellschaftliche Werte und Ideale zu ersetzen. Insbesondere in Deutschland galt es, die zahlreichen enttäuschten Patrioten mit der Struktur des Deutschen Bundes auszusöhnen. Doch auch wenn in der Bundesakte beispielsweise die Aufforderung an die Gliedstaaten nachzulesen war, sich eine landständische Verfassung zu geben, fehlten konkrete Ausführungsbestimmungen und nähere Angaben zu deren Inhalt. Weitergehende Formulierungen ließen sich angesichts der Interessendivergenzen nicht durchsetzen.

Die Heilige Allianz

Die Heilige Allianz als die zweite Initiative, an deren Entstehung viele Menschen überall in Europa große Hoffnungen geknüpft hatten, wurde letztlich auch im Sinne der Kongressakte modifiziert. Das ist auf den direkten Einfluss Metternichs zurückzuführen, auch wenn die Grundidee dazu von Zar Alexander I. stammte. Doch erst durch den österreichischen Außenminister erhielt sie jenen spezifisch unverbindlichen Charakter, der es, von einigen Ausnahmen abgesehen, allen anderen Souveränen Europas ohne weiteres ermöglichte, ihr beizutreten. Metternich war es gelungen, das Konzept des Zaren in ein Fürstenbündnis alten Stils abzuändern, das er selbst einmal als „ein laut schallendes Nichts“ bezeichnete.

Die europäische Integration

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