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Das napoleonische Europa und seine Gegner

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Napoleon Bonaparte und Europa

Aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts gelten die seinerzeit formulierten Menschen- und Bürgerrechte sowie die damit verbundenen Werte als Kristallisationspunkt einer europäischen Identität, die sich eines Tages als tragfähig genug erweisen könnte, um neben der die Selbst- und Fremdwahrnehmung im Europa der EU und darüber hinaus bestimmenden nationalen Perspektive ein gesamteuropäisches Denken und Handeln zu ermöglichen. Dass die wohl prominenteste Persönlichkeit aus dem Kreis der Träger der Französischen Revolution, ihr Vollender und Überwinder Napoleon Bonaparte, es sich schon damals zum Ziel gesetzt hatte, Europa politisch zu einigen, gerät dagegen zunehmend in Vergessenheit. Ein Blick auf die Europakarte des Jahres 1812 zeigt jedoch, wie nahe er diesem Ziel bereits gekommen war. Ihm allerdings deshalb so etwas wie einen aus einem dezidierten europäischen Bewusstsein geborenen „europäischen Plan“ attestieren zu wollen, wäre problematisch, da aus seiner aktiven politischen Zeit keine entsprechenden Äußerungen überliefert sind. In dieser Frage ist die Geschichtswissenschaft stattdessen weitgehend auf die Berichte von Benjamin Constant und Emmanuel de Las Cases angewiesen, die sie nach ihren Gesprächen mit dem abgesetzten Kaiser verfasst hatten und in denen dieser sich rückblickend über seine entsprechenden Absichten geäußert hatte. So ist in Constants „Acte Additionel aux Constitutions de l’Empire“ von 1814 von einem großen föderativen europäischen Staatensystem als Ziel der napoleonischen Politik zu lesen, das dem Geist des Jahrhunderts entsprechen und dem Fortschritt dienen sollte. Las Cases Aufzeichnungen zufolge hatte Napoleon seine kriegerische Expansion nach dem Frieden von Moskau als beendet betrachtet, da damit der Rahmen für ein europäisches System gesteckt worden war, dessen innere Organisation allerdings noch fehlte. Dazu zählte er unter anderem die Schaffung einer europaweit einheitlichen Währung, einheitlicher europäischer Maße und Gewichte und eines europäischen Gesetzwesens. Ohne die Verschmelzung und Konzentration aller Völker zu einem einheitlichen europäischen Volk jedoch, das sich den Grundsätzen der Aufklärung und den Idealen der Französischen Revolution verpflichtet fühle und das in einem gemeinsamen europäischen Bund lebe, blieben all diese Strukturverbesserungen bloße Makulatur.

Kontinentalität und Ozeanität

Diese Äußerungen stammten aus der Zeit des Exils. Der Verdacht, dass sie als Versuche des abgesetzten Kaisers verstanden werden müssen, der Nachwelt ein geschöntes Bild von seiner Expansionspolitik zu hinterlassen, ist durchaus berechtigt. Auch die napoleonische Europapolitik konnte sich nicht von den Vorbildern der Vergangenheit freimachen, sondern stand in jeder Phase in enger Beziehung zu den Überlieferungen der traditionellen Europapolitik Frankreichs seit Anfang des 17. Jahrhunderts. Aber wenn Napoleon Zeit seiner Herrschaft Europa als ein Feld betrachtet haben mochte, auf dem die Heere der Republik den Ruhm und die Macht der französischen Nation mehren sollten, klingt in seinen Ausführungen aus dem Exil doch jener revolutionäre Elan nach, der seinerzeit viele Menschen beiderseits des Rheins in seinen Bann geschlagen hatte. Vielleicht besaß auch die Herausforderung der britischen Seemacht durch den von Frankreich erzwungenen kontinentaleuropäischen Zusammenschluss eine nicht zu unterschätzende Anziehungskraft. Schließlich wurde doch damit der alte Dualismus „Kontinentalität“ gegen „Ozeanität“ unter zunächst durchaus Erfolg versprechenden Vorzeichen neu aufgelegt, der sich auf eine in weiten Teilen der Bevölkerung Kontinentaleuropas durchaus vorhandene anti-englische Stimmung stützen konnte. Ursprünglich eher nüchtern-pragmatisch als Mittel zum Zweck gedacht, gewann die kontinentale Europapolitik Napoleons somit eine Dynamik, die wiederum auf den Kaiser rückwirkte. Diese Eigendynamik entfachte in Frankreich und bei vielen Anhängern der Revolution jenseits der Grenzen des Mutterlandes das alte revolutionäre Sendungsbewusstsein zu neuem Leben. So fiel es der Staatsführung nicht schwer, die Bevölkerung von der Notwendigkeit zu überzeugen, die Werte, für die sie zunächst in den Grenzen Frankreichs das eigene Leben riskiert und dann erfolgreich gegen restaurative Tendenzen von außen verteidigt hatten, nun gleichsam im Gegenzug europaweit zu etablieren.

Frankreich und Deutschland als Zentrum des europäischen Kontinents

Der Kontinent sollte unter Aufhebung der ohnehin verfallenen Strukturen des römisch-deutschen Reiches nach den Prinzipien des Rechts, der Gerechtigkeit und der Freiheit neu geformt werden. Im Mittelpunkt dieser Neustrukturierung stand bei vielen jungen revolutionären Intellektuellen eine Achse Paris-Berlin. Einem vergrößerten und erstarkten Frankreich, als dessen Ostgrenze häufig genug der Rhein genannt und dessen Direktorialverfassung noch als nahezu unübertrefflich eingeschätzt wurde, wäre dabei die Rolle des revolutionären Impulsgebers zugefallen. Preußen sollte als Bollwerk des Bündnisses mit Frankreich dienen und so die Verhältnisse in ganz Deutschland ändern, denn dass sich alle anderen deutschen Staaten über kurz oder lang um ein solches Preußen geschart hätten, galt in diesen Kreisen als sicher. Die Idee eines Europa beherrschenden franko-borussischen Bündnisses wurde auch nach dem Aufstieg Napoleons im Links- und Rechtsrheinischen von einflussreichen Kreisen propagiert – es sei hier nur an Emmanuel Joseph de Sieyès, Charles Théremin, Hans von Held, Dietrich von Bülow und Friedrich Buchholz erinnert. Dass der Kaiser selbst solche Gedanken durchaus interessiert zur Kenntnis nahm und in seine politischen Überlegungen einzubeziehen verstand, ist anzunehmen, zumal seine Herrschaftssymbolik auf ein, wenn auch stark historisch geprägtes, Europaverständnis schließen lässt.

Römische und karolingische Vorbilder

Dieses orientierte sich an zwei Vorbildern, dem klassisch-römischen und dem karolingischen. Das klassische Rom stand im napoleonischen Reich überall dort Pate, wo es um die Glorifizierung der Person des Kaisers, seines Reiches und dessen Institutionen ging. In diesem Zusammenhang sei an Jacques Louis David, den ehemaligen Revolutionär und späteren Hofmaler Napoleons, erinnert, der die Geschichte des Kaiserreiches in monumentalen Gemälden festgehalten hat und der dabei römischen Stilelementen ebenso folgte wie Canova, der römische Bildhauer, und natürlich auch die Architektur der Zeit – der Arc de Triomphe verkörpert geradezu idealtypisch die zu Stein gewordene Erinnerung an klassisch-römische Triumphbauten. Darüber hinaus war die staatliche Verwaltung wenigstens nominell nach dem Muster des Imperium Romanum organisiert, womit die Zeitgenossen ebenfalls unmissverständlich an das politische Selbstverständnis und den damit verbundenen Machtanspruch des Kaisers erinnert wurden.

Allerdings stammten die Bezüge zum klassischen Rom zumeist schon aus der Spätphase der Revolution, die von Napoleon während der Konsolidierung seiner Herrschaft lediglich den neuen Verhältnissen angepasst werden mussten. Deswegen blieben sie überwiegend indirekt und allgemein. Wesentlich konkreter wurde der Kaiser bei der Erinnerung an das karolingische Imperium. Schon seine Krönung wollte er in Aachen vornehmen lassen. Nachdem er, dem Drängen seiner Ratgeber folgend, sich schließlich doch für Paris als Krönungsort entschieden hatte, mussten wenigstens die Reichsinsignien Karls des Großen (oder das, was man dafür hielt) nach Paris geschafft werden. Und zwei Jahre nach der Krönung, am 13. Mai 1806, schrieb er an Papst Pius VII.: „Ich bin von nun an Karl der Große. Denn ich besitze die Krone Frankreichs samt jener der Lombardei, und mein Reich grenzt an den Orient …“

Ebenso wie die napoleonischen Eroberungen beim Kaiser und seinen Anhängern visionäre Kräfte in Bezug auf die Neugestaltung der europäischen Landkarte freigesetzt zu haben scheinen, vermochte die damit verbundene Herausforderung bei ihren Gegnern grenzübergreifende Überlegungen zu entfalten. Deren Positionen konnten gegensätzlicher kaum sein, finden sich unter ihnen doch Anhänger des europäischen Gleichgewichtsdenkens einerseits und vom Geist der Romantik und des romantischen Nationalismus durchdrungene Köpfe andererseits. Waren den Ersteren Revolution und Nationalismus gleichermaßen suspekt, forderten Letztere eine Erneuerung insbesondere der deutschen als der führenden europäischen Nation aus dem christlich-universalen Denken des Mittelalters heraus.

Edmund Burke sieht Großbritannien als Heimat der „civil society“

Es war das Verdienst Edmund Burkes, die keineswegs neue Idee vom Gleichgewicht der europäischen Staaten in der Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution neu entdeckt zu haben. Dass seine britische Heimat in diesen Überlegungen eine besondere Rolle spielte, kann nicht überraschen, schließlich hatte sich Großbritannien unter allen europäischen Mächten dem napoleonischen Machtstreben am entschiedensten und wirkungsvollsten widersetzt. Wenn Burke und seine Anhänger vor diesem Hintergrund Großbritannien die Rolle einer Kontrollmacht des europäischen Gleichgewichtssystems zuschrieben, sollte das jedoch nicht nur als ein Reflex auf die akute Bedrohung verstanden werden, sondern als ein Spiegel des Burkeschen Europa- und Geschichtsverständnisses insgesamt, in dem die konstitutionelle Entwicklung des Kontinents und Großbritanniens als eine Einheit erschien, welche ihre edelste Form in England als der Heimat der „civil society“ und als „the arbitress of Europe, the tutelary angel of the human race“ erhalten habe.

Burkes Einfluss auf Friedrich von Gentz

Bekanntlich beeinflussten die Burkeschen Überlegungen die politischen Entscheidungsprozesse, die der Neuordnung der europäischen Landkarte im Rahmen der Arbeit des Wiener Kongresses vorausgingen, nachhaltig. Dafür hatte nicht zuletzt Friedrich von Gentz als enger Berater des Fürsten Metternich gesorgt. Gentz war nach der Lektüre von Burkes „Reflections on the Revolution in France“ von einem ursprünglichen Anhänger der Französischen Revolution zu einem entschiedenen Gegner geworden und hatte zudem mit seiner deutschen Übersetzung für eine weitere Verbreitung der Burkeschen Thesen gesorgt. 1805 stellte Gentz vier zentrale Bedingungen auf, die seiner Meinung nach den wahren Begriff des politischen Gleichgewichts in Europa ausmachten. Danach durfte erstens keine Macht in Europa so stark sein, dass die Gesamtheit der anderen europäischen Mächte sie nicht mehr bezwingen konnte. Zweitens sollte jede Destabilisierung des Gleichgewichts von einer einfachen Koalition anderer europäischer Mächte unterbunden werden. Drittens musste die Furcht vor gemeinsamem Widerstand bzw. gemeinsamer Sanktion der anderen europäischen Mächte hinreichend sein, um jede einzelne europäische Macht in ihre Schranken zu weisen. Viertens galt jede Macht a priori als Feind des europäischen Systems, die sich widerrechtlich eine Hegemonialstellung erwarb. Für den Fall des rechtmäßigen Erwerbs solcher Macht hatten die anderen Mächte alles zu unternehmen, um diese Machtstellung zu schwächen. Auch wenn Gentz diese Punkte unter dem Eindruck der napoleonischen Hegemonie über Europa geschrieben hatte, sind die Bezüge zu den Grundsätzen des späteren „Wiener Systems“, insbesondere des Legitimations- und des Interventionsprinzips, unverkennbar.

Leitlinien des konservativen und antirevolutionären europäischen Widerstandes gegen Napoleon

Damit hatte Gentz ein Ziel formuliert, das sich vorzüglich als Leitlinie des konservativen und antirevolutionären europäischen Widerstandes gegen Napoleon eignete, da es sich am europäischen Status quo ante 1789 orientierte. Es sollte einerseits die Unabhängigkeit der europäischen Nationen garantieren, andererseits aber auch den Rahmen für einen „schönen, frei wirkenden Bund der europäischen Staaten“ bilden, wie es der Freiherr vom Stein formuliert hatte. Dieser wollte die Unabhängigkeit aller seiner Glieder gewahrt wissen, ebenso die politische und Denkfreiheit der ihm innewohnenden Menschen, ihr materielles Wohlergehen und ihre Kultur. All das schien ihm unter Napoleon, „dem Feind Deutschlands und der europäischen Kultur und Freiheit“, nicht möglich zu sein. Anstelle des französischen Kaiserreiches sollte seiner Meinung nach wieder das deutsche treten, dem das mittelalterliche Imperium sacrum als Vorbild dienen müsse, das vielen fremden Völkern Schutz und Gesetze gegeben habe. Freilich wusste Stein um die Unmöglichkeit einer Restauration des Alten Reiches, ihm ging es dabei primär um die Suche nach einem Rahmen, innerhalb dessen der deutsche Nationalstaat vollendet werden konnte, um den es ja auch in der preußisch-deutschen Erhebung gegen die napoleonische Herrschaft ging. Da die Schaffung eines deutschen Einheitsstaates das europäische Gleichgewicht erheblich ins Wanken bringen würde, musste er so gestaltet werden, dass er niemals eine Suprematie im europäischen Rahmen erlangen konnte. Damit hatte Stein auf einen Zusammenhang hingewiesen, den es seit der Herausbildung des frühneuzeitlichen europäischen Staatensystems aufgrund der besonderen Rolle des Imperium sacrum in ihm stets gegeben hatte, der jedoch seit dem 19. Jahrhundert für das Europa der modernen Nationalstaaten von besonderer Bedeutung sein sollte – die enge Verflechtung Deutschlands mit Europa.

Die europäische Integration

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