Читать книгу Harzmagie - Jürgen H. Moch - Страница 10
Handschuhe
ОглавлениеJemand rief ihren Namen. Sabrina hörte die Stimme gedämpft durch ihre Musik, die über ihre Ohrstöpsel dröhnte. Sie reagierte nicht. Warum auch? Ihr Blick hing gerade sehnsüchtig an dem bleichen Gesicht des coolen Hauptdarstellers einer beliebten Fantasyserie, der darin eine Art Glitzervampir spielte. Das Gesicht seiner menschlichen Partnerin hatte sie durch ihr eigenes ausgetauscht. Nach langer Arbeit mit einem Grafikprogramm hatte sie es auf dem Drucker im Copyshop für fast zehn Euro auf DIN A3 ausgedruckt. Nun sah das Bild besser aus als das Original, wie sie fand. Überhaupt hatte sie ihr ganzes Zimmer mit Bildern aus Vampirfilmen tapeziert, sodass eine düstere Atmosphäre entstand. Ihre Regale quollen über vor Büchern, viele davon billige Papierausgaben von Vampirromanen und Gruftgeschichten. Ihr ganzer Kleiderschrank war mit schwarzen Klamotten angefüllt, was ihre Mutter nur widerwillig akzeptiert hatte. An der Seite des Schrankes hing ihr ganzer Stolz: ein altes, pechschwarzes Rüschenballkleid mit Spitzenbesatz. Es sah aus wie ein edles Trauergewand aus einem Vampirfilm aus der Zeit, als Filme noch in Schwarzweiß gedreht wurden. Sie hatte es auf einem Flohmarkt in Wernigerode für einen Spottpreis erstanden, musste aber feststellen, dass es ihr zwei Nummern zu klein war. Als sie dennoch versucht hatte, sich mit aller Gewalt hineinzuzwängen, war es an der Seite eingerissen. Seither hatte sie versucht, abzunehmen, was ihr schlichtweg nicht gelang, obwohl sie alles tat, sich herunter zu hungern. Alle paar Wochen machten ein paar heftige Fressattacken alle vorher abgenommenen Pfunde zunichte. Scheiß Mondphasen! Scheiß Regelblutung! Ihr Körper machte dann mit ihr, was er wollte. Sie konnte nichts dagegen tun. Ihre Mutter, deren rundlichem Körperbau ihr eigener unaufhaltsam nachstrebte, hatte ihr Sport empfohlen. Aber dazu konnte sie sich nicht durchringen. Ausgerechnet Sport, so was brauchte sie nicht. Die Fünf in Sport juckte sie nicht, denn ihr Zeugnis war alles andere als schlecht. Klassenbeste, trotz der Sportnote. Sie hatten es diesmal am Donnerstag bekommen, weil heute eine Lehrerkonferenz stattfand und ihre Klassenlehrerin auch dahin fahren musste. So hatte sie bereits an ihrem Geburtstag frei.
Warum nervte ihre Mutter so herum? Sie würden wieder nicht in den Urlaub fahren, weil das Geld nicht reichte. Sie kannte es nicht anders. Alle anderen fuhren in den Ferien weg, nur sie nicht. Ihre Mutter arbeitete halbtags im Blumenladen auf der Adolph-Roemer-Straße und ihr Vater schickte nur wenig Geld. Er arbeitete auf einem Bohrschiff und fuhr so die meiste Zeit zur See. Er verdiente zwar recht ordentlich, gab aber selbst viel Geld aus. Wofür?, das hatte sie schon aufgegeben, sich auszumalen. Also hatte Sabrina sich auf sechs langweilige Wochen zu Hause in Clausthal-Zellerfeld eingestellt. Wieder erklang die Stimme der Mutter, was sie erneut veranlasste, das Kopfkissen über die Ohren zu ziehen. Sie wollte nichts hören.
»Lass mich in Ruhe!«, brüllte sie.
Jemand rüttelte jetzt an ihrer Tür. Sie hatte abgeschlossen, doch das Schloss sprang auf. Das tat es seit dem Tag vor zwei Jahren, als sie sich das erste Mal eingeschlossen und ihr Vater die Tür eingetreten hatte, weil sie ihrer Mutter erzählt hatte, dass sie nicht mehr leben wolle. Ihre Mutter hatte doch keine Ahnung. Sie hatte ja nicht ganz sterben wollen. Es war doch ihr Wunsch, ein Vampir zu werden. Unsterblich und mit feiner weißer Haut. Die weiße Haut hatte sie fast, da hier in Clausthal die Sonne nicht so häufig schien. Dafür war sie mit lästigen Pickeln übersät, vor allem immer dann, wenn sie ihre Regel bekam. Wie sie es hasste!
Mittlerweile stand ihre Mutter im Zimmer und wedelte mit einem Einkaufskorb vor ihrem Gesicht hin und her.
»Sabrina Wilhelmine Schubert, auch wenn du heute Geburtstag hast, wirst du sofort deinen faulen Hintern aus dem Bett schwingen und einkaufen gehen. Hier ist der Zettel und genug Geld. Trödle nicht herum, ich brauche die Zwiebeln fürs Mittagessen. Ich koche dein Lieblingsgericht.«
Eine kurze Pause entstand, als Mutter und Tochter sich taxierend anstarrten. Für einen Moment schien unklar, wer dieses Blickduell gewinnen würde. Schließlich verdrehte Sabrina die Augen und kletterte aus dem Bett.
»Das ist doch voll uncool, Mama. Der Korb ist so altmodisch. Ich sehe damit unmöglich aus!«
»Nun, mein Schatz, das denken einige andere auch von den Sachen, die du sonst so trägst. Da kommt es auf einen Korb auch nicht mehr an, oder meine Liebe?« Ihre Mutter lächelte, wie nur jemand lächeln konnte, der sein Kind trotz aller pubertären Eskapaden noch so liebte wie am ersten Tag.
Obwohl sie wusste, dass sie diesen Wettstreit verloren hatte, bäumte Sabrina sich nochmals auf und warf sich trotzig ihren dunklen langen Mantel über. Auch dieser völlig abgetragene Ledermantel stammte von einem Flohmarkt. In mühevoller Kleinarbeit hatte sie ihn mit schwarzer Schuhcreme bearbeitet, um ihn dunkler zu bekommen. Das war ihr zwar gelungen, aber er hatte danach abgefärbt und ihr den ganzen Hals geschwärzt. Alle hatten sie in der Schule deswegen ausgelacht. Inzwischen färbte er nicht mehr ab und zeigte sich nun in einem eher dunkelgrauen Anthrazit. Auf jeden Fall war er cool und nur darauf kam es an. Sie griff nach dem Korb und ging wutschnaubend zum Einkaufen – nicht ohne die Haustür hinter sich zuzuknallen, was sicher einen weiteren Ausruf ihrer Mutter auslöste, den sie jedoch nicht mehr hörte.
Sabrina wohnte in der Nähe der Schule in einem kleinen Haus am Kreisel. Als sie die Straße Am Zellbach hochging, bereute sie bereits, ihren Mantel angezogen zu haben. Das Wetter schien sich gegen sie verschworen zu haben. Keine Wolke bedeckte den Himmel und die Sonne brannte erbarmungslos. Sabrina lief der Schweiß in Sturzbächen den Rücken herunter, tropfte von ihrer Stirn und sammelte sich in ihrem Ausschnitt. Sie fluchte leise, widerstand aber dem Verlangen, den Mantel auszuziehen. Wie ein Vampir am Tage versuchte sie, von Schatten zu Schatten zu huschen, aber das misslang ihr ein ums andere Mal. Kurzentschlossen schwenkte sie am Kronenplatz auf einen Schlenker über den Friedhof ab. Dort standen genug Bäume und außerdem zählte er zu ihren Lieblingsorten. Sie bog hinter der Post in die Erzstraße und dann nach rechts in einen schmalen Fußweg auf den Friedhof. Unter den Bäumen wurde es sofort kühler und Sabrina atmete auf. Am Tor kam ihr eine alte Frau entgegen. Sie hatte für eine Seniorin ungewöhnliche Kleidung in nachtblauer Seide an. Damit sah sie eher aus wie eine Frau aus dem 19. Jahrhundert. Ein kurzer Blick auf die Schuhe verriet Sabrina eindeutig, dass sie offensichtlich nicht direkt hier wohnte. Sie waren zu vornehm und zierlich. Dennoch schien sich die alte Dame auszukennen, denn diese Seitenpforte nahmen nur Einheimische. Sabrina hielt die Pforte auf, was ein freundliches, anerkennendes Nicken bei der Frau auslöste.
»Oh, du willst jemanden besuchen. Das ist aber nett von dir. Was für ein heißes Wetter wir heute haben. Ein besonderer Tag, ein denkwürdiger Tag. Das ist gar nicht typisch für den Harz, das hat mir Ernst-Gustav auch gerade gesagt.«
Sabrina blickte verwirrt. Sie druckste ein »Ja, schon klar!« heraus und huschte ihrerseits schnell durch die Pforte. Sie reimte sich zusammen, dass es sich bei dem erwähnten Herrn vermutlich um ihren verstorbenen Mann, Bruder oder einen anderen männlichen Verwandten handeln musste und sie gerade von seinem Grab kam. Die Friedhofbesucherin hatte dort anscheinend Selbstgespräche geführt. Die alte Frau wandte sich noch einmal um und lächelte sie an.
»Sie haben da einen schönen Mantel, meine Liebe, genauso einen hatte Ernst-Gustav auch, als er noch dem Führer gedient hat. Mir wäre der ja zu warm bei dem Wetter. Gießen Sie die Blumen aber nicht zu stark, es wird heute noch regnen, auch wenn es nicht danach aussieht.« Noch während sie weiterredete, wandte sich die Seniorin ab und ging mit wackeligen Schritten den Weg zur Erzstraße hinunter. Auf halbem Wege blieb sie nochmal stehen und rief ihr über die Schulter zu: »Ach, was ich beinahe vergessen hätte: Alles Gute zum Geburtstag!«
Sabrina, die ihr nachgeblickt hatte, klappte nun sprachlos der Unterkiefer herunter. Wer war die Alte? Kannte sie die Frau? Aber woher? Heute war ihr Geburtstag, aber bis auf ihre Eltern wusste das vermutlich niemand. Irgendwie war ihre Lust auf den Friedhof verflogen.
Sie verwarf den Gedanken, sich auf eine Bank zu setzen, und stapfte Richtung Haupteingang. Während sie noch krampfhaft zu erraten versuchte, woher sie diese alte Frau kannte, kam sie an einem Grab vorbei, auf dem frische Blumen standen. Es wäre ihr nicht sonderlich aufgefallen, wenn nicht auf dem Grabstein ein paar weiche, schwarze Damenlederhandschuhe gelegen hätten, gerade so, als wenn sie jemand vergessen hätte. Sabrina blieb stehen und blickte auf den Stein. Dort stand:
Ernst-Gustav Steiger, Lt. d. R.
* 02.05.1905 † 07.05.1945
Sophie Wilhelmine Steiger
* 22.07.1909 † 22.07.1999
Sabrina las die Inschrift mehrmals. Den Mann kannte sie nicht, aber die verstorbene Frau war nicht nur am selben Tag geboren und gestorben, sondern war genau an dem Tag gestorben, an dem sie vor sechzehn Jahren geboren worden war. Und heute war der 22.07.2015 – ihr Geburtstag. Das konnte doch alles kein Zufall sein!
Noch größer wurden ihre Augen, als sie den Namen nochmals las. Sabrina trug den gleichen zweiten Vornamen wie sie: Wilhelmine. Sabrina mochte den Namen nicht. Wie hatte sie ihre Mutter schon verflucht, aber diese hatte immer wieder gelächelt und ihr gesagt, dass sie diesen Namen zu Ehren ihrer Urgroßmutter trug. Ihr Blick fiel wieder auf die Handschuhe. Sie mussten der alten Dame gehören. Kurzentschlossen griff sie danach und rannte durch die Pforte zur Erzstraße zurück. Doch von der alten Frau war weit und breit nichts zu sehen. Sabrina blieb auf der Straße stehen und keuchte. Sie war einfach keinen Sport gewöhnt und nun war sie zum zweiten Mal in kurzer Zeit völlig durchgeschwitzt und aus der Puste. Zur Abkühlung trat sie in den Schatten eines Hauses und atmete tief durch. Erst jetzt untersuchte Sabrina die Handschuhe etwas genauer. Wie weich sie sich anfühlten, fast wie Haut. Ihre Finger glitten bewundernd darüber. Sie waren perfekt und vermutlich sehr teuer. Dabei kam ihr ein Gedanke.
Manchmal nähten die Frauen Namensschilder in ihre Kleidungstücke. Tatsächlich fand sich auf der Innenseite des Futters ein angenähtes Stück Stoff mit aufgestickten Initialen: S.W.S.
»Sophie Wilhelmine Steiger«, hauchte Sabrina. Dann schüttelte sie den Kopf. Das konnte nicht sein. Nach einer Pause kam ihr ein anderer Gedanke und sie sagte zu sich selbst: »Oder: Sabrina Wilhelmine Schubert«. Sie zog kurzerhand einen davon an. Er passte wie angegossen. Das gab es doch nicht. Sabrina war abergläubisch veranlagt und hatte genug Fantasy- und Gruselromane gelesen, um an mehr, als nur Zufall zu glauben. Trotz des Mantels wurde ihr kalt und sie blickte sich hastig um, aber niemand schien von ihr Notiz zu nehmen. Wenn sie die alte Frau nicht wiedersah, würde sie die Handschuhe behalten, dachte sie bei sich, während sie den einen von der Hand zog, sich wieder umdrehte und zurück zum Friedhof ging. Als sie erneut an dem Grabstein vorbeikam, blieb sie noch einen Moment stehen.
»Ich gebe sie zurück, ich verspreche es. Ich weiß nur nicht wie!« Sie wartete noch etwas, ganz so, als erhoffte sie sich eine Antwort, dann steckte sie die Handschuhe ein. Reflexartig griff sie nach einer der Gießkannen und goss die Blumen. Sie wusste nicht warum, aber es kam ihr richtig vor.
Nachdem sie die Kanne zurückgebracht hatte, ging sie weiter zum Haupteingang und bog dort in die Schulstraße Richtung Universitätshauptgebäude ein. Die Straße führte direkt auf das Kaufhaus Heinze zu. Tief in Gedanken an die alte Frau versunken zog sie die Handschuhe aus ihrer Manteltasche und streifte sie über. Sie fühlten sich wie eine zweite Haut an, man spürte sie fast gar nicht. Und sie sahen absolut cool aus. Sie kam am Kaufhaus an, immer wieder den Blick auf die Handschuhe gerichtet. Kurz bevor sie es betrat, verließ gerade ihr Klassenkamerad Theobald Binsenkraut die Bäckerei Biel nebenan. Er war ein Streber in Naturwissenschaften und vermutlich der Einzige in der Klasse, der ab und zu mit ihr redete. Außerdem war er auch jemand, der vermutlich nicht in den Urlaub fuhr. Sie wollte ihm gerade einen Gruß zurufen, da bemerkte sie die drei anderen Jungen, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite die A-Roe, wie die Einheimischen die Adolph-Roemer-Straße kurz nannten, entlang kamen. Vinzenz Lederer war groß, breitschultrig und hatte einen Hammerkopf, den er fast kahl rasiert hatte. Er trug schwarze Springerstiefel mit weißen Schnürsenkeln, wie das auch Neonazis so gerne machten. Keiner an der Schule wusste, warum ausgerechnet er mit den türkischen Zwillingen Alim und Ojan so gut klarkam. Sabrina hatte die Theorie aufgestellt, dass mentales Vakuum sich – wie schwarze Löcher – gegenseitig anzog. Das hatte ihr viel Gelächter von der Klasse eingebracht, aber leider auch einen brutalen Schubser in die Schulhecke eine Woche später, weil die drei so lange gebraucht hatten, zu verstehen, dass sie gemeint waren.
Sie ging schnell in den Eingang des Kaufhauses, in dem an der rechten Seite ein scheinbar uralter Herr in grauem Anzug die ankommenden Gäste freundlich begrüßte und die gehenden ebenso verabschiedete, diese aber mit einem kritischen und wachen Auge musterte, ob sie auch gezahlt hatten. Der alte Herr Heinze war der Besitzer des einzigen Kaufhauses mit Rolltreppe in Clausthal. Er erledigte den Türsteherjob gleich selbst mit. Ein Wahrzeichen seines Hauses. Sabrina lehnte sich an die Wand und schielte um die Ecke. Sie wurde sich des erstaunten Gesichts von Herrn Heinze bewusst, ignorierte aber seinen Blick, weil sie aus sicherer Deckung beobachten wollte, was jetzt passieren würde.
Theobald steckte gerade ein Brot beim Gehen in eine Tasche und hatte die anderen nicht bemerkt. Erst als diese die Straße querten und von einem Auto dafür angehupt wurden, bemerkte er sie. Für einen Moment blickte er erschrocken, dann drehte er auf dem Absatz um und floh wieder in die Bäckerei. Die anderen drei lachten auf und schlenderten langsam auf das Geschäft zu, als hätten sie alle Zeit der Welt. Sie bauten sich davor auf. Theobald würde ihnen nicht entkommen.
»Wollen Sie Ihrem Freund nicht helfen? Sie kennen ihn doch, oder?«
Sabrina zuckte zusammen. Herr Heinze war vorgetreten und stand nun neben ihr. Während Sabrina noch nach Worten suchte, wandte er sich bereits mit einer bestimmenden Geste einem Studenten zu, der es nach vorne gebeugt mit dickem Rucksack allzu eilig hatte, ins Freie zu kommen.
»Die Kasse ist im Erdgeschoss gleich auf der rechten Seite, junger Mann. Sie können sie gar nicht verfehlen!«
Der Student wurde bleich, nickte aber und hastete wieder hinein. Mit einem überlegenen Lächeln wandte sich Herr Heinze wieder an sie.
»Es ist doch ganz leicht. Sie müssen nur die drei kräftigen Burschen verjagen.«
»Äh, ich weiß nicht wie, Herr Heinze. Die sind richtig fies, müssen sie wissen.«
»Papperlapapp, Jungs sind Jungs. Ich war schließlich selbst mal jung.«
Sabrina konnte sich bei diesem kleinen, älteren Mann mit schütterem Haar nicht vorstellen, dass er jemals jung gewesen sein sollte. Aber er musste es gewesen sein, irgendwann. Seit sie denken konnte, stand er hier, auch schon, als sie ein kleines Kind mit zwei Zöpfchen gewesen war und an der Hand ihrer Mutter lief. Er hatte immer gleich alt ausgesehen, fast schon zeitlos. Wie ein Vampir, schoss es ihr durch den Kopf, nur dass er auch bei Tag hier stand. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er jemals nicht da war oder nicht mehr da sein würde.
»Nun, was ist? Brauchen Sie etwa Hilfe?«
»Ich wäre dankbar für jede Hilfe.« Sabrina versuchte zu lächeln.
»Na, dann halten Sie hier mal die Stellung, mein Fräulein. Ich erledige das für Sie!«
Herr Heinze straffte sich und ging mit gezielten Schritten auf die drei Jungen zu. Sabrina war beeindruckt und schockiert zugleich. Körperlich mussten die drei Schläger ihrer Klasse dem alten Mann bereits bei weitem überlegen sein, aber er war eine Autorität und das zeigte sich gleich darauf. Die Jungen bemerkten ihn erst, als er vor ihnen stand. Er richtete das Wort an sie. Sie blickten ihn verblüfft an, während er gestikulierte und dann zu Sabrinas großem Schock genau in ihre Richtung deutete. Die drei folgten seinem Finger mit ihren Blicken und ihre Mienen verhärteten sich, dann aber wurden sie bleich. Sie schauten sich gegenseitig an und machten dann abwehrende Gesten. Herr Heinze klatschte kurz und laut in die Hände, da inzwischen alle Passanten dem Disput ihre Aufmerksamkeit schenkten. Daraufhin sprangen die Jungen eilig auf und machten sich mit schnellen Schritten davon. Herr Heinze genoss noch etwas die Aufmerksamkeit und kam dann mit einem Lächeln zu Sabrina zurück.
»Wie haben Sie das gemacht?«, brach es aus ihr hervor, sobald er wieder bei ihr eintraf.
»Ich habe sie direkt angesprochen!«, erwiderte er.
»Ich habe ihnen gesagt, dass ihre Namen wohlbekannt sind, und man sie stellen wird, sollten sie dem Jungen in der Bäckerei oder dem mutigen Mädchen hier, damit meine ich Sie, irgendein Leid zufügen. Sie würden dann schneller vor dem Richter sitzen, als sie denken können. Das habe ich gesagt! Ich kann Randalierer genauso wenig ausstehen wie Diebe.« Dabei blickte er an Sabrina hinab und seine Augen verweilten auf den Händen. »Sie haben da exquisite Handschuhe an, junge Dame. So etwas trugen wohlsituierte Damen früher.«
Sabrina sah den alten Mann verblüfft an. Ahnte er, dass es nicht ihre waren? Gleich darauf verwarf sie den Gedanken wieder als absurd. Doch sie bemerkte, wie stechend seine Augen sein konnten. Aber schon einen Moment später wurde sein Blick weicher und er lächelte wieder.
»Und wie darf ich Ihnen geschäftlich weiterhelfen? Sie dürfen sich jetzt entspannen, die Gefahr ist gebannt«, sagte er mit freundlicher Stimme. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie den Einkaufskorb immer noch fest umklammert hielt. Peinlich berührt, lockerte sie ihren Griff etwas.
»Danke! Ich soll nur was einkaufen!« Dann ging sie in das Geschäft und war froh, dass Herr Heinze genau in diesem Moment durch einen anderen Kunden abgelenkt wurde.
Rasch erledigte sie die Einkäufe und stahl sich schnell aus dem Geschäft. Sie hatte Glück, dass Herr Heinze gerade nicht an der Tür stand. Um nicht doch noch den drei Chaoten über den Weg zu laufen, ging sie um die Ecke und nahm den etwas längeren Weg über die Straße an der Sorge oben beim Krankenhaus vorbei. Sie beruhigte sich nach ein paar hundert Metern und streifte die Handschuhe wieder über, die sie im Geschäft ausgezogen hatte. Es fühlte sich so gut an. Sie bewunderte die perfekte Passform und ihre Geschmeidigkeit. Das Leder strahlte eine angenehme Kühle aus. Während sie weiterging, hob sich ihre Laune. Sie musste an das coole Outfit von Kate Beckingsale in dem Film Underworld denken und tauchte mit ihren Gedanken wieder in die Fantasiegeschichte ein.
Als sie gerade den Jugendstilbau einer Studentenverbindung gegenüber dem Krankenhaus passiert hatte, erblickte sie vor sich auf dem Fußweg wieder Theobald. Kurzerhand beschleunigte sie ihre Schritte, doch er schien es auch sehr eilig zu haben und rufen wollte sie nicht. Sie folgte ihm. Der Fußweg führte parallel zum Zellbach den Berg hinunter. Hier standen Bäume und es gab Schatten.
Theobald war sehr schnell unterwegs, fast wie ein olympischer Geher. Sie würde ihn nicht einholen können. Ein Geräusch hinter ihr ließ sie zurückblicken, da erkannte sie den Grund seiner Eile. Vinzenz und die Zwillinge folgten keine zehn Meter hinter ihr und feixten, als sie sie bemerkten. Sie kamen schnell näher. Sabrina blieb stehen. Es war unvernünftig, aber in ihr begann eine Wut hochzukochen, die ihr Mut gab.
»He, Sabrinchen, hab' gehört, du stehst auf Feiglinge!«, höhnte Vinzenz und baute sich vor ihr auf. Die anderen beiden hielten sich zunächst flankierend hinter ihm.
»Ihr seid die wahren Feiglinge«, schnauzte sie zurück. »Zu dritt gegen einen, dann macht euch ein Opa fertig und jetzt versucht ihr es bei einem einzelnen Mädchen. Das ist noch feiger.«
Die Gesichtszüge der drei verhärteten sich nur kurz. Sie waren erprobt im Bedrängen von Schwächeren. Vinzenz drehte sich zu Ojan um und zuckte die Schultern, worauf dieser mit einem Schritt neben Sabrina trat.
»Willst Ärger haben, du Hure?« Es war keine echte Frage, nur eine Ankündigung, dass es gleich schlimmer werden würde.
Sabrina drehte den Kopf und behielt Ojan genau im Auge. Der glotzte sie zunächst grimmig an, dann aber verzog sich sein Gesicht zu einem breiten Grinsen. Der Schlag in die Kniekehlen durch Alim kam nicht ganz unerwartet, jedoch verlor Sabrina das Gleichgewicht und fiel mit rudernden Armen auf den Rücken. Das tat weh und das Hohngelächter der drei machte es nur schlimmer.
»Oh, das tut mir aber leid! Wie ungeschickt du bist. Ich helfe dir hoch.«
Mit übertrieben flötender Stimme packte Vinzenz sie am Revers ihres Mantels und riss sie hoch. Gott sei Dank bestand der aus Leder und machte den Ruck mit. Doch kaum war sie fast auf den Beinen, ließ er wieder los und sie fiel erneut schmerzhaft auf den Hintern.
»Komm, hilf mir mal! Die ist schwerer, als ich gedacht habe«, forderte er Alim auf, der immer noch hinter ihr stand. Dieser ließ sich nicht lange bitten und packte sie grob an den Schultern. Sabrina wehrte sich, aber sie bekam ihn nicht zu fassen. Vinzenz und Ojan traten höhnisch grinsend vor und griffen sie an den Ellenbogen, um sie hochzuziehen. In diesem Moment erinnerte sich Sabrina an ihren Selbstverteidigungskurs, den sie einmal gemacht hatte. Sie fasste im Bruchteil einer Sekunde einen äußerst mutigen, aber auch riskanten Entschluss und zog das Knie ruckartig an, genau in Vinzenz’ Weichteile. Er ging sofort jaulend zu Boden. Die Jungs hatten keinen ernstzunehmenden Widerstand erwartet. Ojan stand da und starrte auf Vinzenz, sodass Sabrina auch bei ihm zutreten konnte. Der Tritt war so hart, dass es Sabrina wieder auf den Rücken warf und Alim, der sie immer noch an der Schulter hatte, halb unter sich begrub. Sabrina packte mit beiden Händen nach hinten und versuchte, seinen Griff zu lösen. Etwas passierte, als sie ihn zu fassen bekam, aber mit dieser Reaktion hatte sie nicht gerechnet. Anstatt sie weiter festzuhalten, was er leicht gekonnt hätte, jaulte auch Alim auf und rollte von ihr weg. Sabrina wartete nicht, um Alims seltsame Reaktion zu ergründen. Sie rappelte sich hoch, griff ihren Einkaufskorb und sprintete los, bevor die drei wieder zur Besinnung kamen. Sie hatte es nicht mehr weit nach Hause, und die jetzt doch aufkommende Angst machte ihr Beine. Sie hatte sich gegen die drei Jungs zur Wehr gesetzt und mit einem Überraschungssieg gewonnen. Unter keinen Umständen wollte sie bleiben und eine zweite Runde riskieren. Sie holte alles aus ihren Beinen heraus, die heftig von dem Sturz schmerzten. Bei der nächsten Gelegenheit bog sie wieder auf den Zellbach ab. Schon nach kurzer Zeit raste ihr Herz und sie schnaufte wie eine alte Dampflok. Ohne sich umzuschauen, rannte sie weiter nach Hause.
Drinnen ließ sie sich mit pfeifendem Atem gegen die Tür sinken. Sie brauchte eine ganze Weile, um wieder Luft zu bekommen. Zum dritten Mal heute Vormittag war sie völlig durchgeschwitzt. Erst musste sie lächeln, dann lachte sie. Als sie sich mühsam aufrappelte, tropfte ihr der Schweiß von der Stirn und lief den Rücken hinunter in ihren Slip. Ein unangenehmes Gefühl, das von einem ziehenden Schmerz im Gesäß begleitet wurde. Sie verzog das Gesicht.
»Wie uncool! Vampire schwitzen nie!«, beklagte sie sich bei sich selbst. Es half nichts, sie musste dringend duschen.