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Nationalismus und Imperialismus

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Die Paulskirche und Europa

Noch im Juli 1848 hatte Arnold Ruge in der Paulskirche einen Völkerkongress zum Zweck einer allgemeinen europäischen Entwaffnung gefordert. Er empfand seine Forderung nicht als utopisch, da er davon ausging, dass die Umwälzungen des Jahres 1848 ein neues politisches System in Europa geschaffen hätten, das sich Nordamerika zum Vorbild genommen habe und nicht mehr länger das alteuropäische Denken spiegele, das der Heiligen Allianz zugrunde gelegen habe. Doch wenig später stand fest, dass es sich bei diesem und anderen vergleichbaren Konzepten in der Tat um Utopien gehandelt hatte. Die Reaktion machte allen hochfliegenden demokratischen Plänen ein Ende. In Preußen geschah dies unter der Führung der einflussreichen „Kamarilla“, einer Gruppe von konservativen Persönlichkeiten, die zwar allesamt nicht zur preußischen Regierung zählten, indes als enge Freunde und Berater König Friedrich Wilhelms IV maßgeblichen Einfluss auf die preußische Politik ausübten. Dazu gehörten unter anderem Joseph Maria von Radowitz und Friedrich Julius Stahl sowie Leopold und Ernst Ludwig von Gerlach. Letztere repräsentierten die preußischen Hochkonservativen, für die Liberalismus und mehr noch Nationalismus jene verabscheuungswürdigen Früchte der Revolution darstellten, die gegen alle Normen der Tradition und Legitimität das Prinzip der historisch gewachsenen Monarchie zu überwinden versuchten und die an die Stelle von quasi aus sich selbst heraus konsensfähigen regionalen und föderalen Staatenordnungen potentiell konfliktfördernde Nationalstaaten setzten wollten. Der Universalismus des „Wiener Systems“ hingegen bot ihrer Meinung nach den einzig möglichen überstaatlichen Rahmen einer übergreifenden europäischen Rechts- und Friedensordnung.

Der Radowitz-Plan

Josef Maria von Radowitz hatte schon vor der Märzrevolution angesichts der vielfältigen politischen Krisen seinen König dazu aufgefordert, zur Aufrechterhaltung der politischen Ordnung im Einvernehmen mit den europäischen Nachbarstaaten „die Idee der Nationalität“ zu ergreifen. Vermutlich dachte Radowitz dabei auch an eine Neuauflage des Wiener Kongresses. Er wusste, dass ein preußischer „Griff“ nach der deutschen Krone erhebliche Verschiebungen der deutschen und damit zwangsläufig auch der europäischen politischen Tektonik nach sich ziehen würde, so dass ein Alleingang ohne Abstimmung mit den europäischen Nachbarn vermutlich sogar einen Krieg provoziert hätte. Zur Stabilisierung nach innen schlug er daher die Verabschiedung einer für die liberalen Konstitutionalisten akzeptablen Verfassung vor, nach außen konnte die Einbindung Deutschlands in einen internationalen Pakt stabilisierend wirken, in dem Rechtsstreitigkeiten ausschließlich durch ein eigens zu schaffendes internationales Schiedsgericht zu schlichten gewesen wären. Nur wenn das unter preußischer Führung vereinte Deutschland mit seiner zentralen Lage eine beherrschende Stellung einnehmen würde, so von Radowitz, könne der Friede in Europa gewahrt werden.

Die Gründung des Deutschen Reiches erfolgte jedoch nicht in einem einvernehmlichen europäischen Geist, sondern infolge des preußisch-deutschen Krieges gegen Frankreich. Wie Preußen hatten auch die anderen betroffenen europäischen Nationen die Revolution von 1848 rasch überwunden und sich erfolgreich um die Restitution der vormärzlichen Verhältnisse bemüht. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts stand somit unter dem Primat des Nationalstaats. Anstatt grenzübergreifende Integrationsbemühungen vorzunehmen, driftete Europa in den Imperialismus als Ausdruck des vom Nationalismus beseelten Kampfes um globale Macht. An die Stelle europäischer Ordnungskonzepte traten nun vermehrt Europabilder als Projektionen nationaler Sehnsüchte.

Europa als Gegenentwurf zum Nationalstaat des 19. Jahrhunderts

Doch es gab auch Ausnahmen. So hatte Victor Hugo bereits 1851 in einer Rede vor dem französischen Parlament von den „Vereinigten Staaten von Europa“ gesprochen und dabei den Hohn der Abgeordneten geerntet. Weder die Kritik seiner Zeitgenossen noch staatliche Repressionen seitens Napoleons III. vermochten seine Überzeugung zu erschüttern, dass es im 20. Jahrhundert nur noch eine, die europäische Nation in Europa geben werde. Daran ließ er in seinem Vorwort zum „Führer durch Paris“, der anlässlich der Pariser Weltausstellung von 1867 herausgegeben wurde, keinen Zweifel. Wie Hugo vertrauten auch Ernest Renan und David Friedrich Strauß in die konfliktregulierende Kraft einer europäischen Föderation. In ihrer während des deutsch-französischen Krieges 1870/71 geführten Korrespondenz erschien diese Option als einzig möglicher Ausweg aus den von ihnen als absurd empfundenen europäischen Zwistigkeiten.

Allerdings mussten Renan und Strauß am Ende ihres Lebens die Vergeblichkeit ihres Hoffens erkennen und einsehen, dass das Erstarken der Nationalstaaten Ende des 19. Jahrhunderts einen verhängnisvollen Wettbewerb ausgelöst hatte. So trieben im Zeitalter des Imperialismus manch europäisch verbrämte Zielsetzungen merkwürdige Blüten, die wie die deutschen Mitteleuropa-Planungen des frühen 20. Jahrhunderts und des Ersten Weltkrieges nationales Hegemonialstreben mit dem Deckmantel europäischer Ideale kaschieren wollten. Dabei wussten die Verkünder entsprechender Konzepte wohl, dass sie sich damit weit von den ursprünglichen Zielen europäischer Utopien entfernten, die allesamt von der Idee der europäischen Einheit ausgegangen waren. Dieser setzten sie nun neue Trennungslinien entgegen, die den Kontinent in drei Bereiche teilten: einen westlichen, geprägt von den Idealen der Französischen Revolution, einen mittleren, geprägt von den vermeintlichen Vorzügen der deutschen Kultur, sowie einen zivilisatorisch und kulturell unterlegenen östlichen. Von wenigen Konzepten abgesehen – zum Beispiel Friedrich Naumanns Mitteleuropaplan des Jahres 1915 – ging es den deutschen Mitteleuropa-Ideologen des frühen 20. Jahrhunderts jedoch nicht um die Einigung Europas im Sinne eines grenzübergreifend-föderativen Modells, sondern ausschließlich um die Etablierung einer deutschen oder deutsch-österreichischen Hegemonie im Herzen des Kontinents. Die Staatenwelt Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas besaß in ihren Überlegungen üblicherweise den Stellenwerteines untergeordneten wirtschaftlichen Ergänzungsraumes, der dem Zentrum die eigenen Ressourcen liefern und ihm die Fertigprodukte abnehmen sollte.

Europa als Gegenstand der Kriegszieldiskussion während des Ersten Weltkriegs

In deutschen Regierungs- und Wirtschaftskreisen kursierten zu Beginn des Ersten Weltkriegs viele solcher Überlegungen. Deutlich erkennbar flossen sie in die offiziellen deutschen Kriegsziele ein, die Reichskanzler Bethmann Hollweg im September 1914 verkündete. Damals freilich ahnte noch niemand, dass man sich am Anfang eines großen Krieges befand, der später einmal zu den beiden „Urkatastrophen“ des 20. Jahrhunderts gezählt werden würde. Nachdem sich aber die Bevölkerung Europas des Ausmaßes an militärischer Gewalt, das der Krieg mit sich gebracht hatte, und des damit verbundenen menschlichen Leides bewusst geworden war, stellte sich die Frage nach der Schaffung dauerhafter Rahmenbedingungen für den Frieden in Europa mit bis dahin nicht gekannter Dringlichkeit. Zudem hatte der Krieg die militärische und industrielle Stärke der USA gezeigt, der keine europäische Macht allein mehr gewachsen war. Die russische Revolution schließlich, deren Anhänger sich offen dazu bekannten, die traditionelle gesellschaftliche und politische Ordnung Europas umstürzen zu wollen, lieferte nach 1918 weitere Gründe dafür, dass in den 20er Jahren eine Vielzahl europäischer Neuordnungskonzepte entwickelt wurde. Sie alle wollten dazu beitragen, die Trennungslinien zu überwinden, die Nationalismus und Imperialismus zwischen den Staaten Europas aufgeworfen hatten.

Die europäische Integration

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