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Zutaten

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Emilia Wollner fühlte sich ausgelaugt und völlig fertig. Seit Tagen hatte sie nicht geschlafen, um all das nachzuholen, was man besser vorher hätte planen sollen. Die Möbelpacker waren Mittwoch spät gekommen und hatten bis tief in die Nacht gearbeitet. Sie hatte ständig zwischen den Räumen hin und her laufen müssen, damit alles an seinen richtigen Platz kam. Sie hatte es noch geschafft, einen Maler zu organisieren, der in aller Eile anrückte, um die Räume schnell noch zu streichen, bevor die Möbel hineingestellt wurden. Der Eilaufschlag, den er nahm, war unverschämt, aber es gab keine Alternative. Der Maler hielt jedoch, was er versprach. Er rückte mit drei Gesellen und zwei Lehrlingen an und holte noch einen anderen Kollegen mit einem Gesellen dazu. Und dann legten sie in Windeseile los. Sie waren gerade mit dem Erdgeschoss fertig, als der Möbelwagen eintraf, und machten dann oben weiter. Der Kollege empfahl Emilia Wollner auch noch einen Klempner für den tropfenden Wasserkopf in der Dusche. Als sie ihn anrief, wusste der schon Bescheid und versprach, gleich am Folgetag zu kommen. Die Handwerker hier im Harz schienen alle schnell zu reagieren, auch wenn Emilia sich etwas wunderte, warum das so war.

Es ging schon auf drei Uhr morgens zu, als ihr ein Zettel in die Hand fiel, den sie extra auf das Armaturenbrett geklebt hatte. Zutaten für Medizin, stand dort. Emilia fluchte so, dass es gut war, dass ihre Töchter sie nicht hören konnten. Sie fingerte ihr Handy heraus und rief die Webseite mit dem Apothekennotdienst auf. Hoffentlich hatte noch eine Apotheke Notbereitschaft. Doch sie bekam keine Webseite. Es gab hier kein Netz.

»Verdammt, Borga, was hast du mir angetan. Und das nach all dem, was ich bereit war, für dich zu geben!« Sie fuhr von ihrem Haus nach Süden Richtung Prinzenteich los und schwenkte auf die Bundestrasse ein. Endlich hatte sie Netz, nur einen Balken, aber immerhin. Hier im Harz kam es nicht selten vor, dass man keinen Empfang hatte. Sie hielt und rief die Seite auf. Es hatte nur eine Apotheke Notdienst, die Bergapotheke in Zellerfeld.

»Na, dann wollen wir mal!«, seufzte Emilia. Ihre Arbeit war noch nicht vorbei. Sie ging in Gedanken die Liste der Zutaten durch und hoffte inständig, dass sie das nötige Quäntchen Glück haben würde.

Eine Viertelstunde später parkte sie ihren Wagen vor der Apotheke. Drinnen war alles dunkel, nur eine einsame Lampe an der Vorderseite mit einem Schild wies auf die Nachtklingel hin. Sie betätigte diese. Eine ganze Weile tat sich nichts, also klingelte sie erneut, diesmal energischer. Sie hörte schließlich eine Tür heftig zuschlagen, dann wurde es wieder still. Kurz bevor sie es erneut versuchen konnte, öffnete sich die Tür und ein Junge leuchtete mit einer Taschenlampe heraus. Emilia fiel auf, dass er wie sie tiefe Ringe unter den Augen hatte und komplett angezogen war. Sie schob es auf eine Computernacht.

»Guten Abend, was kann ich für Sie tun?«

»Ich würde gern den Apotheker sprechen, ich brauche dringend ein paar Sachen.«

»Meine Mutter ist nicht da. Sie ist unterwegs. Haben sie ein Rezept?«

Emilia zögerte. Der Junge sah intelligent aus, konnte aber kaum älter sein als ihre große Tochter. Fünfzehn, maximal sechzehn Jahre schätzte sie ihn.

»Äh, nein, aber ich weiß genau, was ich brauche. Doch was ist mit dir? Bist du nicht ein bisschen zu jung, um als Aushilfsapotheker zu arbeiten?«

Offensichtlich hatte sie seine Ehre verletzt, denn er reckte sich zu seiner vollen Höhe auf und überragte sie damit um einen halben Kopf.

»Erlauben Sie mal, ich bin mit Abstand der Beste in Chemie und Biologie bei uns und ich helfe schon seit vielen Jahren hier aus.«

»Wie heißt du denn?«, bohrte sie weiter nach.

»Theobald, Theobald Binsenkraut. Die Apothekerin ist meine Mutter.« Er musterte sie und setze hinzu: »Ich bin bald sechzehn. Früher galt man damit als erwachsen. Und wer sind Sie?«

Der Tonfall war schon reichlich unverschämt, aber sie versuchte zu lächeln, seufzte und antwortete: »Emilia Wollner, wir sind erst vor Kurzem hierher gezogen. Ich kenne mich noch nicht aus. Die Möbelpacker sind leider erst vor einer Stunde fertiggeworden.« Dann blickte sie ihn an. Vielleicht war es gut, dass ein unwissender Junge sie bediente und kein ausgebildeter Apotheker. »Ich brauche die Sachen wirklich dringend. Also bitte, versuchen wir es.«

Auf ihren verzweifelten Blick hin beugte er sich weiter heraus. Dabei leuchtete er ihr direkt mit der Taschenlampe ins Gesicht, sodass sie wegschauen musste. Hastig entschuldigte er sich sogleich dafür, während vor ihren Augen noch Sternchen tanzten. Er öffnete die Tür so weit, dass sie hinein konnte, und machte eine einladende Geste. Emilia Wollner beeilte sich, einzutreten.

»Warten Sie kurz hier!«

Drinnen machte Theobald Licht und verschwand durch eine Tür. Der Ausgaberaum lag links und war für die Kunden nur über eine große Durchreiche einzusehen. Emilia kam nicht umhin, die beeindruckenden Deckenarbeiten zu bewundern. Kurz darauf tauchte er auf der anderen Seite auf und fuhr die Kasse hoch.

»Also, was darf es sein?«

»Ich brauche Eisenhutextrakt, Schierling, Kaliumzyanid, Eibenrinde, reinen Alkohol, Tollkirschen, Rizinusöl und vor allem Argentum nitricum in hochkonzentrierter Form, nicht das homöopathische Zeug. Den Rest habe ich noch. Ach, und ein Aufputschmittel, so was wie Taurin.«

»Sie wollen sich da selber was zusammenmischen? Das meiste davon ist giftig, wenn nicht sogar tödlich. Wollen Sie jemanden umbringen?« Theobalds Miene wurde ernst.

»Du kennst dich ja gut aus, junger Mann! Ich mische mir daraus ein Abwehrmittel gegen Blattläuse und Milben. Ein altes Hausrezept.« Emilia versuchte wieder zu lächeln.

»Vieles davon ist ohne Rezept unverkäuflich. Ich darf es Ihnen nicht herausgeben. Und hätte das nicht bis morgen Zeit? Müssen sie mich unbedingt deswegen mitten in der Nacht aus dem Bett klingeln?«

Emilia Wollner hatte so etwas befürchtet, aber nun setzte sie alles auf eine Karte. Sie brauchte die Sachen unbedingt. Mit ihrer in langen Jahren erprobten Autorität in der Stimme sagte sie scharf: »So, so, und ich bin die Kaiserin von China. Ich weiß ganz genau, was du gerade gemacht hast, ich bin schließlich nicht dumm und kann Symptome erkennen. Wenn du mir hilfst, sag ich auch nicht deiner Mutter, was du so nachts treibst.« Sie wusste, dass sie hier bluffte, denn sie hatte keine Ahnung, was er gerade getan hatte.

Zu ihrer Genugtuung erschrak Theobald heftiger, als sie es erwartet hatte. Eine Pause entstand, in der sich verschiedene Gefühle auf seinem Gesicht spiegelten. Dann schien er, sich entschieden zu haben, und kramte unter seinem Pullover herum, als suche er etwas.

»Wenn ich das tue, will ich, dass Sie bei Ihrer Ehre schwören, dass Sie nichts sagen.«

Ganz schön forsch trat er auf, aber sie hatte ihn. »Gut, ich schwöre, dass ich deiner Mutter nichts …«

»Nie!«, unterbrach er sie.

Sie begann nochmal: »Also, ich schwöre, dass ich deiner Mutter nie sagen werde, was du in der Nacht so treibst.«

Theobald wirkte zufrieden. »Das reicht mir. Dann brauchen wir die Kasse auch nicht, ich nehme das Geld bar von Ihnen.«

Emilia nickte und suchte ihr Portemonnaie heraus, während Theobald verschwand. Erneut verblüffte er sie damit, dass er erstaunlich schnell wieder auftauchte und alle Zutaten gleich mit dabei hatte. Offensichtlich hatte sie ihn total unterschätzt. Beim Verhandeln um die Menge, die er bereit war, schwarz herauszugeben, musste sie nochmal nachhelfen, aber schließlich hatte sie alles beisammen. Es wurde teuer, aber das war ihr egal. Sie gab ihm noch etwas mehr als Schweigegeld und wurde dann von ihm freundlich vor die Tür eskortiert. Sie stieg ein und fuhr zurück zur Neuen Mühle. Sie hatte noch viel vor.

Theobald blickte ihr vom Fenster aus noch lange nach. Wer war diese Frau? Die Zutaten, der Zeitpunkt, die Mengen – alles verdächtig. Sie beherrschte den gleichen autoritären Tonfall wie seine Mutter. Er hatte sie beim Anleuchten magisch gescannt, aber sie hatte eine ganz normale menschliche Aura gehabt. Inzwischen war er sich sicher, dass sie sich etwas ganz anderes bei der Behauptung, sie wisse, was er nachts tat, gedacht hatte. Immerhin hätte sie die Jodflecken an seiner linken Hand bemerken oder die Dämpfe an seiner Kleidung riechen können. Das hatte sie nicht, aber als sie vor ihm stand, hatte er es mit der Angst zu tun bekommen und lieber eingelenkt. Nun würde er die Bücher fälschen müssen, damit die vorrätigen Mengen wieder stimmten. Das Silbernitrat war jetzt fast alle. Aber die Frau hatte so verzweifelt auf ihn gewirkt, dass er nicht anders gekonnt hatte, als ihr zu helfen. Er hatte ihr keine Sekunde geglaubt, dass sie die Zutaten für ein Blattläusemittel brauchte. Dafür reichte ein Teebaumöl-Wasser-Gemisch mit etwas Spülmittel. Was hatte die Frau nur vor? Er zuckte die Schultern, als er die Haupttür verriegelte und sich wieder Richtung Keller wandte. Für heute würde er aufhören. Übermorgen früh kam seine Mutter wieder aus Berlin. Sie hatte zu seiner großen Freude noch einige Tage dranhängen müssen. Er hatte sein Glück gar nicht fassen können, aber jetzt war er froh, dass sie bald wiederkam. Etwas Merkwürdiges ging in Clausthal vor. Erst diese Ausbrüche unkontrollierter Magie und dann diese Frau mit ihrem Nachteinkauf. In der Zeitung stand, dass in der letzten Woche wieder Schafe gerissen worden waren. Da war es gut, seine Mutter wieder hier zu wissen. Sie würde mit Bedrohungen aller Art mühelos fertig werden.

Nachdem er alles wieder aufgeräumt, den Weg zum Nachbarkeller wieder versperrt und die Bücher manipuliert hatte, ging er endlich ins Bett. Die Dämmerung hatte schon lange eingesetzt.

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