Читать книгу Old Shatterhand vor Gericht - Jürgen Seul - Страница 7
Vorwort
ОглавлениеWenn man das umfangreiche Buch über „Old Shatterhand vor Gericht“ gelesen hat, muss man zu der Erkenntnis kommen, dass Karl May außer mit seinem literarischen Werk den größten Teil seiner Lebenszeit mit Prozessen verbracht hat, zum Teil als Angeklagter, Beschuldigter und Beklagter, mehr aber noch als Kläger und Privatkläger. Es ist klar, dass die daraus erwachsene Flut an Prozessmaterialien neben den Selbstbekenntnissen und Briefen des Autors den größten Fundus an biographischen Informationen bietet, über den wir verfügen. Das Aktenmaterial dokumentiert sogar viele Fakten, die nur durch gerichtliche Aussagepflichten und Überprüfungen haben gesichert und beweiskräftig festgestellt werden können. Man kann also sagen, dass die hier vorliegende Dokumentation aller sich um Mays Person rankenden Rechtsstreitigkeiten eine der ergiebigsten biographischen Quellen über das Leben des Autors darstellt.
Vieles, was dieses Buch mitteilt, ist schon veröffentlicht; anderes hat der Autor selbst recherchiert oder aus dem Archiv des Karl-May-Verlegers erhalten. Auch in der zusammenfassenden Darbietung des veröffentlichten Materials liegt ein großes Verdienst. Denn die bereits vorliegenden Veröffentlichungen sind so verschiedenartig, verstreut und zum Teil entlegen, dass es selbst für einen Spezialisten sehr schwierig war, sich im Wirrwarr der Prozesse noch zurechtzufinden. Das alles wird durch die Zusammenfassung des Materials in einer Gesamtdarstellung, durch die Aufteilung in verschiedene Prozesskomplexe und deren weitere Untergliederung dem Leser übersichtlich und dem Forscher benutzbar gemacht. Dankenswert ist auch, dass wichtige Aussagen und Dokumente in der Regel wörtlich wiedergegeben werden, sodass dem Interpreten authentisches Material zur Verfügung steht.
Überblickt man den Prozessstoff im Ganzen, so ergibt sich ein deprimierendes Bild der Alterstragödie Karl Mays. Nicht seine kriminellen Jugendverfehlungen, sondern die Prozesse seiner letzten zehn Lebensjahre haben seine Produktivität beeinträchtigt und schließlich gelähmt. Sie haben auch seine Gesundheit untergraben und seinen körperlichen Verfall und Tod herbeigeführt.
Die Tragik der Vorgänge liegt darin, dass er diese Entwicklung nicht verhindern konnte. Gewiss boten Mays Vergangenheit und auch sein Auftreten als Erfolgsschriftsteller viele Angriffspunkte. Aber er hat nach der Zeit seiner Straftaten, die nur einen sehr geringen materiellen Schaden angerichtet hatten, niemandem mehr etwas Böses getan. Er wollte nur in Ruhe an seinem Werk arbeiten können, und gerade dies wurde ihm durch äußere Umstände verwehrt.
Er hat im Kampf um seine Ehre sicher den einen oder anderen Beleidigungsprozess zuviel angestrengt. Aber den zentralen prozessualen Auseinandersetzungen konnte er nicht ausweichen. Er musste die Prozesse gegen Münchmeyer und Fischer führen, wenn er nicht alles Ansehen und alle seine Ansprüche verlieren wollte. Er musste seine Scheidung durchsetzen gegen eine Frau, die ihn zugrunde gerichtet hätte; nur die häusliche Geborgenheit, die ihm seine zweite Ehe vermittelte, hat es ihm ermöglicht, bis zu den Erfolgen seiner letzten Lebensmonate durchzuhalten. Er musste die Meineidsuntersuchung über sich ergehen lassen. Und er musste sich schließlich eines Mannes wie Lebius erwehren; die Enthüllungen und Verunglimpfungen hätten andernfalls zu seiner öffentlichen Ächtung geführt.
Bemerkenswert ist, mit welch enormem, niemals resignierendem Energieaufwand May seine Sache verfolgte. Wenn man seine Selbstbekenntnisse, seine Rechtfertigungstexte, seine Prozessschriften, Flugblätter, Leserbriefe, seine brieflichen Stellungnahmen, seine Schriftsätze (er überließ diese vielfach nicht seinen Anwälten) und seine protokollierten Zeugenaussagen einmal in geschlossener Form drucken würde – wozu die im Entstehen begriffene historisch-kritische Ausgabe eine gute Gelegenheit bietet –, würde man auf ein mehrtausendseitiges Werk kommen.
Wenn man die Massivität der Angriffe und die Vielzahl der Beschuldigungen bedenkt, ist es ebenso bemerkenswert, dass May bei allen Rückschlägen im Einzelnen im Ganzen gesehen juristisch erfolgreich war. Er hat den Münchmeyer-Prozess in drei Instanzen bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Reichsgerichts gewonnen. Das gegen ihn eingeleitete Meineidsverfahren musste trotz irritierender Begleitumstände auf Seiten der Strafverfolgung eingestellt werden. Das Ehescheidungsurteil, das Emma May die Alleinschuld zusprach, konnte sich gegen verschiedene nachträgliche Anfechtungsversuche behaupten. Und die jedes erträgliche Maß überschreitenden Angriffe von Lebius konnten durch Mays Sieg bei der Berufungsverhandlung in Moabit erfolgreich beendet werden. Man kann May auch nicht vorwerfen, dass er ein unerbittlicher oder rachsüchtiger Prozessierer gewesen sei: Wenn die Gegenpartei ihre Anschuldigungen zurücknahm, war May jederzeit zu einem Klageverzicht oder Vergleich bereit.
Aber das alles ändert nichts daran, dass hier ein Mensch durch die rücksichtslose Enthüllung längst gesühnter Jugendverfehlungen und durch die erbarmungslose Anprangerung der Legendenbildungen, mit denen May seine schwere Vergangenheit überwinden und seine phantastische Anlage auch im Privaten ausleben wollte, in den Tod getrieben worden ist.
Erst der Landgerichtsdirektor Ehrecke hat im Moabiter Prozess1 das richtige Wort gefunden, als er sagte: „Ein Verbrechen wären doch solche phantastischen Dinge bei einem Dichter nicht, und ich halte Herrn May für einen Dichter.“ Man fragt sich, warum erst dieses spontane Wort, das damals durch die Presse ging und dessen Aufnahme durch den Schriftsteller Robert Müller2 Mays späte Rehabilitation einleitete (durch den Wiener Vortrag vom 22. März 1912), etwas aussprach, was in vertiefter und meinungsbildender Form darzulegen die seriöse Literaturkritik jahrelang versäumt hatte.
Diese wenigen Andeutungen mögen zeigen, dass eine Darstellung von Mays Prozessen, wie sie hier vorliegt, nicht nur für Juristen und nicht einmal nur für May-Leser interessant ist. Denn es wird hier ein menschliches Schicksal verhandelt, das zu vielen weiterführenden Überlegungen Anlass gibt. Herrn Seul gebührt für seine enorme Arbeitsleistung und dem Karl-May-Verlag für die Veröffentlichung und tatkräftige Förderung dieses wichtigen Werkes großer Dank.
Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Claus Roxin