Читать книгу Harzmagie - Jürgen H. Moch - Страница 14
Eine merkwürdige Nacht
ОглавлениеSabrina lag im Bett. Ihre Mutter war mit ihr nach einem guten Mittagessen zum Königskrug in der Nähe der Achtermannshöhe gefahren. Sabrina liebte die Windbeutel dort.
Das bei Senioren und Wandergruppen beliebte Ausflugslokal war diesmal fast leer gewesen, vermutlich weil Niedersachsen Zeugnistag hatte und die meisten Familien zu Hause feierten oder sich schon unterwegs in den Urlaub befanden. Zu ihrem sechzehnten Geburtstag hatte ihre Mutter ihr zwei Windbeutel mit friesischen Rosinen erlaubt. Die Rosinen hatten das ganze Jahr in Zucker gesättigtem Rum gelegen. Aus irgendeinem Grund hatte jemand besonders viele der Rosinen in Sabrinas Windbeutel getan, sodass sie sogar einen leichten Schwips bekommen hatte. Auch ihre Mutter war ausgelassen gewesen, noch mehr, als sich der attraktive junge Besitzer mit einer der Bedienungen mit an ihren Tisch gesetzt hatte. Schließlich gab es noch ein oder zwei Harzer Grubenlichter aufs Haus. Sabrina hatte sich eines der Gläser ihrer Mutter geschnappt und es geleert, bevor diese einschreiten konnte. Das Zeug hatte in der Kehle gebrannt, aber dann hatten sie alle einen Lachanfall bekommen, als Sabrina sich daran verschluckte und heftig husten musste. Es wurde ein lustiger Nachmittag, denn der Wirt war ein fröhlicher Mensch. Er hatte sogar gesagt, dass Sabrina eine sehr attraktive Frau werden würde. Sicherlich war das auch Verkaufstaktik, aber es hatte ihr doch geschmeichelt. Sie waren erst spät heimgekommen. In der angeheiterten Laune hatte Sabrina sich anschließend mit ihrer Mutter den Film ›Tanz der Vampire‹ angesehen, wozu Martha Schubert noch eine Flasche Rotwein geöffnet hatte. Sabrina hatte auch ein Glas bekommen und sich heimlich nachgeschenkt, als ihre Mutter auf der Toilette verschwand. Schließlich war Martha auf der Couch eingeschlafen und Sabrina hatte sich unter Mühen in ihr Zimmer geschleppt. Sie hatte noch ihre Hose abstreifen können und lag im T-Shirt auf dem Rücken.
Nun starrte Sabrina angeduselt an die Decke. Vielleicht hatte sie bereits kurz geschlafen. Was für ein Tag. Die Bilder zogen noch einmal an ihrem inneren Auge vorbei. Sie kicherte, weil sie sich an Vinzenz und die anderen erinnerte, an das erstaunliche Gespräch mit Herrn Heinze. Schließlich blieben ihre Gedanken bei den Handschuhen und der alten Frau hängen. Ihren Ledermantel hatte sie heute Mittag einfach auf den Boden geworfen, als sie nach Hause gekommen war, wie auch ihre anderen durchgeschwitzten Klamotten. Sie angelte nach ihm und bekam einen Ärmel zu fassen, um ihn heranzuziehen. Die Handschuhe steckten noch in den Taschen. Sie zog sie vorsichtig heraus und begutachtete sie erneut. Im schwachen Licht, das von draußen von der Straßenlaterne hereinfiel, glänzten die Handschuhe silbern. Irgendetwas an ihnen wirkte so anziehend auf Sabrina, dass sie sie immer weiter befühlte und schließlich hineinglitt. Die Handschuhe strahlten wie heute Mittag eine angenehme Kühle aus. Etwas veränderte sich, denn plötzlich wurde ihr Zimmer von einer unnatürlichen Kälte erfüllt. Sabrina stellten sich die Nackenhaare auf.
»Du bist äußerst leichtsinnig. Begabt, aber leichtsinnig«, meldete sich aus der Zimmerecke eine kalte Stimme, die Sabrina zusammenfahren ließ und ihr eisige Schauer über den Rücken jagte. Sie starrte in die Dunkelheit und sah jemand auf ihrem Knautschsessel sitzen. Sie hatte aber niemanden hereinkommen hören, auch der Sessel machte kein Geräusch. Wie konnte das sein?
»Wer hat dich ausgebildet?«, wollte die Gestalt von Sabrina wissen.
Diese drückte die Augen fest zusammen und redete sich ein, dass das sicher nur eine Einbildung von all dem Alkohol sein musste. Als sie die Augen wieder öffnete, war die Gestalt jedoch immer noch da, auch wenn ihre Umrisse nicht ganz scharf zu erkennen waren – eine Erscheinung ohne klare Grenzen.
»Nun, wer ist dein Lehrmeister, Kleine?« Ungeduld schwang in der Stimme mit und machte ihr langsam Angst. Sie überlegte kurz, aufzuspringen und aus dem Raum zu laufen. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass sie angetrunken war und in ihrem Bett lag, hatte sie kaum eine Chance, es zu schaffen, bevor die Gestalt sie erreichte, die sich nun langsam erhob. Sie ragte hoch auf und begann sich zu nähern.
»Niemand.«, antwortete Sabrina schließlich, um Zeit zu gewinnen.
»So, so, ein Naturtalent, was? Das erklärt, warum ich niemanden sonst hier spüren kann. Du solltest vorsichtiger sein, wenn du mit Dingen herumspielst, die du noch nicht verstehst. Und du solltest Respekt zeigen vor mir.«
»Was wollen Sie? Ich warne Sie ... ich schreie.«
Ein kaltes, leises Lachen war zu hören, dann machte sie einen weiteren deutlichen Schritt nach vorne und fuhr sie so an, dass Sabrina einen verängstigten Schrei ausstieß. Die Präsenz kam jetzt so nah, dass sie sie mit ausgestrecktem Arm hätte berühren können. Nun erkannte Sabrina immer mehr Einzelheiten eines halb verfaulten Körpers, in dem ganze Teile fehlten.
»Du hättest keine Chance, Würmchen, aber deswegen bin ich nicht hier. Du hast auf dich aufmerksam gemacht und ich wurde geschickt, um deinen Namen zu erfahren. Sag ihn mir und ich gehe.«
»Meinen Namen?« Sabrina wurde misstrauisch. Aus den vielen Romanen, die sie gelesen hatte, war ihr in Erinnerung geblieben, dass man Macht über jemanden gewann, wenn man seinen Namen kannte. Sie würde der Präsenz ihren Namen nicht sagen, so viel war ihr klar. Doch ihr wollte momentan kein anderer einfallen, so angestrengt sie auch überlegte. Es half ganz und gar nicht, dass die Erscheinung Zentimeter für Zentimeter näher kam. Ihr Kopf schien wie leer gefegt. So viele Namen von Charakteren aus Filmen konnte sie sonst herunterbeten, doch nicht einer davon wollte ihr einfallen. Sie wich vor dem Wesen zurück, bis sie schließlich die Wand erreichte, an der sie sich rücklings hochschob. Sie konnte jetzt nicht mehr ausweichen. Die Präsenz betrat ihr Bett, ohne es einzudrücken, wie eine Art Geist.
»Wie ist dein Name?«, grollte sie erneut.
Sabrina hob schützend die Hände, an denen sie noch immer die Handschuhe trug. Als ihr eigener Blick darauf fiel, schoss ihr ein Name durch den Kopf und sie stammelte: »Ich bin Sophie Wilhelmine Steiger! Geh weg!«
»Was? Das kann nicht sein«, die Präsenz hielt inne.
Sabrina traute ihren Augen und Ohren nicht. Ihr Besucher schien verwirrt. Der Name löste etwas aus. Pure Angst erfüllte Sabrina, als sich auf dem Gesicht des Wesens kalte Wut zeigte und die Augen rot zu leuchten begannen. Sie schrie es mit dem letzten Mut der Verzweiflung so laut an, wie sie konnte.
»Ich bin Sophie Wilhelmine Steiger.«
»Lügnerin, sie ist tot.«
Eine substanzlose Hand schoss nach vorne in Richtung Sabrinas Hals. Sie machte eine Bewegung, um die Hand abzublocken, ohne Hoffnung, sie wirklich aufhalten zu können. Doch auf wundersame Weise prallte diese an dem Handschuh ab und wurde aus der Bahn gelenkt. Sabrina nutzte die Schrecksekunde, um mit der anderen zuzuschlagen, direkt in das hässliche, verfaulte Gesicht. Das Wesen wurde hart getroffen und taumelte rückwärts. Sabrina trat einen Schritt vor und baute sich in Kampfhaltung auf. Sie wusste nicht warum, aber das Wesen hatte plötzlich Angst vor ihr.
»Nein, das darf nicht sein!«, stammelte es.
»Ich bin Sophie Wilhelmine Steiger und ich befehle dir hiermit, zu gehen!« Sabrinas Stimme überschlug sich fast, so schrie sie jetzt. Eine unsichtbare Welle breitete sich von ihr aus und drückte das Wesen gegen die Wand. Plötzlich brach ein helles Licht in den Raum, als die Tür aufgerissen wurde. Die Gestalt löste sich in eine Nebelschwade auf und verschwand aus dem Fenster.
Sabrinas Mutter stand in der Tür und starrte sie wütend an. Sabrina, immer noch in Kampfpose, blickte irritiert in die inzwischen leere Ecke, dann zu ihrer Mutter und wieder zurück.
»Was um alles in der Welt machst du für einen Höllenlärm? Du könntest ja Tote damit aufwecken. Jetzt leg dich sofort wieder hin! Ich hätte dir keinen Wein abgeben sollen und der Film war einfach zu viel, du bist ja völlig benebelt. Weißt du eigentlich, wie lächerlich du gerade in T-Shirt mit Handschuhen aussiehst?«
Erst jetzt wurde Sabrina bewusst, wie die ganze Situation auf ihre Mutter wirken musste. Hastig streifte sie die Handschuhe ab und verstaute sie in ihrem Nachtschrank in der untersten Schublade.
»Entschuldigung Mama, ich muss geträumt haben!«, stammelte sie dabei. Als diese gegangen war, legte sich Sabrina wieder ins Bett. Die Kälte saß ihr in den Knochen und sie merkte eine Erschöpfung, die bis in alle Glieder ging. Das mussten die verfluchten Handschuhe sein. Sie würde sie nie wieder anfassen.
Einige Straßen weiter, in einem von Kerzenlicht erhellten Keller, saß Theobald vor einem kleinen brodelnden Kessel, in den er gerade ein weißes Pulver geschüttet hatte. Er erschauderte und blickte sich um. Da war es schon wieder gewesen, dachte er, nur anders, noch machtvoller als heute Nachmittag.