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Europa auf dem Wiener Kongress

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Friedensvertrag oder Restitution? Wege zur Neuordnung Europas nach der Niederlage Napoleons

Zwischen dem Zusammenbruch des napoleonischen Reiches und der Verabschiedung der Wiener Kongressakte standen sich zwei miteinander grundsätzlich unvereinbare Auffassungen davon gegenüber, wie die europäische Landkarte neu gestaltet werden sollte. Eine Strömung forderte die friedensvertragliche Bestätigung einer Reihe von Fakten, die direkt oder indirekt mit der Revolution in Verbindung gebracht werden konnten – in diesem Zusammenhang wären zum Beispiel auch die nationalistisch, liberal und konstitutionell gefärbten Forderungen nach Reformen in Deutschland zu nennen. Solange sich solche Vorschläge gegen französisches Hegemonialstreben nutzen ließen, waren sie von den noch im Amt verbliebenen Politikern vorrevolutionärer Provenienz geduldet worden. Nachdem die Bedrohung jedoch beseitigt war, folgten diese anderen Leitsätzen, insbesondere solchen, die die Restitution vorrevolutionärer Verhältnisse anstrebten.

Das letztlich entscheidende Kriterium zugunsten der Restitution dürfte die Einsicht in die Notwendigkeit gewesen sein, dass der, angesichts der Interessendivergenz, beste Weg zur Neuordnung der europäischen Landkarte nur über einen rationalen und sich am Prinzip der Vernunft orientierenden Kompromiss erreicht werden konnte. Diese Erkenntnis wurde noch durch handfeste nationale und dynastische Eigeninteressen der beteiligten Parteien bestärkt, die einschneidende und weitreichende Reformansätze von vornherein zum Scheitern verurteilt hätten. So schlüpfte Talleyrand im Auftrag Ludwigs XVIII. in die Rolle des Fürsprechers der Interessen der kleineren Mächte und Dynastien, womit er Frankreich einen Platz in der ersten Reihe der Kongressparteien sichern konnte. Fürst Metternich dachte wie Kaiser Franz I. nicht daran, die Habsburger Kaiserkrone für einen deutschen Einheitsstaat aufs Spiel zu setzen, Friedrich Wilhelm III. und sein Staatskanzler Karl August Fürst von Hardenberg waren nicht bereit, die führende Rolle Preußens in einem deutschen Staatensystem zugunsten Österreichs aufzugeben. Robert Stewart Viscount Castlereagh sollte im Auftrag König Georgs III. dafür sorgen, dass sich die Staaten Kontinentaleuropas nach dem Kongress gegenseitig kontrollierten und keine internationalen Ambitionen entfalteten, was möglicherweise die britischen Überseeinteressen beeinträchtigt hätte. Zar Alexander I. wollte ebensowenig wie sein Staatssekretär Nesselrode auf seine polnischen Territorien verzichten und fürchtete um seinen Einfluss in Europa für den Fall, dass es mit dem deutschen Einheitsstaat einen neuen Machtfaktor im Gefüge der Staaten geben würde. Karl XIII. von Schweden versuchte, Lübeck als Entschädigung für den schwedischen Beitrag am Kampf gegen Napoleon zu erhalten, um den traditionsreichen Ostseehafen künftig als Brückenkopf auf dem Kontinent nutzen zu können. Viktor Emanuel I. von Sardinien pochte auf die Rückerstattung all seiner früheren Territorien, auf die Entschädigung für erlittenes Unrecht durch die Übereignung des Herzogtums Piacenza sowie auf die Wahrung seiner Ansprüche in den Versammlungen des Deutschen Staatswesens, falls es denn in irgendeiner Form wiederhergestellt werden sollte. Die Gesandten der Schweiz hatten den Auftrag, die Grundlagen der künftigen Neutralität ihres Landes durch Rückgabe ehemaliger Schweizer Territorien und zusätzliche Übereignung weiterer Gebiete im Grenzland zu Frankreich, Italien und Deutschland zu sichern. Wilhelm von Oranien schließlich war sich der Bedeutung des zu schaffenden Königreichs der Niederlande als Pufferzone zwischen den deutschen Staaten und Frankreich bewusst und konnte mit der britischen Unterstützung seiner territorialen Wünsche rechnen.

Kein deutscher Nationalstaat

So divergierend die Interessen der einzelnen europäischen Mächte im Vorfeld der Wiener Verhandlungen auch gewesen sein mochten, bestand zumindest in einem Punkt weitgehendes Einvernehmen: Dem Wunsch nach der Schaffung eines starken deutschen Einheitsstaates durfte aus Sorge um das europäische Gleichgewicht und aus Rücksicht auf die vielfältigen Kompensationswünsche einzelner deutscher Dynastien nicht stattgegeben werden. Damit war die Frage nach der Rolle Deutschlands in einem neu geordneten Europa zugunsten der Staatenbundoption entschieden worden. Darüber aber, wie das Gleichgewichtsprinzip auf die europäische Staatenwelt insgesamt angewendet werden sollte, gab es unterschiedliche Vorstellungen. Diese spiegelten unter anderem die unterschiedliche Interpretierbarkeit des Gleichgewichtsbegriffs.

Schon 1758 hatte Johann Heinrich Gottlob Justi die Gleichgewichtsidee als Chimäre bezeichnet, da sie rechtlich nicht begründbar sei, die Machtmittel eines Staates nicht gemessen werden könnten und kein kompetenter Richter zu sagen vermöge, wann das Prinzip als verletzt zu gelten habe. Zudem hatte die konkrete Politik vieler europäischer Staaten den Kritikern des 18. Jahrhunderts immer wieder gute Argumente dafür geliefert, die Gleichgewichtsidee als bloße Tarnung für die Verfolgung eigener nationaler Interessen zu brandmarken. Die Zielvorstellungen, mit denen die Vertreter der europäischen Großmächte nach Wien gereist waren, zeigen deutlich, dass allen Beteiligten das Balanceprinzip als der eleganteste Weg zur Realisierung jeweils eigener Vorstellungen erschien. Einerseits besaß es aufgrund seiner deutlich vorrevolutionären Wurzeln in der Aufklärung einen genügend großen Bekanntheitsgrad, um als schlagkräftiges politisches Argument genutzt zu werden, andererseits war es dehnbar genug, um genügend Raum für die Realisierung nationaler Interessen zu bieten und zugleich vorhandene Interessendivergenzen zu überwinden.

Die Kongressakte

Der Wiener Kongress endete mit der Unterzeichnung der Bundesakte und der Kongressakte am 8. bzw. 9. Juni 1815. Die Bundesakte bildete einen Teil der Kongressakte und regelte acht Problemfelder. Erstens legitimierte sie die von Napoleon 1803 im Rahmen des Reichsdeputationshauptschlusses vorgenommene „Flurbereinigung“ Deutschlands insofern nachträglich, als die mehr als 300 Reichsstände, die es vor 1803 gegeben hatte, zu 41 Territorien und Stadtstaaten unter dem Dach des „Deutschen Bundes“ zusammengefasst wurden. Zweitens war das einzige Bundesgremium der Bundestag zu Frankfurt am Main als Versammlung von Vertretern der Regierungen der Bundesmitglieder. Drittens wurde die Europäisierung des Bundes durch Einbindung nichtdeutscher Monarchen sichergestellt (der britische König als König von Hannover, der niederländische König als Großherzog von Luxemburg, der dänische König als Herzog von Holstein). Viertens blieb das Gleichgewicht innerhalb des Bundes durch den Dualismus der beiden Großmächte Preußen und Österreich gewährleistet; ihre Verständigung war Voraussetzung für eine konstruktive Arbeit des Bundes. Fünftens unterlagen wichtige Fragen der Bundespolitik dem Einstimmigkeitsprinzip. Damit war der Bund sechstens nicht von einer Macht instrumentalisierbar, siebtens blieb die Außen- und Sicherheitspolitik der Gliedstaaten des Bundes weiterhin in den Händen der Einzelstaaten, und achtens waren gemeinsame Militäraktionen nur zum Zwecke der Verteidigung des Bundes gestattet.

Die europäische Integration

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