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Belauscht

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Dicke Wolken verdunkelten den Himmel, als sie durch einen Wald mit mächtigen Tannen einen Abhang hinunterschlich, während der kühle, feuchte Wind ihr um die Nase wehte. Ein unwiderstehlicher Duft nach Moschus und Schweiß kitzelte ihre Geruchsnerven und zog sie weiter. Sie sah gerade noch etwas davonspringen, nicht mehr als einen rotbraunen Schatten. Sie fiel ins Laufen und jagte ihm nach. Gerade als sie ihn fast eingeholt hatte und über eine große, umgefallene Baumwurzel setzte, riss sie eine entsetzte Frauenstimme aus diesem merkwürdigen Traum zurück in die Eilenriede.

»Du hast was gemacht?«

Elisabeth zuckte so heftig zusammen, dass sie um ein Haar abgestürzt wäre. Nur die Tatsache, dass sie sich mit ihrem T-Shirt an einem Aststumpf verfangen hatte, bewahrte sie davor, aus der Astgabel zu rutschen. Dabei war Elisabeth nicht übermäßig schreckhaft. Das nicht. Vielmehr ängstigte sie, dass sie die Stimme gut kannte – sehr gut, um genau zu sein. Ihre Finger krallten sich krampfartig in die dicke Rinde. Direkt unter ihr konnte sie durch das Blattwerk ihre Mutter ausmachen, die eine ältere Dame am Revers gepackt hatte und diese wütend anfauchte. Eine tiefe Frauenstimme, antwortete ihr leise aber bestimmt, während sie den Griff ihrer Mutter wieder löste. Auch diese Stimme kannte Elisabeth. Was machte ihre Mutter mit Dr. Borga hier im Park? Neugier keimte auf. Beide Frauen waren so in ihren Disput vertieft, dass sie Elisabeth nicht bemerkten. Also rutschte diese noch ein wenig nach vorne und strich sich das Haar hinter das Ohr, um besser hören zu können. Sie konnte jedoch zunächst nicht viel verstehen, denn Dr. Borga sprach genauso leise wie drängend. Ihre Mutter hingegen hatte die Wangen gerötet und starrte ausschließlich ihr Gegenüber an. Dr. Borga sprach lange. Dann unterbrach ihre Mutter sie.

»Ausgerechnet dorthin? Bist du verrückt? Ich will nichts mehr damit zu tun haben! Wer soll denn die Versorgung aufrecht erhalten? Hast du mal daran gedacht?«

Wieder konnte Elisabeth von Dr. Borga, die erneut drängend antwortete, nichts verstehen. Sie beugte sich noch tiefer herunter.

»Ich? Ich kann das nicht!«

»Doch, du kannst das! Du musst, es bleibt dir keine Wahl. Du wusstest, dass es dich eines Tages einholt.« Borgas Stimme erhob sich nun auch, sodass Elisabeth sie verstehen konnte. »Ich muss zurück und ohne meinen Schutz bist du hier wehrlos. Sie haben schon Verdacht geschöpft. Meine Kleine, du willst doch nicht, dass sie dahinterkommen, oder?«

Wer waren sie?, überlegte Elisabeth im Baum fieberhaft. Was verbargen ihre Mutter und Dr. Borga? Aus dem Versteck konnte sie erkennen, wie ihre Mutter jetzt kreideweiß wurde. Sie begann zu schwanken und stützte sich an dem Stamm des Baumes ab. So kannte sie ihre Mutter nicht.

»Aber … aber …«, setzte Emilia Wollner an, brach dann jedoch mit einem Schluchzer ab. Weinte ihre Mutter etwa? Dr. Borga baute sich vor ihrer Gesprächspartnerin auf.

»Mädel, alles, was verborgen ist, kann entdeckt werden. Ich hüte deine Geheimnisse und würde sie mit ins Grab nehmen, aber ich bin nur eine alte Vettel. Glaube mir, deine Familie wird es dort besser haben, deine schwächliche Tochter auch. Dorthin könnt ihr verschwinden. Ich werde mich um die Jäger kümmern. Du konntest doch früher ganz gut mit Chemikalien und Pflanzen umgehen. Alles hast du sicher nicht verlernt. Und dort hast du genug Zutaten und vor allem die Kraft dazu.«

»Meinst du nicht, sie könnten Gnade walten lassen?«, stammelte Emilia Wollner.

Frau Dr. Borgas Lachen hallte kalt durch die Zweige. Dann wurde sie wieder ernst.

»Du bist wirklich schon zu lange nicht mehr dabei, meine Kleine. Es gibt keine Mitwisser unter den anderen und für deine Taten kein Vergeben. Ich kann dich so nicht mehr schützen. Also müsst ihr untertauchen. Du wirst es auf dich nehmen, weil du keine Wahl hast. Fahrt morgen so schnell ihr könnt! Blickt nicht zurück! Ich lege eine falsche Fährte. Immerhin schulde ich dir noch etwas.«

Dr. Borga trat einen Schritt auf Emilia Wollner zu und drückte sie fest an sich, während diese von heftigem Schluchzen geschüttelt wurde. Dann beobachtete Elisabeth aus ihrem Versteck heraus, wie Dr. Borga schlagartig innehielt und rasch den Kopf hin und her drehte. Dann ging sie ohne ein weiteres Wort mit schnellen Schritten hinter den Baum und verschwand so von einem Augenblick auf den anderen aus Elisabeths Blickfeld.

Emilia Wollner ließ sich am Baumstamm herab auf ihre Knie sinken und weinte aus Leibeskräften. Rasselnd ging ihr Atem. Unartikulierte Laute brachen aus ihr hervor, während sie umständlich ein Taschentuch aus ihrer Handtasche hervorkramte. Ein Häufchen Elend, das sich jetzt erhob und sich ganz undamenhaft grob die Nase schnäuzte.

»Nun geh schon, es kommt jemand!«, drängte gedämpft die Stimme von Dr. Borga. Emilia stand nickend auf und straffte ihren Körper. Schließlich drehte sie sich um und eilte davon Richtung Zoo, wo sie arbeitete.

Elisabeth saß im Baum. Ihre Gedanken wirbelten. Was hatte ihre Mutter getan? Zu welcher Organisation gehörten sie und wohl auch Frau Dr. Borga? Geheimdienst? Agenten? Spione? Düstere Bilder rasten durch ihren Verstand, angereichert von wilden Szenen aus Filmen und Büchern. Aber dies war real. Sie schwebten in Lebensgefahr, ihr Vater und die spezielle Tochter. Hatte Dr. Borga ihre Schwester gemeint? Nein, sie war normal und gesund, wenn man einmal davon absah, dass sie Sport hasste.

Aber sie selbst plagte dieses Leiden. Sie musste dauernd diesen Trank einnehmen. Sie war diejenige, die von dem Zittern heimgesucht wurde. Das machte sie zur Schwachen. Jemand will sie töten. So musste es sein. Kalte Schauer jagten ihr über den Rücken. Und da kam es wieder – das Zittern.

Nein, nein!, dachte Elisabeth, als sie merkte, wie es erneut in ihr hochkroch. Wilde Gedanken, die sie nicht mehr unterdrücken konnte, schossen durch ihren Kopf und machten alles noch schlimmer, eine Urangst, die sie nicht in Worte fassen konnte. Sie wollte nur noch nach Hause.

Elisabeth blickte nach unten, sah aber niemanden mehr. Wie lange waren die Frauen schon weg? Sie wusste es nicht, doch nun trieb sie die Furcht vor dem Unbekannten. Ihre Tasche warf sie kurzerhand nach unten. Kalter Angstschweiß rann ihr die Stirn hinunter, während sie so schnell wie möglich vom Baum hinunterkletterte. Dass ihr T-Shirt zerriss und sie sich einen Kratzer an der Schulter zuzog, merkte sie nicht einmal. Der Puls raste in ihren Adern. Die letzten Meter sprang sie und rollte sich elegant ab. Als sie wieder hochkam, blickte sie sich um und entdeckte ganz am Ende des Weges eine Person, die gleich in den Weg zum Baum einbiegen würde. Sie konnte die Konturen durch die Büsche bereits ausmachen. Elisabeth wartete keinen Moment mehr, griff sich ihre Tasche und rannte los, direkt durch die Büsche in Richtung ihres Zuhauses.

Die blinde junge Frau kam, mit ihrem Stab vor sich her tastend, langsam auf die Eiche zu. Sie ging erstaunlich zielstrebig zu dem Baum, fast so, als wenn sie sehen könnte. Sie nahm die Brille ab. Die Augen darunter glommen ganz weiß, ohne Iris oder Pupille. Wachsam zuckte der Kopf hin und her, sie schnüffelte. Ihr Blick wanderte hoch zu den Ästen, dann auf den Boden, dann wieder hoch. Die Frau ging um den Baum herum, klopfte immer wieder mit dem Stock an den Stamm. Dann blieb sie abrupt stehen und kniete sich hin. Sie untersuchte tastend den Boden, dann wieder den Baumstamm. Ihre Finger glitten über die Wurzeln, die am Boden liegenden Eicheln aus dem Vorjahr und eine weggeworfene Plastikflasche.

Die ganze Szenerie hätte sicher jeden Passanten dazu veranlasst, stehen zu bleiben und sie zu fragen, was sie verloren hatte. Aber es kam niemand. Nur irgendwo auf einem Baum krächzte ein Vogel. Einige Momente vergingen, dann entdeckte sie etwas am Stamm. Ein kleines Stückchen T-Shirt mit einem roten Fleck. Tief beugte sie sich darüber, schnüffelte und zog die Nase kraus. Sie leckte an dem Stoff, während ihr Blick ins Leere starrte und ihre Kiefer sich mahlend hin und her bewegten, gerade so wie ein Weinkenner, der prüfend den Schluck auf der Zunge hin und her schob. Sie sog die Luft hörbar durch die Nase, drehte den Kopf auf die Seite und spuckte angewidert aus. Dann verzog sich ihr Gesicht zu einer grinsenden Fratze.

»Hab ich dich!«, murmelte sie in siegessicherem Ton.

Sie wollte sich schon erheben, als sie wiederum innehielt und lauschte. Ein leises Rascheln war das einzige, was man vernehmen konnte. Die junge Frau fuhr blitzartig herum und riss den Blindenstock wie einen Kampfstab hoch, doch es war zu spät für sie. Der dunkle Schatten einer Person fiel auf sie. Ein dicker Ast krachte mit großer Wucht auf den Schädel der Blinden, begleitet von einem hässlichen Knacken. Der Körper wurde schlaff und sackte in sich zusammen.

Borga, den Eichenast noch hoch erhoben in der Hand, trat einen Schritt näher und stieß die junge Frau mit dem Fuß an. Sie regte sich nicht mehr. Blut lief ihr über die Stirn und in die Augen, die trüb und leer in den Himmel starrten.

»Du wirst sie nicht mehr bekommen, du kleine Schlampe! Sie ist mein«, sprach Borga noch leise vor sich hin, während sie den Ast in den Wald schleuderte. Dann packte sie den leblosen Körper und zerrte ihn unter großen Mühen in die Büsche, durch die vor ein paar Minuten Elisabeth verschwunden war. Sie schnaufte dabei heftig und als sie sich aufrichtete, stöhnte sie und hielt sich die Hand an den Rücken. Offensichtlich hatte sie dort Schmerzen. Einen Moment später griff Borga in ihre Tasche, suchte und entnahm ihr schließlich ein Glas mit Schraubverschluss. Sie schüttete ein wenig von dem darin befindlichen grauen Pulver über die Leiche und murmelte etwas in einer kehligen, fremden Sprache. Zufrieden schraubte sie das Glas fest zu und steckte es wieder weg. Dann blickte sie den Trampelpfad entlang, den Elisabeth genommen hatte.

»Lauf, meine Kleine! Jetzt musst du früher reifen, als es dir lieb sein kann!«

Schließlich drückte sie sich wieder durch die Büsche und ging den Weg zurück, den die andere gekommen war, und summte dabei vor sich hin, während Käfer und Würmer aus der Umgebung eilig Richtung Gebüsch krochen. Eine Minute später bedeckten tausende von Insekten und Würmern die Leiche.

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