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Ans Ende der Welt

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»Eine ganze Flasche? Bist du wahnsinnig? Das kann sie umbringen!«, erklang Emilia Wollners aufgebrachte Stimme.

»Nein, nicht eine ganze. Das Meiste davon hat sie mir gleich wieder auf das Hemd gespuckt. Der Rest ist leider dann ausgelaufen. Ich war mir nicht sicher, wie viel sie braucht. So heftig war es noch nie.«

»Ausgerechnet jetzt. Ihre eigene Flasche hatte sie doch heute Morgen dabei. Die wird sie doch hoffentlich nicht verloren haben. Ich habe fast keine Reserve mehr.«

Währenddessen öffnete Elisabeth vorsichtig ein Auge zur Hälfte. Soweit sie erkannte, lag sie in ihrem Zimmer auf dem Bett, denn sie konnte im Halbdunkel einen Teil ihrer Kommode und die linke untere Ecke des Fensters erkennen. Die Jalousie war fast zugezogen. Die Sonne stand tief und warf durch die Ritzen Streifen gelben Lichts auf die Wand. Es ging offenbar schon auf den Abend zu. Die Stimmen ihrer Eltern drangen an Elisabeths Ohren, während ihr Gehirn sich mühte zu verstehen. Ein bleischweres Gefühl drückte sie in ihre Matratze und ein anhaltendes Brennen zog sich von ihrem Mund über die Kehle bis in den Magen. Erinnerungen an intensiven Schmerz im ganzen Körper schossen in ihr hoch. Elisabeth stöhnte schwach. Der Versuch, sich zu bewegen, scheiterte. Es fühlte sich an, als hätte sie am ganzen Körper Muskelkater. Arme und Beine reagierten einfach nicht auf die Anweisungen ihres dröhnenden Gehirns. Sie gab es auf. Die Stimmen von unten erschienen ihr so laut, als stünden ihre Eltern direkt neben ihr.

»Wir sollten sie wirklich zu einem anderen Arzt bringen. Ich sage das schon lange, aber du willst ja nicht hören. Man wird ihr im Krankenhaus Annastift oder besser noch im International Neuroscience Institute helfen können.«

»Nein!« Die Stimme ihrer Mutter erklang schneidend und beendete das Gespräch abrupt.

Die Treppenstufen quietschten. Jemand kam nach oben. Elisabeth schloss das Auge wieder. Sie wollte niemanden sehen. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie ins Haus gekommen war. Das Letzte, was sie noch wusste, war, dass sie gegen die Gartenpforte geprallt war, danach lag alles in dunklem Schmerz.

Vorsichtig öffnete sich ihre Zimmertür. Ihre Mutter betrat leise den Raum.

»Betsy-Schatz, bist du wach? Wie geht es dir?«

Sie kam näher und setzte sich neben ihr auf das Bett. Elisabeth konnte die Schritte auf dem Boden hören, das Rascheln des Stoffes und auch das Atmen ihrer Mutter. Alles erschien ihr unnatürlich laut. Als sie Platz nahm, stach der Blütengeruch ihres Parfüms Elisabeth in die Nase, aber dann bemerkte sie auch einen erdigen Geruch mit einer bitteren Note, die sie an den Waldboden unterhalb einer Eiche erinnerte. Ihr Geist spielte ihr sicher einen Streich.

»Sie schläft wohl noch!«, meldete sich die Stimme ihres Vaters vom Flur aus.

»Sie ist gestürzt, ich muss sie untersuchen. Geh bitte raus und mach die Tür zu. Kümmere dich um Klara, wenn sie gebracht wird. Sie braucht mit dem Gips sicher Hilfe.« Die Stimme ihrer Mutter ließ keinen Zweifel, dass sie verärgert war und es ernst meinte. Eine Pause entstand.

»In Ordnung, wenn du meinst!«, kam zögerlich die Antwort ihres Vaters und er schloss die Tür.

Elisabeth spürte die Hand ihrer Mutter auf ihrem Kopf. Sie sprach mehr zu sich als zu Elisabeth.

»Du Arme, was hast du nur angestellt? Warum hast du bloß deine Medizin nicht zur Hand gehabt? Die Krämpfe können dir ernsthaft schaden.«

Dabei begann sie, Elisabeth, die so tat, als wäre sie immer noch völlig weggetreten, vorsichtig auszuziehen. Danach tastete sie ihre Tochter sorgfältig ab. Elisabeth hätte sich am liebsten gewehrt und ihre Mutter angeschrien, sie solle sie in Ruhe lassen, aber sie hatte nicht die Kraft dazu. Besonders unangenehm wurde es, als ihr sogar der Mund geöffnet und ein Augenlid kurz angehoben wurde. Nach einer gefühlten Ewigkeit seufzte Emilia Wollner schließlich erleichtert auf.

»Es ist alles in Ordnung, denke ich. Nichts gebrochen, keine Schrammen, keine Prellungen. Du hattest diesmal viel Glück. Wenn Papa nicht zu Hause gewesen wäre ... nicht auszudenken!« Sie stand wieder auf und ging ein paar Schritte auf die Tür zu. Dann blieb sie stehen und drehte sich noch einmal um. »Vielleicht hilft es dir, zu wissen, dass wir einen Ausflug machen, nein vielmehr ziehen wir um. Du kannst diese Schule hinter dir lassen und dort neu beginnen. Wir fahren bereits morgen hoch in die Berge. Ich muss noch alles packen. Die Möbel kommen dann per LKW nach. Du wirst es lieben. Es wird ganz toll!«

Elisabeth hörte die Worte, die ihre Mutter an sich selbst richtete, konnte sie aber nicht wirklich glauben. Ein Umzug? So kurzfristig? Hing das damit zusammen, was Dr. Borga zu ihrer Mutter gesagt hatte? Die Erinnerung kam bruchstückhaft und nur langsam zurück. Ihre Mutter glaubte nicht wirklich, dass alles ganz toll werden würde, das konnte sie an dem leichten Vibrieren unterhalb des positiven Klangs in ihrer Stimme hören. Es schien eher so, als wenn sie versuchte, sich selbst zu motivieren. Der Versuch scheiterte kläglich, fand Elisabeth.

»Dein Vater wird in Clausthal an der Universität dozieren und wir werden sicher schnell ein Haus finden mit einem schönen Garten. Ich habe da schon eine Empfehlung von einer guten Freundin bekommen. Du wirst schon sehen, es wird ganz … wundervoll. Schlaf dich jetzt aus.« Während sie das sagte, begann ihre Stimme immer mehr zu wanken. Sie beeilte sich, aus dem Raum zu kommen. Die Tür wurde geöffnet und geschlossen, aber danach quietschten die Stufen nicht gleich. Ihre Mutter schniefte vor der Tür und putzte sich die Nase. Dann erst setzten die vertrauten Geräusche der Stufen ein, als sie nach unten ging.

Clausthal? Liegt das nicht im Harz? Elisabeths Gehirn nahm unter Protest die Arbeit wieder auf. Sie würde alle Freunde verlieren, die gewohnte Umgebung und die Vorzüge der Stadt. Sie würden sich dort verstecken vor diesen Anderen, so viel war ihr jetzt schon klar. Sie zogen ans Ende der Welt.

Alles, was Elisabeth über den Harz wusste, beschränkte sich darauf, dass es das höchste Gebirge Norddeutschlands war und die innerdeutsche Grenze früher hindurch lief. Wie hieß noch der höchste Berg? Sie hatte das im Heimat- und Sachunterricht lernen müssen, aber es fiel ihr nicht mehr ein. Im fünften Schuljahr war ihre Klasse im Schullandheim am Torfhaus gewesen. Ihre Mutter hatte sie genau in der Woche wegen einer dringenden Untersuchung bei Dr. Borga zu Hause behalten. Damals war Elisabeth zunächst traurig gewesen, nicht mitfahren zu können. Die anderen hatten nach der Fahrt berichtet, dass sie in Höhlen und Bergwerksmuseen hatten gehen müssen. Fast alle hatten sich auf den langen Wanderwegen zu Orten, deren Namen sie schon wieder vergessen hatte, Blasen gelaufen. Elisabeth versuchte, sich zu erinnern. Gab es nicht den Blocksberg? Da, wo die Hexen zu Walpurgis auf ihren Besen hinflogen? Nein, das war nur eine Geschichte von Ottfried Preußler, oder nicht? Die kleine Hexe, ein Kinderbuch, das sie einmal bei einer Freundin gelesen hatte. Das Märchen war recht witzig gewesen und genau das Richtige für träumende Kinder. Sie träumte aber nicht. Für sie würde es wirklich in den Harz gehen.

Elisabeth öffnete die Augen. Die Sonnenstrahlen waren schwächer geworden und krochen als schmale Streifen an der Wand empor. Bald würde die Sonne untergehen. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie einen unbändigen Hunger verspürte. So hungrig war sie schon lange nicht mehr gewesen. Sie musste etwas essen.

Ein erneuter Versuch, sich zu bewegen, gelang ihr endlich, aber der Preis waren heftige Gliederschmerzen und ein erneutes Brummen im Kopf. Elisabeth kämpfte verbissen weiter. Sie konnte und wollte nicht mehr warten. Es passierten haufenweise Dinge, ihr ganzes Leben schien sich an einem Tag umzukrempeln und sie lag nutzlos im Bett. Sie biss die Zähne aufeinander und schwang sich herum, bis sie den Halt verlor, aus dem Bett rollte und auf allen vieren auf dem Boden landete. Die offenen Haare fielen ihr ins Gesicht. Für einen Moment raubten ihr die Kopfschmerzen die Sicht. Sie atmete stoßweise durch die Nase, bis sie sich wieder gefangen hatte. Langsam hob sie die rechte Hand, ergriff ihren Bettpfosten und zog sich daran hoch. Die Sachen, die sie angehabt hatte, hatte wohl ihre Mutter mitgenommen. Jedenfalls waren diese nirgends zu sehen. Wie eine Betrunkene tastete sie sich vorsichtig zur Kommode und zog die Schubladen auf. Während sie sich anzog, fiel ihr Blick in den Spiegel.

Von der anderen Seite schaute ihr eine Person mit einem trotzigen Gesichtsausdruck entgegen. Mit den verwuschelten offenen Haaren sah sie verwegen aus, fast schon wild. Sie griff nach der Bürste, hielt dann aber inne. Mit Kopfschmerzen war es keine gute Idee, sich Knoten aus den Haaren zu bürsten. Stattdessen griff sie nach einem Haargummi. Während sie es sich um ihre Mähne wand, hörte sie draußen vor dem Haus ein Auto anhalten. Türen klappten und kurz darauf klackte die Gartentür. Klara wurde gebracht. Sie hatte sicher noch keine Ahnung, was alles passiert war. Elisabeth würde es ihrer jüngeren Schwester jedenfalls nicht erzählen.

Seit sie zurückdenken konnte, hatten sich beide Schwestern einen ungleichen Kampf geliefert. Klara war häufig krank, unsportlich und so ungeschickt, dass sie in ihrem kurzen Leben bereits mehrere Knochenbrüche gehabt hatte. Aktuell trug sie wegen eines Wadenbeinbruchs am linken Bein einen Gips. Dafür war sie aber mit einem Wissensdurst gesegnet, der ihr trotz der vielen Fehlstunden in der Schule Bestnoten bescherte. Und sie ließ keine Gelegenheit aus, ihre größere Schwester genau das spüren zu lassen. Auch diesmal, so ahnte Elisabeth, würde es nicht lange dauern, bis sie sie wegen ihres Zeugnisses drangsalierte. Dafür hatte sie sich schon mehrfach mit Knuffen und Remplern revanchiert. So ging mindestens einer der vielen Knochenbrüche direkt auf ihr Konto. Das hatte ihr damals richtig leidgetan. Aber das lag nun schon über sechs Jahre zurück.

Was Elisabeth am meisten wurmte, war, dass Klara immer Recht bekam. Sie provozierte zumeist so lange, bis Elisabeth etwas tat und schließlich den ganzen Ärger dafür bekam. Sie spürte, wie sie immer wütender wurde, aber das vertrieb die Kopfschmerzen zum großen Teil. Ihr Blick wurde klarer, als sie sich schließlich vorbeugte und direkt in den Spiegel schaute. Einen Moment irritierte sie, was sie sah, denn sie sah immer noch desolat aus, aber in ihren Augen lag das Funkeln eines wilden, erwachenden Geistes, der sich nicht mehr beugen wollte.

»Heute wirst du dich wundern, Schwesterherz. Ich weiß diesmal mehr als du«, teilte sie ihrem Spiegelbild mit. Getrieben von einem knurrenden Magen ging sie schließlich nach unten, um etwas zu essen.

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