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Sommerferien

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Hannover. Die U3 der Üstra1 fuhr ruckelnd wieder an. Wegen Gleisbettarbeiten, die schon seit dem Frühjahr andauerten, fuhr die U-Bahn nur im Schneckentempo. Elisabeth strich sich eine dunkelblonde Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus dem Pferdeschwanz gelöst hatte, und blickte zur Anzeigetafel. Noch vier Stationen bis Spannhagengarten. Dort stieg sie für gewöhnlich aus.

Weniger Schüler als sonst üblich lümmelten sich auf den Sitzen und in den Gängen. Man hatte richtig Platz, weil viele Kinder bereits direkt am Schulgebäude von ihren Eltern mit dem Auto abgeholt worden waren. Endlich Sommerferien! Man winkte und rief, einige fielen sich in die Arme. Elisabeth empfand dieses Getue inzwischen nur noch als peinlich, immerhin ging sie in die neunte Klasse. Vor allem die jüngeren Schüler, die von den Größeren nur verächtlich Zwerge genannt wurden, wedelten aufgeregt mit ihren Zeugnissen. Sogar einige Großeltern hatten vor der Schule gestanden.

Elisabeth schnaubte abfällig und rückte die Kopfhörer ihres Handys zurecht. Sie hatte keine Musik an, so etwas mochte sie gar nicht, aber so sprach sie in der Regel keiner an oder wunderte sich, wenn sie nicht reagierte.

Großeltern! Sie hatte keine Großeltern – zumindest keine, die sie kennengelernt hatte. Während sie darüber nachdachte, verfinsterte sich ihre Miene. Für sie erschien es normal, ohne diesen Teil einer Familie auszukommen. Zurückgeblieben war eine Mischung aus Trauer, Resignation und Gleichgültigkeit. Vielleicht auch etwas Neid, aber das wollte sie sich nicht eingestehen. Die Eltern ihrer Mutter waren angeblich früh verstorben, so hatte man es ihr erzählt. Die ihres Vaters waren schon vor Jahren kurz nach ihrer Geburt nach Australien ausgewandert, um sich selbst zu verwirklichen. So war der Kontakt zu ihnen komplett abgebrochen. Ihr Vater hatte versucht, ihr zu erklären, dass die dortige Kommune Telefone ablehnte und keine Post verschickte. Elisabeth hatte ihm das nicht wirklich geglaubt, aber so musste sie sich heute nicht die enttäuschten Gesichter anschauen.

Sicherlich, sie war in die zehnte Klasse versetzt worden, wenn auch nur knapp. Eine einsame Eins in Sport, aber sonst nur wenige Dreier, einige äußerst gnadenreiche Vierer und eine dicke Fünf in Mathe – ausgerechnet Mathe. Ein schwerer Seufzer entfuhr ihr.

Sie würde ihrem Vater gegenübertreten müssen, Dr. math. Michael Wollner, Mitarbeiter und rechte Hand des Professors für Mathematik an der Hochschule zu Hannover. Er würde sicher sehr enttäuscht sein, da er doch alles versucht hatte, ihr das Fach näher zu bringen. All die verzweifelten Bemühungen und die vielen Nachhilfestunden waren erfolglos geblieben, denn sobald sie alleine vor einer Rechenaufgabe saß, wurde ihr Gehirn still und leer. Sie würde auch den Brief vorzeigen müssen, weil sie dabei erwischt worden war, als sie die Unterschrift unter der letzten Arbeit hatte fälschen wollen. Egal! Es war eine Sechs. Was wollten sie ihr noch weniger geben? Die Standpauke des Direktors hatte sie schweigsam über sich ergehen lassen, aber bei ihrem Vater wäre ihr das nicht egal, denn dafür liebte sie ihn viel zu sehr.

Die Straßenbahn hielt an der nächsten Station und viele Menschen drängelten sich hinein. Eine Gruppe kleiner Asiaten schwatzte munter durcheinander, während sie alles mit ihren Handykameras knipsten. Sie brachten von draußen einen Luftzug mit, der ungewöhnlich intensiv nach Schweiß roch. Elisabeth verzog sich in den hinteren Teil des Wagons. Sie fand eine freie Stelle an der Wand. Nicht der allerbeste Platz, aber es dauerte ja nicht mehr lange.

Für einen kurzen Moment schloss Elisabeth die Augen und lehnte den Kopf gegen die Verkleidung hinter ihr. Was war nur los? Es war zwar stickig, doch ihr wurde immer heißer. Es hatte draußen 29 °C, doch jetzt kam es ihr wie über 40 °C vor. Sie fühlte sich leicht schwindelig, vielleicht sogar fiebrig. Das kam sicher von der Aufregung und ihren Gewissensbissen. Oder doch nicht? Irgendetwas begann, sie zu irritieren, dann wurde ihr schlagartig kalt. Es musste mehr als nur ein bloßer Windhauch sein, so als wenn die Temperatur sich plötzlich enorm abgesenkt hätte. Sie fröstelte und fühlte sich beobachtet, als wenn jemand sie unentwegt anstarrte. Sie hatte sich heute Vormittag auch so gefühlt, als sie in der Schule nach vorne gehen musste, um ihr Zeugnis und den Brief zu erhalten, aber da war klar gewesen, dass die ganze Klasse sie angegafft hatte.

Elisabeth nahm die Ohrstöpsel beiläufig heraus und tat so, als suchte sie auf ihrem Handy etwas, während sie sich heimlich umblickte. Neben ihr standen drei Grundschüler, die miteinander tuschelten, jedoch ihre Aufmerksamkeit auf eine Fußballzeitschrift richteten. Vier Mädchen hockten in der Sitzecke über ihre Handys gebeugt. Ein altes Ehepaar saß etwas weiter, das stoisch vor sich hinblickte. Ein Rockertyp saß mit dem Rücken zu ihr, vor ihm zwei der Asiaten mit Handys, die anscheinend die ganze Bahnfahrt filmten. Auf dem Behindertenplatz hatte eine blinde junge Frau mit verspiegelter Sonnenbrille und Armbinde Platz genommen. Elisabeths Blick verweilte kurz auf ihr, weil Mitleid in ihr aufkeimte. Die Frau war zwar etwas altmodisch gekleidet, sonst aber schön und elegant, doch sie konnte es nicht einmal sehen.

Ein schriller Aufschrei riss sie aus ihren Gedanken. Erschrocken fuhren viele Fahrgäste zusammen und drehten die Köpfe. Eines der Mädchen in ihrer Nähe war schreiend vom Sitz gerutscht, was in dem frenetischen Gegacker ihrer Freundinnen gipfelte. Elisabeth hatte keine Ahnung, um was es ging, doch die Stimmen klangen so unnatürlich laut, sodass es richtig wehtat. Reflexartig hielt sie sich die Ohren zu. Das Gefühl, beobachtet zu werden, verstärkte sich und die Haare an ihren Armen begannen sich aufzustellen. Fast schon flehend sah sie auf die Anzeigetafel, wo immer noch die Lorzingstraße angeschrieben stand. Dabei wollte sie doch gar nicht so schnell nach Hause, aber hier in der Üstra wurde es jetzt für sie immer unerträglicher – zu eng.

Und da bemerkte sie das krampfartige Zittern, wie es in ihr emporkroch. Sie kannte das nur allzu gut. Nicht jetzt!, bat sie in Gedanken, während sie das Handy schnell wegsteckte, eilig ein kleines Ledertäschchen an ihrem Gürtel aufnestelte und ihm ein Fläschchen entnahm. Sie drehte sich von den anderen Fahrgästen weg, so gut sie konnte. Dann öffnete sie den Bügelverschluss, nahm einen winzigen Schluck und verschloss es hastig wieder. Die Medizin rann brennend ihren Hals hinunter. Den Mund und die Augen geschlossen, atmete sie tief durch die Nase und wartete auf die Wirkung. Diese setzte ein paar Sekunden später ein und das Zittern ließ merklich nach.

»Was hast du da? Das ist doch bestimmt Schnaps, oder? Bist du denn schon erwachsen? Ich glaube nicht. He, Ole, schau mal, die da trinkt!«

Ein kleiner Junge mit einer Hornbrille und einer riesigen Zahnlücke, höchstens vierte Klasse, stand vor ihr und glotzte sie direkt an. Verdammt! Sie hätte besser aufpassen müssen. Was war nur los mit ihr?

Sie hasste es, auf diese Sache angesprochen zu werden, denn es war ein Makel, den sie lieber für sich behielt. Die meisten in ihrer Klasse behandelten sie deswegen wie einen Junkie, eine Geisteskranke, oder hielten sie wegen ihrer guten Sportnoten für eine Doperin. Immer wieder hatte ihre Mutter wegen der Medizin ärztliche Bescheinigungen vorlegen müssen. Sie litt an einem seltenen Nervenleiden, hatte man ihr gesagt. Aber manchmal dachte sie, dass sie sich von einem Junkie gar nicht so sehr unterschied. Sie wusste, dass die Alkis am Bahnhof auch zittrige Hände hatten, wenn sie mit einem Pappbecher in der Hand die Leute um einen Euro anbettelten. Manchmal hatte sie sich schon gefragt, was diese Leute so empfanden. Über das Zittern fühlte sie sich irgendwie mit ihnen verbunden. Deswegen hatte sie auch Mitleid. Auf einem Klassenausflug hatte sie einem Mädchen in abgerissenen Klamotten, das höchstens ein paar Jahre älter war als sie, etwas von ihrem Taschengeld gegeben. Die Klassenkameraden hatten sie deswegen aufgezogen, aber die blutunterlaufenen Augen des Mädchens hatten etwas seltsam Vertrautes an sich gehabt und für einen Moment einen dankbaren Ausdruck angenommen. Dann hatte das Mädchen sich zu den anderen umgedreht, eine unflätige Gebärde gemacht und sie vulgär beschimpft. Elisabeth erinnerte sich nicht mehr an andere Details, nur an diesen Glanz in ihren Augen. Irgendetwas Gequältes hatte darin gelegen, das man als Gesunder kaum verstehen konnte.

In diesem Moment ruckelte die Straßenbahn wieder und schüttelte alle Fahrgäste ordentlich durch. Elisabeth nutzte die Gelegenheit und drängelte sich kurzentschlossen zum Ausgang durch. Ab hier konnte sie auch durch die Eilenriede laufen. Da war es sicher etwas kühler und vor allem entging sie so dem vorlauten Zwerg, der sie gerade angesprochen hatte. Außerdem gefiel ihr Hannovers Stadtpark. Er war relativ groß, jedenfalls groß genug, um ein paar Stunden aus der Stadt zu verschwinden. Ein verlockender Gedanke.

Die Tür hatte sich noch nicht ganz geöffnet, da sprang sie schon hinaus, wobei sie versehentlich einen untersetzten Mann mit Bomberjacke anrempelte. Dieser fluchte laut und drückte sie beiseite, um seinerseits einzusteigen. Das Fläschchen entglitt ihren Fingern. Sie sah nur noch aus dem Augenwinkel, wie es auf der Kante des Bahnsteigs aufschlug und in viele kleine, glitzernde Stücke zersprang. Hilflos beobachtete Elisabeth, wie die letzten Scherben durch die vordrängenden Fahrgäste zertreten wurden und in das Gleisbett fielen. Nur ein kleiner Fleck des ehemaligen Inhalts blieb auf der Kante zurück und lief langsam auseinander.

Allein und verloren stand sie auf dem Bahnsteig und starrte auf den Boden. Auch das noch! Der Tag schien sich komplett gegen sie gewandt zu haben. Ihre Medizin war wichtig. Sie hatte zwar gerade einen Schluck getrunken, aber sie sollte stets etwas für den Notfall bei sich tragen. Sie befand sich schon so lange sie denken konnte in Behandlung. Alle paar Wochen musste sie mit ihrer Mutter zu Frau Dr. Borga, welche sie ganz genau untersuchte und ihrer Mutter dann wieder neue Medizin mitgab.

Dr. Borga war eine Ärztin mit einer Vorliebe für ungewöhnliche Behandlungsmethoden. Neuro-Homöopathische Praxis – alternative ganzheitliche Heilmethoden stand auf ihrem Schild. Der Behandlungsraum hatte so gar nichts gemein mit einer herkömmlichen Praxis. Er befand sich in einem komplett verglasten Anbau mit seltenen Pflanzen und einer zentral gelegenen Sitzgruppe. Es mutete eher wie ein Dschungel an, hatte aber etwas unglaublich Beruhigendes an sich. Auf einer Seite des Raumes war eine Arbeitsfläche mit einem kleinen gemauerten Ofen, auf dem Dr. Borga ihre pflanzlichen Präparate herstellte. Auf Regalen darüber standen viele Gläser mit eingelegten oder getrockneten Pflanzen aufgereiht. Von hier stammte auch die Medizin, die Elisabeth einnehmen musste.

Elisabeth hatte sich daran gewöhnt und der Trank half ihr zuverlässig, das Zittern im Zaum zu halten. Ihr Vater hatte diesbezüglich ab und zu versucht, ihre Mutter zu überreden, zu einem echten Neurologen zu gehen, aber die hatte sich energisch durchgesetzt. Auch sonst führte Emilia Wollner ein striktes Regiment in der Familie. Ebenso resolut verteidigte sie die rein vegane Ernährung. Elisabeth und ihre jüngere Schwester Klara kannten nichts anderes, aber sie wusste, dass ihr Vater immer wieder mit sich rang und jede Gelegenheit nutzte, um auf Besprechungen und Tagungen auswärts zu essen. Wie sie von all dem Grünzeug überhaupt so groß geworden war, blieb ihrem Vater ein Rätsel, wie er ständig betonte. Trotz seiner Körpergröße von einem Meter achtzig hatte sie ihn mit ihren fünfzehn Jahren schon fast eingeholt. Ihre Mutter maß hingegen nur etwa einen Meter sechzig. Elisabeth war gertenschlank, fast schon dürr. Gerade deswegen schaffte sie es in Sport, vor allem im Laufen, zu glänzen. So waren die Sportstunden das Einzige, auf das sie sich in der Schule freute.

Bei dem Gedanken daran hellte sich ihre Miene wieder auf. Sie würde sicherlich zu Hause neue Medizin bekommen. So joggte sie Richtung Eilenriede los, dem großen Park in Hannovers Nordosten. Elisabeth kannte dort viele Verstecke, vor allem eine alte dicke Eiche, auf die sie gerne kletterte. Oben gab es eine Astgabel, die so verborgen lag, dass man kaum mehr von unten zu sehen war, wenn man sich dort hineinlegte. Sie hatte sich schon oft dorthin verzogen, wenn sie Ärger mit ihrer Mutter oder ihrer Schwester hatte.

Kaum dass Elisabeth um die Ecke gebogen war, trat die blinde Frau mit ihrem Stock tastend hinter dem Wartehäuschen hervor. An der Stelle, wo die Flasche des Mädchens zerbrochen war, blieb sie kurz stehen und drehte den Kopf schief. Ihr Mundwinkel zuckte kurz und deutete ein kaltes Lächeln an, das so gar nicht zu dem hübschen Gesicht passen wollte. Dann schlug sie denselben Weg ein, den kurz vorher Elisabeth genommen hatte.

Elisabeth querte inzwischen noch eine weitere Straße und bog nach wenigen Metern vom Weg ab, der durch den Park bis zum Zoo führte. Sie nahm die Strecke direkt durch die Büsche. Kaum dass sie die ersten Bäume passierte, wurde es dunkler und kühler. Anfangs musste sie aufpassen, um nicht in übelriechenden Müll, Glasscherben oder eine eilig verrichtete Notdurft zu treten. Wir Menschen können ja so unzivilisiert sein, dachte sie bei sich, als sie kurzerhand über eine Ansammlung mehrerer solcher Hinterlassenschaften hinwegsetzte.

Dahinter eröffnete sich ein schmaler Trampelpfad, der etwa parallel zum Hauptweg Richtung Nordosten führte. Sie kannte diesen Pfad von früheren Ausflügen gut. Leichtfüßig lief sie ihn entlang und vermied dabei herumliegende Äste und Blätter, sodass ihre Turnschuhe fast keinen Laut verursachten. Immer wieder musste sie sich vor herunterhängenden Zweigen ducken. Der Weg machte eine leichte Kurve und stieg etwas an.

Neben dem Weg, im weichen Boden, tauchten einige Kaninchenlöcher auf. Ein paar ihrer Bewohner saßen davor und huschten erst im letzten Moment rasch davon. Elisabeth lächelte. Das Laufen tat so gut und machte den Kopf frei, dass sie sogar ihr Zeugnis vergaß. Wie im Rausch lief sie weiter und erreichte ein paar Minuten später schon ihren Lieblingsbaum. Sie hatte Glück, dass in diesem Moment kein Mensch zu sehen war. Ohne langsamer zu werden, schob sie sich entschlossen ihre Tasche auf den Rücken. Ein paar Schritte gegen den Stamm und ein kräftiger Abdruck ließen sie nach oben schnellen. Sie streckte sich zu ihrer vollen Länge aus, dann schlossen sich die Finger um einen herunterhängenden Ast, an dem sie sich behände hochzog. Ab hier ging es kletternd weiter bis knapp unter die Baumkrone, wo sie sich in eine breite Astgabel gleiten ließ, wodurch sie einen großen schwarzen Vogel aufscheuchte, der krächzend das Weite suchte.

Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen den Ast. Langsam beruhigte sich ihr Atem und ihr Puls wurde wieder normal. Sie nahm ihre Tasche ab und klemmte sie in eine kleinere Astgabel. Mit geschlossenen Augen sog sie die Luft mit all ihren Waldgerüchen durch die Nase ein und seufzte erleichtert auf.

Die Geräusche der Stadt wirkten hier gedämpft, wie durch Watte, und schienen so kilometerweit entfernt zu sein. Erst jetzt bemerkte Elisabeth, wie müde sie eigentlich war. Noch einmal rutschte sie in der Astgabel hin und her, um eine bequemere Position zu finden. Hier würde sie erst einmal bleiben. Der starke Baum fühlte sich nach Sicherheit an. Als sie sich endlich zurecht gekuschelt hatte, entspannte sie sich und schlief ein.

1 »Überlandwerke und Straßenbahn« in Hannover, gegründet 1892

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