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Vor der Haustür

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Der weiße Van einer Leihwagenfirma legte mit quietschenden Reifen eine Vollbremsung hin und stellte sich dabei auf der Fahrbahn quer. Die wenigen Passanten in der Straße drehten sich alle verwundert um. Der Fahrer, ein junger Italiener, schimpfte noch im selben Moment in seiner Muttersprache wütend los. Er gestikulierte ausladend, beugte sich zum offenen Fenster heraus und schrie der vorbeirennenden Elisabeth nach, doch davon bekam diese überhaupt nichts mit.

Sie rannte so schnell, wie sie noch nie zuvor gerannt war. Die Angst, dass ihrer Familie und ihr etwas Böses drohte, die Verwirrung, dass ihre Mutter dunkle Geheimnisse zu haben schien, all das zehrte an ihr und drohte sie zu zerreißen. Unaufhaltsam kroch das Zittern in ihr immer höher und wurde zu einem Brennen, bis ihr ganzer Körper schmerzte. Tränen füllten ihre Augen und liefen über das Gesicht. Sie bog in die Straße ein, in der sie wohnte, indem sie über den Spielplatz abkürzte, der an der vorderen Ecke lag. Über den Zaun setzte sie mühelos hinweg und auch über die lange Balkenwippe, auf der sie als Kind so gerne gesessen hatte. Eine Mutter, die vor der Rutsche stand, drehte sich zu ihr um und schüttelte nur verwundert den Kopf. Ihr Kind stand oben auf dem Turm und kaute an einem Stofftuch, das es in der Hand hielt, und blickte Elisabeth nach. Da flog diese auch schon über den zweiten Zaun hinweg und sprintete auf ihr Heim zu. Das Wohnhaus der Wollners lag auf der linken Seite. Der Vorgarten war von einer hohen Hecke umrahmt, sodass man die blau gestrichenen Fensterrahmen des Erdgeschosses von der Straße aus kaum sehen konnte.

Elisabeth drückte mit so viel Schwung das Tor auf, dass es heftig gegen die Mauer knallte und zurückschlug, doch da war sie schon hindurch. Ihre Tasche riss sie dabei vor dem Bauch hoch, um den Schlüssel zu suchen, aber sie fand ihn in ihrer Nervosität nicht. Ihr fiel es immer schwerer, denn ihre Hände krampften heftig zusammen und sie konnte gar nicht mehr richtig greifen. Eine Bürste und der zusammenklappbare Regenschirm fielen heraus. Mit gekrümmten Fingern hämmerte sie auf die Klingel. Sie wollte rufen, doch aus ihrem Mund kam nur noch Schluchzen und Röcheln.

Plötzlich überlagerte ein neues stärkeres Gefühl die Panik, die sie gerade noch verspürt hatte: heftiger Schmerz. Die Beine knickten ihr ein und sie sackte in sich zusammen. Welle um Welle schoss durch ihren Körper. Sie zuckte unkontrolliert. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet und ihr Vater schaute heraus. Michael Wollner war ein großer, hagerer Mann mit hellbraunen Haaren, einer altmodischen Nickelbrille und vielen kleinen Lachfältchen, die sich allerdings schlagartig in eine ernste Sorgenmiene verwandelten, als er sah, wer da so wild geklingelt hatte.

»Elisabeth! Oh, mein Gott! Was ist passiert?« Sein Blick erfasste die Tasche, die herausgefallenen Sachen und seine zusammengekrümmte Tochter auf den Stufen. Unerwartet verschwand er wieder und man hörte ihn durch den Flur rennen. Nur wenige Sekunden später tauchte er mit einer kleinen Bügelglasflasche auf. Er drehte Elisabeth auf den Rücken, nicht ohne ein paar heftige, unkontrollierte Schläge abzubekommen. Sie grollte, wimmerte, jaulte wie von Sinnen. Als sie wieder heftig nach Luft schnappte, goss er ihr entschlossen den Inhalt der Flasche in den Mund. Ein gurgelndes Geräusch ertönte, dann hustete Elisabeth und besprühte dabei ihren Vater mit einem Restschwall der Medizin. Aber das Meiste davon schien seinen Weg in ihren Hals gefunden zu haben. Sie bäumte sich noch einmal abrupt auf, dann erschlaffte ihr ganzer Körper.

Sorgenvoll betrachtete Michael Wollner sie. Vorsichtig streckte er die Hand aus und berührte sie sanft an der schweißnassen Schulter, zog sie aber erschrocken zurück, als Elisabeth schlagartig wieder die Augen öffnete und wie ein Tier vor Schmerz aufschrie. Die Reaktion war nur kurz und heftig, dann sackte sie gleich darauf wieder in sich zusammen. Einige Momente später versuchte er es erneut und als Elisabeth sich nicht mehr bewegte, nahm er sie vorsichtig auf und trug sie ins Haus.

Es dauerte einige Minuten, in denen die Tür offen stehen blieb. Schließlich kam Michael Wollner wieder heraus und sah sich um. Niemand schien von dem Vorfall große Notiz genommen zu haben. Er machte sich daran, ihre am Boden verstreuten Sachen aufzulesen. Dabei fielen ihm das Zeugnis und ein Brief in die Hände, die beide ziemlich zerknittert aussahen. Er überflog kurz die Zahlen und seufzte nun ein hörbares »Oje!«. Als von drinnen ein Krachen erklang, beeilte er sich, alle Sachen einzusammeln, und verschwand im Haus.

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