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Waldpilzomelett à la Binsenkraut

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Im ersten Stock der Bergapotheke roch es himmlisch. Theobald saß auf einem hohen Drehhocker direkt am Küchentresen. Sein Blick schweifte umher. Die hypermoderne Küche wollte nicht so recht zu den alten Wänden passen, überlegte er nicht zum ersten Mal. Es kam ihm falsch vor, dass seine Mutter auf Mikrowelle und Induktionsherd abfuhr, wo es doch besser zu ihr passen würde, in einem offenen Kessel über dem Lagerfeuer zu kochen. Die moderne Aufmachung täuschte nicht darüber hinweg, dass hier eine äußerst selbstverliebte, aber auch talentierte Hexenköchin herumwerkelte. Für ihr göttliches Essen war er jedoch bereit, alles zu verzeihen und jeden zu belügen. Es war seine große Schwäche. Er hatte noch nie etwas bei ihr bekommen, was nicht vorzüglich schmeckte. Gerade brutzelten für sein Lieblingsessen Maronen und Steinpilze in einer Pfanne mit einigen Zwiebelspalten und Kräutern, die aus dem eigenen Garten hinter dem Haus stammten. Anna Binsenkraut stand breitbeinig am Herd und schwang den Kochlöffel. Sie hatte den Apothekermantel gegen eine Schürze vertauscht, trug aber immer noch das viel zu knappe Kleid, sodass Theobald peinlich berührt wegsah. Sie sang beim Kochen leise vor sich hin – zumindest würde das jeder andere denken. Aber Theobald wusste, dass sie ständig ein wenig Magie bei der Zubereitung einsetzte. Sie konnte es generell nicht lassen, was ihnen schon mehr Probleme bereitet hatte, als er zählen konnte. Er hatte es ihr mehr als verziehen, dass sie zur Strafe in den Harz verbannt worden war. Im Grunde war es für ihn ein Segen, denn hier schaute keiner mehr so genau hin, was passierte. Das Wichtigste war, dass die Menschen nichts mitbekamen, und das taten sie nicht. Sie waren so dumm. Theobald grinste unwillkürlich darüber. Auch er hatte seine Geheimnisse, von denen nicht einmal seine Mutter wusste. Noch in Gedanken schob er die Hand unter seinen Pullover und tastete nach dem Amulett seiner Großmutter. Es hing noch dort. Der schwere Opal, umrahmt von altem Silber, schmiegte sich an seine Brust. Kein anderer Junge hätte dieses Schmuckstück freiwillig getragen, dafür sah es zu sehr nach alter Frau aus. Aber Theobald wusste es besser, er kannte die Kraft des Amulettes, welche ihm erlaubte zu sein, wer er war.

Es zischte, als das Ei in die Pfanne floss und die Pilze einfasste. Achtlos warf Anna Binsenkraut die Schüssel direkt in die Spüle.

»Wir können gleich essen, es dauert nur noch drei Minuten. Deck doch schon einmal den Tisch!«

Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Rasch deckte er den Tisch und schnitt noch dicke Kanten von dem frischen Brot ab, das er heute geholt hatte.

Dabei schweiften seine Gedanken unwillkürlich zu den Geschehnissen am Nachmittag. Er bekam ein schlechtes Gewissen, denn er wusste, dass er vor den drei anderen Jungen geflohen war. Als er daran dachte, wen die drei statt seiner erwischt hatten, wurde ihm heiß und kalt. Arme Sabrina. Er kam sich so schuldig vor, aber was hätte er denn machen sollen? Er war schwach, sie hingegen stark. Als er sie erneut hinter sich bemerkt hatte, waren seine Beine von alleine losgelaufen und hatten den Rest des Körpers mitgenommen. Er hatte nicht abgewartet, was dann hinter ihm passierte. Doch es gab noch etwas anderes, was er bemerkt hatte. Als er fast schon den Busbahnhof erreicht hatte, war ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken gelaufen, so wie bei einem rohen Zauber. Es gab keinen Grund, es zu erwähnen, denn dass er überhaupt Magie spüren konnte, brachte ihn in der Hexenwelt in Lebensgefahr. Hexen hatten fast nie Söhne und wenn, dann waren diese zumeist geistig zurückgeblieben und ohne jegliches magisches Talent. Doch für ihn war die Welle so deutlich zu fühlen gewesen wie ein Kübel mit Eiswasser. Sicher hatte seine Mutter das auch gespürt, aber sie machte keine Anstalten, es zu erwähnen. Warum auch? Sie arbeitete ja nicht mehr in Berlin und jagte internationale Unterweltler. Für Jägerinnen galten strengste Richtlinien. Deswegen hatte seine Mutter seine Geburt vertuscht, indem sie ihn zu seiner Großmutter gegeben und so getan hatte, als hätte sie kein Kind. Als nach Jahren herauskam, dass sie einen gesunden Sohn geboren hatte, endete ihre Karriere von einem Tag auf den anderen. Dass sie daran nicht erinnert werden wollte, hatte sie ihm überdeutlich zu verstehen gegeben. Sie war lange am Boden zerstört gewesen und hatte viel getrunken. Seine Großmutter Philidea, die die Konsequenzen kannte, hatte ihn schwören lassen, seiner Mutter nie etwas von seinen Talenten und dem Amulett zu sagen. Und das erwies sich als gut so.

Kaum war er mit dem Tisch fertig, da kam seine Mutter auch schon mit der dampfenden Pfanne herüber. Sie setzten sich. Theobald wusste genau, dass er nicht zugreifen durfte. Doch diesmal konnte er es gar nicht, denn Anna Binsenkraut griff nach seinen Händen und starrte ihn eine Weile durchdringend an. Dann senkte sie den Kopf und schloss die Augen. Dass sie einen Tischspruch vor dem Essen sprach, war ein normales Prozedere, aber dies ging deutlich darüber hinaus. Ihm wurde sehr mulmig zumute und er schloss deswegen seine Augen nicht. Gebannt musterte er ihre Mimik, wie sie sich immer weiter einstimmte und dazu stumm ihre Lippen bewegte. Die Augäpfel zuckten unter den Lidern. Theobald spürte, dass sie einen Zauber heraufbeschwor. Das tat sie sonst nicht, wenn er zugegen war. Das hier, so vermutete er, musste ein richtig mächtiger Zauber sein, denn er konnte bereits ein Kribbeln spüren, das sich über die Hände seiner Mutter auf ihn ausbreitete.

Sollte er es wagen? Wenn er seinen Blick für das Übersinnliche öffnete, konnte er vielleicht mehr sehen, was sie wirklich tat. Es war extrem riskant, weil seine Augen dabei immer komplett weiß wurden, aber andererseits interessierte es ihn zu sehr. Er hatte es heimlich schon oft vor dem Spiegel ausprobiert. Es hatte etwas Gruseliges an sich, auch wenn es ihm selbst nicht weh tat. Wenn er nur kurz schaute? Im Bruchteil einer Sekunde siegte die Neugier und er konzentrierte sich ebenfalls. Er richtete zunächst seinen Blick nach innen, seine Iris und Pupillen wurden weiß und dann blickte er sich um. Die realen Dinge waren irgendwie farbloser geworden, noch scharf umrissen, aber etwas anderes zog ihn unwillkürlich in seinen Bann. Was er sah, faszinierte und erschreckte ihn zugleich. Dutzende bunte Fäden aus leuchtendem gelblichen und grünlichen Licht wuchsen aus dem Boden und strömten in seine Mutter, die inzwischen von innen heraus glühte. Das Licht wurde immer greller. Runen erschienen auf ihrer Haut und strahlten in einem hellen Gelb. Er versuchte, die stummen Worte ihrer Lippen zu lesen, doch es gelang ihm nicht. Im Geiste verfluchte er sich, weil Lippenlesen noch auf der Liste der nützlichen Dinge stand, die er immer schon einmal lernen wollte. Doch selbst wenn er die Worte verstanden hätte, hätte er sich einen so langen Zauber nicht merken können. Gebannt beobachtete er weiter, wie der Strom der Magie aus dem Boden nachließ, die leuchtenden Runen sich ablösten und auf die Wände zuschossen. Viele bewegten sich auch durch die Tür in andere Räume, wo er sie nicht mehr sehen konnte. Doch die Runen in diesem Raum trafen auf die Wände und fraßen sich hinein. Urplötzlich breiteten sich von ihnen feine Linien wie Adern oder Wurzeln aus und verbanden sich mit den anderen Runen. Theobald blickte nach oben an die Decke, wo eine besonders markante Rune mit einer Art durchkreuzenden Schlangenlinie prangte. Mit einem Mal war der Spuk vorbei und das Leuchten erlosch. Insgesamt konnten es nur zwanzig oder dreißig Sekunden gewesen sein, aber es war Theobald viel länger vorgekommen.

Er schloss hastig die Augen, denn er hatte schon fast zu viel riskiert. Mit schwirrenden Gedanken ließ er den Blick wieder fallen. Ein Schutzzauber, vermutete er, indem er das durchging, was er sich bereits unerlaubterweise aus den Büchern im Schlafzimmer seiner Mutter erlesen hatte. Ihn wirklich zu sehen, war überwältigend. Der Spruch schien sehr mächtig zu sein. Er fuhr zusammen, als seine Mutter sich räusperte und mit deutlicher Stimme den normalen Tischsegen sprach. Hastig fiel er mit ein.

»Wir danken euch, ihr Kräfte der Natur, für dieses leckere Essen! Der Friede der Harzgeister sei mit uns und beschütze uns vor dem Kommenden!«

Theobald öffnete die Augen wieder und musterte seine Mutter, während sie weitersprachen. Warum hatte sie das gerade getan? Was ahnte sie, dass er nicht wusste? Hatte es mit der magischen Schockwelle von heute Nachmittag zu tun? Es schien logisch, aber warum beschwor sie den Zauber dann erst jetzt? Irgendetwas musste sie erfahren haben. Doch was konnte das sein?

Berauscht von dem gerade Gesehenen wurde er viel zu neugierig, um wirklich ruhig bleiben zu können. Mit aller Gewalt zwang er sich zur Ruhe, denn es wäre jetzt unvorsichtig, sie gleich darauf anzusprechen. Er musste eine günstigere Gelegenheit abwarten.

Als sie schließlich geendet hatten, teilten sie das Omelett auf und verfielen in Schweigen, während sie aßen. Theobald verschlang seinen Anteil in Rekordzeit, aber er merkte es nicht, denn er dachte die ganze Zeit fieberhaft daran, wie er fragen sollte, ohne sich selbst verdächtig zu machen. Anna Binsenkraut hingegen wirkte eher in sich gekehrt und blickte immer wieder auf die Uhr, was alleine schon ungewöhnlich war, denn sie hielt nicht viel von exakter Zeitmessung. Das Leben verläuft in Wellen. Man kann es nicht in gleichgroße Portionen schneiden, pflegte sie zuweilen zu sagen. Doch diesmal schien etwas anders zu sein. Dann brach sie selbst das Schweigen.

»Theobald, bitte wasch nachher alleine ab. Ich muss heute Nacht noch für ein paar Tage zum Hohen Rat. Es gibt da etwas, was dringend geklärt werden muss. Ich habe für alle Fälle unser Haus mit einem Schutz belegt, den nur du und ich passieren können. Du solltest über das Wochenende zu Hause bleiben.«

Theobald machte große Augen. Zum Hohen Rat? Das war ein Gremium in Berlin, das sich aus den allerhöchsten Hexen zusammensetzte. Dieser war immerhin dafür verantwortlich gewesen, dass seine Mutter in den Harz abgeschoben worden war. Sie hatte seit dieser Zeit kein gutes Haar mehr an der Führung gelassen und, soweit er von einem unkontrollierten Fluchanfall seiner Mutter her wusste, hielt sie die Mitglieder alle für inkompetente senile Stadthexen. Der Hohe Rat habe sich laut ihr weit von seinen Ursprüngen entfernt und mische kräftig im politischen Tagesgeschehen mit. Seine Kernaufgabe bestand darin, die Magie vor den gewöhnlichen Menschen zu verbergen. Wie genau das funktionierte, war Theobald nicht bekannt. Offenkundig funktionierte es hervorragend, denn die Menschen ahnten nichts. Im Prinzip dürfte er auch nichts davon sehen. Sein magisches Talent war sein Geheimnis, das er mit dem Amulett verbarg. Niemand durfte erfahren, dass er mehr war als nur ein Sohn. Er wagte einen Vorstoß.

»Aber was wollen sie von dir? Bist du nicht fertig mit denen? Das hast du doch mehr als einmal gesagt.«

Seine Mutter blickte auf und ihm direkt in die Augen. Normalerweise war ihr Blick stechend und konnte schwächere Geister ohne ein Wort einschüchtern. Doch diesmal lag darin etwas ganz anderes. Die Augen waren besorgt und füllten sich, während sie nach einigem Zögern antwortete, mit Tränen.

»Ich sollte dir das eigentlich nicht sagen, aber es gab einen Mord an einer unserer Jägerinnen. Ich weiß noch nicht mehr, aber …« Ihre sonst so feste Stimme wackelte. »Ich muss sie gekannt haben. Warum sie jetzt nach all den Jahren ausgerechnet mich zu einer Anhörung zitieren, ist mir ein Rätsel. Vor den Rat wollte ich nie wieder treten, aber sie haben mich vorgeladen. Ich muss gehen. Der Wagen kommt um acht. Aber habe keine Angst. Der Schutzzauber ist sehr stark. Ich habe nur die Apotheke selbst ausgelassen.« Eine Sprechpause entstand.

»Nimmst du nicht den Besen?«, rutschte es Theobald heraus, bevor er den Mund halten konnte.

»Sei nicht so albern, Theobald«, herrschte sie ihn an. »Die Menschen sind naiv, aber nicht alle total plemplem. Es wäre zu viel Magie nötig, um sich abzuschirmen, dass sie mich nicht sehen. Eine Vergeudung und außerdem in dieser Jahreszeit zu gefährlich. Ich muss Montag früh wieder in der Apotheke stehen.«

»Und ein Raumportal oder über einen Steinkreis?«, bohrte Theobald weiter. Die Tatsache, dass sich magisch was tat, machte ihn unvorsichtig, weil er so sehr danach lechzte, mehr zu erfahren. Doch jetzt war er zu weit gegangen. In Bruchteilen von Sekunden änderte sich die Stimmung seiner Mutter und sie funkelte ihn böse an.

»Theobald Leif Binsenkraut, du interessierst dich zu sehr für Dinge, die dich nichts angehen. Ich bin zwar deine Mutter, aber hüte dich, dich als Mann in Hexenangelegenheiten einzumischen. Sonst wird es dich teuer zu stehen kommen. Ich erteile dir hiermit Hausarrest und du kümmerst dich jetzt um den Abwasch.«

»Aber …«, begann er, doch sie fiel ihm gleich ins Wort.

»Die ganze Woche!« Anna Binsenkraut sprang auf, riss sich die Schürze ab und warf sie Theobald entgegen, der sich ängstlich duckte, anstatt sie zu fangen. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und verließ die Küche.

Als er sich wieder aufrichtete, war sein Blick nicht ängstlich, sondern entschlossen. Er hatte mindestens ein ganzes Wochenende für seine Experimente und seine Mutter würde weit weg in Berlin sein.

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